Profilbild von EmmaWinter

EmmaWinter

Lesejury Star
offline

EmmaWinter ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit EmmaWinter über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 05.02.2023

"Ich mag Interviews"

The Doors und Dostojewski
0

1978 interviewte Jonathan Cott vom Rolling Stone Magazin die amerikanische "Multiintellektuelle" Susan Sontag. Das Interview begann in der Pariser Wohnung von Sontag und wurde fünf Monate später in ihrem ...

1978 interviewte Jonathan Cott vom Rolling Stone Magazin die amerikanische "Multiintellektuelle" Susan Sontag. Das Interview begann in der Pariser Wohnung von Sontag und wurde fünf Monate später in ihrem New Yorker Loft beendet. Insgesamt zwölf Stunden dauerte das Gespräch.

Der Titel bezieht sich auf die Wertschätzung Sontags, die sie sowohl der sogenannten Hochkultur als auch der Pop(ulär)kultur entgegenbrachte. Dieser Ansicht hat sie in ihrer Essaysammlung "Kunst und Antikunst" (1966) Ausdruck verliehen und stieß damit in vielen Teilen der Intellektuellen auf Unverständnis. Die eifrige Kinogängerin Sontag, die sich für alles begeistern konnte, war aber ihrer Zeit weit voraus. Denn was bestimmt heute den Alltag? Ist es die Hoch- oder die Populärkultur? Es hat eine Verschiebung stattgefunden, an die die Medien einen damals unvorstellbaren Anteil haben. In einer anderen ihrer bekannten Essaysammlungen, "Über Fotografie" (1977), kommen Gedanken zum Tragen, die sich auf die heutige Social-Media-Generation anwenden lassen. Im Interview spricht sie von einer "Vereinnahmung" durch die Kamera (S. 67). Andere spannende Passagen des Gespräches beziehen sich auf die Krebserkrankung der Autorin und die "Metaphern", die damit verbunden sind. Das Buch "Krankheit als Metapher" (1977) räumt mit vielen Vorurteilen gegenüber der Krankheit auf und macht bewußt, wie wir sprachlich damit umgehen. Es sei eine sehr ernste Krankheit, aber eben keine selbstverschuldete oder gar ein Stigma.

Das verschriftlichte Interview ist mit 127 Seiten bequem an einem Nachmittag zu lesen. Ein erläuterndes Vorwort sowie ein hilfreiches Personen- und Titelregister runden das Büchlein ab. Mir hat es wirklich gefallen und es liest sich auch gut, weil Sontag quasi druckfähig - großartig ausformuliert - in ganzen Absätzen auf die Fragen von Cott eingeht. Da haben die Antworten wirklich Substanz und man kann Gedanken der Autorin nachvollziehen. In Ergänzung zu ihren Texten und Biographien über sie (Schreiber gefällt mir besser als Moser) kann ich das Interview sehr empfehlen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 01.02.2023

Alfonsina und die Straße

Die Rebellion der Alfonsina Strada
0

Alfonsina wächst in bitterster Armut in der Nähe von Bologna auf. Als ihr Vater zwei Hühner gegen ein gebrauchtes Fahrrad eintauscht, erhofft er sich von dieser neuen Mobilität mehr Arbeit als Tagelöhner. ...

Alfonsina wächst in bitterster Armut in der Nähe von Bologna auf. Als ihr Vater zwei Hühner gegen ein gebrauchtes Fahrrad eintauscht, erhofft er sich von dieser neuen Mobilität mehr Arbeit als Tagelöhner. Das einzige jedoch, was ihm dieses Fahrrad beschert, ist der Freiheitsdrang seiner zehnjährigen Tochter. Heimlich lernt sie nachts das Radfahren und saust durch die Landschaft. Schließlich kann sie sich von ihrem bescheidenen Lohn als Näherin ein Rennrad kaufen und dann nimmt eine schier unglaubliche Geschichte ihren Lauf.

Sehr einfühlsam hat Simona Baldelli die Lebensgeschichte von Alfonsina Strada nachgezeichnet, mit einigen fiktiven Ergänzungen, im Großen und Ganzen aber bleibt sie bei den Fakten. Es geht nicht nur um das Radfahren, vielmehr ist es eine Emanzipationsgeschichte. Schon als Mädchen findet Alfonsina es ungerecht, dass die Jungs und Männer mehr Wert sind und bevorzugst werden. Das wird an vielen Stellen im Roman deutlich. Ungläubig schüttelt sie den Kopf, wenn gesagt wird, dass Frauen für das Rennfahren nicht gebaut seien, ihr Körper diese schweren körperlichen Belastungen gar nicht aushalten könne. Dabei denkt sie an das stundenlange Waschen der Wäsche, die mühsame Gartenarbeiten und alles andere, was offenbar in den Augen der Männer keine körperliche Belastung für Frauen bedeutet.

Die Detailbeschreibungen der Lebensumstände im kleinen Dorf Fossamarcia fand ich ebenso faszinierend, wie die Schilderungen der Radrennen, die Schwierigkeiten, mit denen die Fahrer und die wenigen Fahrerinnen zu kämpfen hatten etc.

Alfonsina verfolgt ihren Traum konsequent, erlebt Enttäuschungen, Verluste und Erniedrigungen, aber sie gibt nie auf. "Die Königin der Tretkurbel" war mir vor diesem Roman völlig unbekannt, aber ihre Lebensgeschichte ist wirklich spannend, interessant und unterhaltsam. Seltsam fand ich zunächst den rosa Buchrücken und das rosa Vorsatzpapier. Die Farbwahl ergibt sich aber aus dem Text und hat natürlich einen Bezug zum Sport. Ein Roman, den ich wärmstens empfehlen kann.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 04.01.2023

Ist mein Sohn ein Mörder?

Wo der Wolf lauert
0

Hat mein Sohn Adam einen Mensch getötet? Diese Frage stellt sich Lilach Schuster, die mit ihrem Mann aus Israel in die USA eingewandert ist. In die scheinbare Idylle der wohlhabenden Familie in Silicon ...

Hat mein Sohn Adam einen Mensch getötet? Diese Frage stellt sich Lilach Schuster, die mit ihrem Mann aus Israel in die USA eingewandert ist. In die scheinbare Idylle der wohlhabenden Familie in Silicon Valley bricht dieser Todesfall ein wie ein Tornado. Gerade erst war ein Anschlag in einer Synagoge in der Gemeinde verübt worden und einige der Jugendlichen haben daraufhin einen Krav-Maga-Kurs belegt. Dