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Veröffentlicht am 03.03.2024

Alte Liebe rostet nicht?

Die verschollene Bernsteinkette
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Skizzenhaft mutet es an, das kleine Büchlein, das Robert Mitterwallners Erstling ist. Im Anschluss an die Lektüre kann man lesen, dass der Autor seine schriftstellerische Tätigkeit mit Tagebuchaufzeichnungen ...

Skizzenhaft mutet es an, das kleine Büchlein, das Robert Mitterwallners Erstling ist. Im Anschluss an die Lektüre kann man lesen, dass der Autor seine schriftstellerische Tätigkeit mit Tagebuchaufzeichnungen begonnen hat – und genauso kommt mir die Geschichte auch vor! Tagebuchaufzeichnungen allerdings, die nicht nur von dem ein wenig verloren wirkenden, suchenden, ziemlich einsamen und ratlosen Protagonisten Alex verfasst wurden, sondern vielmehr abwechselnd von all jenen, die an dem Vorfall vor 40 Jahren, den eben jener Alex im Jahre 2016 wieder aufrollt, um endlich ein altes, über die Jahre vergessenes Rätsel zu lösen, das plötzlich wieder gegenwärtig wird, als Alex Tochter sich in den Sohn der Hamburger High Society Dame Anne verliebt, die zu der Gruppe von fünf jungen Leuten gehörte, die im Sommer 1976 gemeinsam ihre Ferien auf Sylt verbrachten, die mit dem Verschwinden einer weiteren jungen Frau, Tina, abrupt endeten, in die Alex seinerzeit verliebt war. Nur halbherzig, wie es mir scheint, hatte dieser versucht, Tina zu finden – um sie wenig später zu vergessen. Wie das nun einmal so ist, wenn man jung ist und das ganze Leben noch vor sich hat. Normalerweise. Ausnahmen mag es geben, aber sie sind so selten wie jene blaue Blume der frühen Romantiker.
Das genau aber ist die Crux an der Sache! Kann man einen Menschen über einen so langen Zeitraum vergessen, um sich dann plötzlich wieder an die, sicherlich nicht lange, Zeit der Verliebtheit erinnern, die längst vorbei ist, überdeckt von einem, wie man den Eindruck bekommt, durchaus erfüllten Leben an der Seite einer Frau, die man liebt, bis sie dann verstarb? Ist es die Einsamkeit, die Sehnsucht nach einer neuen Partnerschaft, die längst vergessene Gefühle zu einem längst vergessenen Menschen wieder hochkommen und sich regelrecht daran festbeißen lässt? Denn Alex lässt nichts unversucht, spannt die nicht gerade begeisterten flüchtigen Bekannten von damals, denn mehr waren sie nie und sind sie auch heute nicht, ein, um Tina aufzuspüren und herauszufinden, was denn eigentlich mit ihr geschehen ist und ob sie überhaupt noch lebt.
Der Leser weiß bereits mehr, ist Alex voraus, der inzwischen seine Tochter und deren Freund, zwei obercoole, aber gutmütige, wenn auch lethargische 'Chiller', gebeten hat, Internetanzeigen auf der ganzen Welt aufzugeben, um über eine unverwechselbare Bernsteinkette, Alex Geschenk an die damals Angebetete (warum sollte sie die noch tragen, frage ich mich, überschätzt Alex die eigene Wichtigkeit nicht gar zu sehr?), Tinas Aufenthaltsort ausfindig zu machen.
Und so, wie die Tagebuchaufzeichnungen, wie ich sie weiterhin nennen möchte, wechseln, so wechseln auch die Schauplätze: von München nach Hamburg, nach Sylt, nach Berlin – und nach Neuseeland, denn dort.... Man kann es sich denken, und auch vermuten, wie die Geschichte ausgehen wird!
Durch die Kürze des Romans und die ständig wechselnden Schauplätze und Perspektiven sind es eigentlich nur Streiflichter einer Geschichte, die uns der Autor sehen lässt. In die Tiefe blicken wir nicht, wobei ich mutmaße, dass es da auch wenig auszuloten gibt, bei keinem der Fünf, so wie der Autor sie angelegt hat, und schon gar nicht bei Alex Studententochter Elsa und Annes Tagträumersohn Paul. Schade, denn ich mag es gerne tiefgründig und facettenreich – und wenn schon große Gefühle, dann aber richtig und konsequent und nicht so lauwarm dahinplätschernd, freilich mit einem paukenschlagartigen Happy End, das vierzig Jahre einfach wegwischt und das mich dann doch umhaut, mir zuviel ist, das schlicht und einfach zu dick aufgetragen wurde, der die ganze Zeit über durch Nüchternheit ersetzten Romantik wegen, die bei einem solchen Ende eigentlich im Vorfeld angebracht gewesen wäre.
Zudem – Tinas Geschichte, wie wir sie allmählich erfahren, kam mir sehr wenig realistisch, sehr konstruiert vor, gar nicht nachvollziehbar, zumal ich mir für ihre Probleme die eine oder andere schlüssigere Lösung gut, besser, hätte ausmalen können.
Aber nun - „Die verschollene Bernsteinkette“ ist ein Erstlingswerk, ein trotz meiner Kritik passables, und daher mit Wohlwollen zu betrachten! Im Übrigen könnte ich mir vorstellen, dass aus den 'Tagebuchskizzen' ein richtig guter, detaillierter, in die Tiefe gehender, vielschichtiger Roman hätte werden können – oder noch werden kann? - , denn die Zutaten, die einen solchen Roman ausmachen, sind alle bereits vorhanden, aber, sozusagen, noch nicht so miteinander verarbeitet, dass sie sich voll entfalten können! Und es wäre nicht das erste Mal, dass aus einer 'Vorübung', einem Ausloten, schließlich etwas ganz Großes und Großartiges entsteht....

Veröffentlicht am 02.01.2023

Eine naseweise Detektivin mit Bauchblubbern

Wanda und die verschwundene Katze
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Das Einzelkind Lizzy ist gewiss ein aufgewecktes Mädchen, das über viel Phantasie verfügt, was lobenswerterweise von ihren Eltern gefördert wird, ohne das Kind, dessen Alter nicht angegeben ist, das ich ...

Das Einzelkind Lizzy ist gewiss ein aufgewecktes Mädchen, das über viel Phantasie verfügt, was lobenswerterweise von ihren Eltern gefördert wird, ohne das Kind, dessen Alter nicht angegeben ist, das ich aber auf sieben bis acht Jahre schätze, zu überfordern. Wie die meisten Kinder mag auch Lizzy Rollenspiele, die bei ihr aber über bloßes Spielen hinausgehen. Irgendwann, vielleicht wird das ja im mir unbekannten Vorgängerband erwähnt, muss jemand Lizzy ein Detektivset geschenkt haben, das dazu führte, dass das Mädchen eine zweite Identität angenommen hat, nämlich die der Superdetektivin Wanda!
Wann immer Lizzy etwas nicht ganz geheuer vorkommt, beginnt ihr Bauch zu 'blubbern' – und das tut er reichlich oft in der Geschichte – und sie mutiert zu eben jener Wanda, was sie jedoch, außer vor den Eltern, streng geheim hält. Warum das so ist, weiß man nicht, aber womöglich, weil sie meint, dass Detektive unbekannt bleiben müssen? Jedenfalls, wenn das Bauchblubbern beginnt, das mir während der Lektüre schon ein klein wenig auf die Nerven ging, verwandelt sie sich, nimmt die Haare zu einem Dutt zusammen (warum denn wohl das, frage ich mich bis zum Ende...) und schlüpft in ihren schwarzen Kapuzenpulli, ihre Uniform, in der sie sich stark und unbesiegbar fühlt. Kleider machen Leute? Für Lizzy trifft dieser weise Spruch zu, denn als Wanda ist sie kühn, stellt Nachforschungen an – man könnte auch sagen, dass sie ihre Nase in anderer Leute Angelegenheiten steckt, in Dinge, die sie nichts angehen. Sie schnüffelt herum, um das mal auf den Punkt zu bringen, was ihre Eltern freilich noch unterstützen, mit den üblichen pädagogischen Warnungen und Ratschlägen. Sie sind obendrein sogar bereit, mit dem Töchterlein, wenn es mal wieder seinen 'Bitte-bitte-Blick' aufsetzt, auf Verfolgungsjagd respektive auf die Jagd nach Phantomen zu gehen! Schließlich hat ja Lizzys Bauch geblubbert...
Und wie der Titel des Buches schon sagt hat Lizzy-Wanda einen neuen Fall zu lösen: die Katze ihrer Freundin Mia ist nicht mehr auffindbar, Mia ist dauerhaft untröstlich und in Tränen aufgelöst und bittet die Freundin um Hilfe, in der Hoffnung, dass Tausendsassa Lizzy die Dinge schon richten wird. Und in der Tat, Wanda-Lizzy, oder wer immer sie gerade ist, hat alsbald einen Verdacht! Zeitgleich mit dem Verschwinden der Katze Lucy werden bunte Waschkörbe in der Siedlung, in der Mia und Lizzy leben, vor die Haustüren gestellt. Kleidersammlung, wie die Anwohner per Flyer informiert werden. Irgendetwas kann da nicht stimmen, meint die kühne Detektivin und tüftelt einen, wie sie meint, genialen Plan aus, in den sie auch ihren Vater einspannt, der ihr nur allzu willig folgt. Das Ergebnis? Nun, das wird man erfahren, wenn man sich an die Fersen der jungen Schnüfflerin heftet, die gar zu gerne andere Leute ausspioniert....
Hm... Jeder, wenigstens in der Geschichte, ist begeistert von den herausragenden Fähigkeiten des kleinen Mädchens, das meines Erachtens aber munter über das Ziel hinausschießt. Ja, es ist unbedingt wichtig, aufmerksam zu sein, Augen und Ohren offenzuhalten, für den Fall, dass Hilfe gebraucht wird, in welcher Form auch immer! Lizzy ist mir allerdings viel zu naseweis – und muss lernen, dass es Dinge gibt, die einen nun wirklich nichts angehen, gerade dann nicht, wenn es um die Privatsphäre geht, auf die jedermann ein Recht hat, selbst wenn man sich für die großartigste Detektivin der Welt hält. Für einen unterhaltsamen Kinderkrimi – und den haben wir hier durchaus! - mag das angehen, doch im wahren Leben sollte man ein wenig aufpassen, mit Anschuldigungen vorsichtig sein. Keinem gefällt das Gefühl, unter Beobachtung zu stehen oder gar einem Kind Rede und Antwort stehen zu sollen.
Aber nun, diese Gedanken zu dem hier zu besprechenden Kinderbuch kommen von einem Erwachsenen! Kinder mögen das ganz anders sehen und an der Geschichte einfach nur ihre Freude haben – und genau darauf kommt es schließlich an – solange sie sich nicht berufen fühlen, es dem Kind Lizzy-Wanda nachzutun....

Veröffentlicht am 28.11.2022

'Eine erbärmlich pittoreske Stadt'

Spurlos in Neapel
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Neapel ist der Hauptschauplatz dieses eigenartigen Romans, der nicht linear erzählt wird, sondern vielmehr in Fragmenten. Rückblicke wechseln sich ab mit einer Spurensuche, die zunächst vorsichtig, tastend ...

Neapel ist der Hauptschauplatz dieses eigenartigen Romans, der nicht linear erzählt wird, sondern vielmehr in Fragmenten. Rückblicke wechseln sich ab mit einer Spurensuche, die zunächst vorsichtig, tastend beginnt, um schließlich zu einer Besessenheit zu werden. Ob sie zum Erfolg führt, muss jeder Leser für sich entscheiden.
Franco Supino lässt seinen Erzähler, der, wenn man eines der beiden dem Roman vorangestellten Zitate richtig interpretiert, dass es nämlich 'kein anderes als das autobiographische Erzählen' gibt, er im Grunde selber ist – worüber allerdings der Autor allein Aufschluss geben kann -, mit Erinnerungen an die Besuche seiner Kindheit im Dorf seiner Eltern nahe Neapel beginnen und wechselt dann in die Gegenwart.
Wieder ist der namenlose Erzähler in Italien, vorgeblich zunächst, um sich dort einen Maßanzug bei einem der Schneider anfertigen zu lassen, für die die Großstadt am Golf von Neapel, über die, ebenfalls als Zitat der Geschichte vorangestellt, der Schriftsteller James Baldwin einst schrieb, dass er 'nichts von eurer Stadt verstanden' hätte, berühmt ist. Und je weiter ich mich mit der Lektüre vorantastete, umso klarer wurde mir, was der Amerikaner meinte! Sie ist nicht zu verstehen, diese 'erbärmlich pittoreske Stadt', erscheint wie ein schmutziger Moloch, in dem das Verbrechen fröhliche Urständ feiert – eine Seite, die von Touristen freilich geflissentlich übersehen wird, für die es bei 'pittoresk' ohne das dazugehörige Attribut bleibt. Das vielbeschworene Flair kann man wohl nur mit reichlich Limoncello abgefüllt fühlen, das Pittoreske nur durch die rosarote Brille sehen!
Der Erzähler lässt den Leser vorwiegend die dunkle, die verwahrloste Seite Neapels sehen – was Wunder, denn schließlich hat er sich vorgenommen, einen gewissen Antonio Esposito, alias O'Nirone aufzuspüren, seines Zeichens farbiger Spross des Camorra-Clan Esposito, von dem man bis zum Ende nicht erfährt, ob er – zwar fiktiv, aber realen Vorbildern nachempfunden - weiterhin sein Unwesen treibt und mit seinen Krakenarmen noch immer in allen nur denkbaren und gewinnbringenden verbrecherischen Geschäften steckt. Viel, aber wiederum über die gesamte Erzählung verstreut, lernt man über einzelne Vertreter der Familie, über ihre Machenschaften und die offensichtliche Unfähigkeit des Staates, sie zu unterbinden. Und immer wieder taucht O'Nirone auf, als Kind, als Heranwachsender, der, obwohl es dem Erzähler gefällt, ihn mit der Physiognomie des 'edlen Wilden' Freitag aus 'Robinson Crusoe' auszustatten, für mich ein Mensch ohne Gesicht und dazu noch mit einem verschwommenen Profil geblieben ist.
Der zunehmende Drang des Erzählers, den letzten Abkömmling der Espositos aufzuspüren, dessen Herkunft unklar bleibt, obschon es gewisse Hinweise darauf gibt, die aber unbestätigt bleiben, verwundert, findet aber keine Erklärung – es sei denn man stolpert bei genauem Lesen über einen Satz, den der Journalist Donato, einer unter mehreren, von denen der Erzähler Auskunft über die Espositos, vor allem natürlich über O'Nirone, erhofft, warnend an den rast- und ruhelosen Erzähler richtet, dass es 'kein harmloses Spiel' ist, 'seine Biographie in einem fremden Leben zu suchen'. Der Erzähler auf der Suche nach sich selbst? Auch darauf gibt es Hinweise, wenn er den Leser teilhaben lässt an seinen Erinnerungen an eine Zeit, als er mit allen – unfairen und egoistischen – Mitteln den Umzug der Familie aus der Schweiz, in der er aufgewachsen ist, in das in seinen Augen elende, erbärmliche und ihm fremde Heimatdorf der Eltern verhindern wollte, was ihm auch gelang! Ihm und einem folgenschweren Erdbeben, das das Haus, das sich die Arbeitsmigranteneltern in der Heimat gebaut hatten, unbewohnbar machte... Zurück blieben – Schuldgefühle? Die die Identitätsfindung erschwerten oder gar unmöglich machten? Man weiß es nicht!
Und welche Parallelen der Erzähler ausgerechnet zu einem nicht auffindbaren Camorra-Spross sah, entzieht sich meinem Verstehen, allzumal letzterer selbst keine erkennbaren Identitätsprobleme hatte; er war nach den Regeln und Riten der Camorra erzogen worden, die er fraglos annahm. Und von denen er auch nie Ambitionen hatte, sich loszusagen. Meine Lesart ist, dass Antonio Esposito sich über seine Identität vollkommen im Klaren ist, egal, wo seine Wiege stand!
Auf den Punkt bringt meine ambivalenten Gefühle in Bezug auf diesen Roman ein oft zitierter Satz von Bertolt Brecht, den man auch gerne mit dem streitbaren und polemischen Kritikerpapst Marcel Reich-Ranicki in Verbindung bringt, beendete dieser doch jede Sendung seines 'Literarischen Quartetts' damit – und ich meine Ausführungen: 'Wir stehen selbst enttäuscht und sehen betroffen, den Vorhang zu und alle Fragen offen'

Veröffentlicht am 27.11.2022

Bambell sucht seinen Platz im Jenseits

Eine Woche nachdem Herr Bambell gestorben war, klopfte es an seiner Haustür
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Gibt es ein Leben nach dem Tod? Und wie könnte das dann ausschauen? Es ist und bleibt eine Glaubensfrage! Eine, die gläubige Menschen, solche, die eine Religionszugehörigkeit haben, jeweils unterschiedlich ...

Gibt es ein Leben nach dem Tod? Und wie könnte das dann ausschauen? Es ist und bleibt eine Glaubensfrage! Eine, die gläubige Menschen, solche, die eine Religionszugehörigkeit haben, jeweils unterschiedlich beantworten. Paradies, Himmel, Hölle, Fegefeuer, Nirwana, die ewigen Jagdgründe, ein Kreislauf von Sterben und Wiedergeborenwerden, Seelenwanderung – oder das vollkommene Nichts? Mit dem Tod endet alles Leben, nicht nur das irdische? Jede Seele geht auch im Jenseits den Weg weiter, den sie im Erdendasein gegangen ist? Dann wäre der Tod nicht der große Gleichmacher, sondern es fände wieder eine Selektion statt? Seit Anbeginn der Menschheit haben sich die Völker ihre Vorstellungen gezimmert, Philosophen aller Jahrhunderte haben darüber nachgesonnen, aber naturgemäß keine endgültige Antwort finden können auf die vielleicht größte, wichtigste Frage, die sich während des Lebens eines jeden Menschen, so möchte ich behaupten, stellt. Und selbst diejenigen, die ein Leben nach dem Tod rundweg negieren, haben sich darüber Gedanken gemacht, ansonsten wären sie nicht zu ihrer Schlussfolgerung gekommen, dass da einfach nichts ist, nicht sein kann, nachdem man gestorben ist.
In dem Roman mit dem langen Titel, über den ich an dieser Stelle ein paar Betrachtungen anstellen möchte, begegnet der Leser einem Nihilisten, dem Herrn Bambell, der sich nicht an seinen Vornamen erinnern mag oder kann (später erfährt man, dass er Jakob heißt). Auch den eigenen Tod leugnet er, ein ganzes Jahr lang, und als er ihn sich endlich durch äußere Umstände bedingt eingestehen muss, ist er dabei genauso stur und unbelehrbar wie zu Lebzeiten, als er ein langweiliges, sehr unbedeutendes Dasein gefristet hatte, in dem er sich allem verweigerte, wie es im Laufe der Lektüre den Anschein hat, das ihm Freude und Erfüllung hätte bringen können. Nun sieht er sich gefangen in einer Art Zwischenraum, kann nicht zurück und nicht voran. Dank einer jungen Frau, Julia, die sich als Medium bezeichnet und in der Tat den halsstarrigen Verstorbenen sehen kann, gelangt er auf eine weitere Ebene, auf die er aber auch nicht zu gehören scheint. Dort sieht er mal verschwommen, mal klar, mal schwebt er und mal benutzt er seine Beine, wird dabei aber kontinuierlich langsamer, was ein gewisser Cornelius, den Bambell im Reich der Toten beziehungsweise in einem winzigen Teilbereich davon antrifft, in dem sich Geister aufhalten oder besser, gefangen sind, die zu Lebzeiten alles leugneten, an nichts glaubten, andere Menschen weitgehend mieden, so wie er und Bambell selbst, damit erklärt, dass 'ein Wimpernschlag … einer Woche bei den Lebenden' entspricht. Welche Funktion der Autor jenem Cornelius in der Geschichte, mit der ich, so kurz sie auch ist, meine liebe Mühe und Not hatte, eigentlich zugewiesen hat, ist mir bis zum Ende unklar geblieben, denn der 'Chef', oder was immer Cornelius in dem Stückchen Jenseits ist, in das einer wie Bambell passt, drückt sich in Rätseln aus, spricht knappste Sätze, die ich mit vielen Fragezeichen versehen habe, gibt Antworten auf Bambells Fragen, die zu jenen in keinem Bezug stehen.
Aber genauso ist die gesamte Erzählung aufgebaut: knapp, karg, dürre Worte, kryptisch. Man muss sich seinen Weg hindurch bahnen, so wie die Hauptfigur Bambell, der aber wenigstens zu verstehen scheint, dass er nach seinem irdischen Leben, so, wie er es nun einmal gelebt hatte, seinen Platz im Jenseits zugewiesen bekommen hat – ebenso einsam und eingesperrt, wie im Diesseits! Dass es aber auch für die Seelen der Verstorbenen weitergeht und dass er genauso wie im Leben auch im Tod eine Wahl hat, dämmert ihm langsam, nachdem er auf einem Treffen mit Julia, die inzwischen ebenfalls nicht mehr unter den Lebenden weilt, beharrt hat und das Cornelius ihm, nicht wissend, was er mit dieser toten Seele anfangen soll, auch gewährt. Ihr vertraut der Eigenbrötler, sie ist seine eigentliche Richtungsweiserin, obschon auch sie sich einfach nicht klar ausdrücken kann – ein Manko, wie ich finde, das die gesamte Geschichte durchzieht!
Nun, der Autor hat einen Entwurf seiner eigenen Vorstellung vom Jenseits oder besser einem Leben nach dem Tode angeboten, die von der meinen genauso abweicht, wie ich mit Gewissheit nicht zu denen gehöre, die wirklich etwas anfangen können mir diesem Roman der Andeutungen und des Rätselaufgebens. Dennoch beschäftigt mich des Autors Vision, wenn es denn tatsächlich die seine ist. Wovon allerdings auszugehen ist, denn, um Generoso Picone zu zitieren, 'es gibt kein anderes als das autobiographische Erzählen'. Es könnte so sein, oder so ähnlich, oder vollkommen anders oder womöglich ist das große, das allumfassende Nichts die Antwort. Wer weiß das schon! Niemand hat je über seine Erfahrungen im Jenseits (Anderwelt ist ein passender Ausdruck, trifft auch die Welt, die der Autor fabuliert hat) berichten können! Die Frage aber wird bestehen bleiben, solange es Menschen gibt...

Veröffentlicht am 03.01.2022

Die Hölle im Herzen der Bösen

Tod im Hohen Venn
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„Warum die Hölle im Jenseits suchen? Sie ist schon im Diesseits vorhanden. Im Herzen der Bösen“
Dieses Zitat des Schweizer Schriftstellers, Philosophen, Pädagogen und Naturforschers Jean-Jacques Rousseau ...

„Warum die Hölle im Jenseits suchen? Sie ist schon im Diesseits vorhanden. Im Herzen der Bösen“
Dieses Zitat des Schweizer Schriftstellers, Philosophen, Pädagogen und Naturforschers Jean-Jacques Rousseau stellt der Autor Stephan Haas seinem Kriminalroman „Tod im Hohen Venn“ voraus – und, wie man während der umfangreichen Lektüre feststellen kann, es könnte nicht passender sein! In der Tat stockt einem der Atem während der langsamen Enthüllung eines perfiden Verbrechens, mit der Kommissar Piet Donker und seine Kollegen betraut sind, bei dessen Aufklärung Eile geboten ist, um die Opfer einer Entführung, Tom Keyzer, seine Frau Grit und den gemeinsamen Sohn Paul, zu finden, bevor es zu spät ist.
Die gesamte Handlung, die der Autor ersonnen hat, spielt sich in einem Zeitraum von kaum zwei Tagen ab, obwohl dem Leser diese Zeit viel länger erscheint, so viel, wie da geschieht und peu a peu dank der fieberhaften Nachforschungen und dem, was sie an Unfassbarem zu Tage bringt, vielmehr aber noch dank einiger glücklicher Zufälle, schließlich aufgelöst, besser noch enthüllt wird. Spannend ist der Krimi von Anfang an – und hätte eine neutrale, nicht genannte Person die Rolle des Erzählers eingenommen, hätte es also einen auktorialen Erzähler gegeben anstatt des belgischen Kommissars höchstselbst, hätte er noch spannender, noch zügiger und letztend viel gestraffter sein können. Viele Längen weist der Roman nämlich auch auf, die vor allem der Tatsache geschuldet sind, dass der ausschweifende und detailverliebte Piet Donker eine Unzahl von persönlichen Wahrnehmungen einfließen lässt, die vom Wesentlichen ablenken und, wie man feststellen wird, mit dem Entführungsfall selbst und seinen Hintergründen allesamt rein gar nichts zu tun haben.
Fast das gesamte Geschehen – fast, denn da gibt es noch zwei weitere Perspektiven, die hier allerdings ausgespart werden müssen, um dem potentiellen Leser nicht zuviel zu verraten – wird aus der Sicht des Kommissars erzählt, wir blicken mit seinen Augen auf das, was an den beiden Tagen hektischer Spurensuche geschieht, was natürlich jeglicher Objektivität entbehrt, sehen nur das von den handelnden Personen, was Donker wahrnimmt, was ihm wichtig ist zu erwähnen – und für mich doch zum Großteil Trivialitäten sind. Dass beispielsweise Kollege Jacky leidenschaftlicher Teetrinker und -kenner ist, das belebende Getränk pausenlos zubereitet, es mit Honig versetzt und dann mit Genuss schlürft, muss nicht ein ums andere Mal hervorgehoben werden, um es zu kapieren. Die honigverklebte Schranktür, hinter der Donker hofft, ein paar Krümel Kaffee zu finden, ist uninteressant, genauso wie die ebenfalls klebende Farbe in der derzeit renovierten und somit eigentlich nicht benutzbaren Polizeiwache, mit der die Ermittler nicht nur einmal in unliebsamen Kontakt kommen. Diese Informationen sorgen für Leerlauf, ihr Weglassen hätte dem Krimi gutgetan.
Dies gilt gleichermaßen für die Personenbeschreibungen, die Donker mit uns teilt und von denen mir vor allem die immer kleinen Augen der Menschen, mit denen er es zu tun hat, im Gedächtnis geblieben sind, sowie die dünnen Haare, die nicht recht kämmbar sind und die stets nach hinten fallen (wie geht denn das?), und die bei den männlichen Charakteren in der Regel um einen Mittelscheitel angeordnet sind. Diese Beschreibungen erweckten in mir den – sicherlich falschen – Eindruck, dass besagte, fortwährend herausgestellten Merkmale typisch sein müssen für die Bürger Belgiens...
Obendrein bringt sich der Kommissar Donker durch die mit dem Leser geteilten subjektiven Eindrücke dessen, was er sieht, in den Mittelpunkt der Handlung – eine Stellung, in der ich einen Ermittler in einem guten Kriminalroman, wie ich ihn definiere, nicht sehen möchte, womit ich sicher nicht für die Mehrzahl der Leser sprechen kann. Dieser Platz steht den jeweiligen Fällen zu, die zu lösen sind, den Opfern und den Verdächtigen, die nicht dadurch mehr oder weniger verdächtig werden, indem man über ihre Marotten, über die Beschaffenheit ihrer Augen und Haare oder gar Fingernägel aufgeklärt wird. Das betrachte ich als überflüssiges Füllmaterial!
Ja, einschätzen können möchte ich die jeweiligen Detektive, Kommissare, Ermittler von eigenen Gnaden schon, auch verstehen, warum sie so sind und nicht anders, was sie antreibt, wie sie vorgehen. Das kann jedoch subtiler erreicht serden als mit der hier vorherrschenden Holzhammermethode, die letztlich nur zu Unverständnis des sich selbst ins Zentrum stellenden belgischen Kommissars geführt hat.
Als Getriebener stellt er sich dar, als jemand, der auf der Suche nach Gerechtigkeit ist, der am liebsten ganz alleine die bösen Buben und Mädchen, denen er habhaft wird, aus dem Verkehr ziehen möchte. Dies tut er mit einer Besessenheit, die der des freilich auf der anderen Seite stehenden Mörders oder der Mörderin dieses Romans in nichts nachsteht. Dafür riskiert er die Entfremdung von seiner Tochter, die er – wir erfahren es schon frühzeitig und werden dann stets aufs Neue daran erinnert – mit unschöner Regelmäßigkeit versetzt, was auch für seine langmütige Lebensgefährtin Sina gilt, die er immer wieder vertröstet mit dem Versprechen, sein Leben umkrempeln zu wollen.
Herrscht Personalknappheit bei der belgischen Polizei, so frage ich mich? Ist es nicht unverantwortlich, drei Polizisten 40 Stunden am Stück arbeiten zu lassen, ohne für Wachwechsel zu sorgen? Piet Donker und seine Kollegen sind infolge Schlafmangels – auch dieser wird breitgewalzt und es tut beinahe weh, Donkers Anstrengungen zu verfolgen, seiner überwältigenden Müdigkeit Herr zu werden - kaum noch einsatzfähig. Wie sollen sie dann einen so dringenden Fall lösen können? Alldieweil der arbeitssüchtige Donker nur durch Zufall auf die Entführung gestoßen ist, denn im Dienst war er nicht und in seinen Zuständigkeitsbereich fiel das Verbrechen auch nicht, soweit ich das verstanden habe...
Wie dem auch immer sei – abgesehen von der Figur des Piet Donker fand ich den Krimi enorm spannend, die Auflösung, die sich wirklich erst ganz am Schluss vollzog, sehr überraschend, aber nachvollziehbar, vorstellbar, logisch, nicht aus der Luft gegriffen, tief berührend. Und so banal wie schrecklich! Wäre der Kommissar nicht so weitschweifig und zunehmend erschöpft gewesen, hätte er seine Energie durch die Ermittlungen hindurch nicht darauf verschwendet, von einem Verdächtigen zum nächsten zu springen, immerzu der Meinung, dass jeweils diejenige Person, die gerade in sein Blickfeld geraten war, etwas zu verbergen hatte und auf jeden Fall der Täter sein musste, und hätte schlussendlich der Titel gehalten, was er versprochen hatte, beziehungsweise, was ich hineininterpretiert und mir davon erhofft hatte, dass nämlich das Hohe Venn eine echte Rolle spielen würde in dem Roman und nicht nur Staffage ist – es hätte so viel mehr hergeben können, wäre es in seiner Düsternis und Unwirtlichkeit als eigentliche Kulisse der Handlung aufgebaut worden -, dann wäre dieser Krimi einfach perfekt gewesen!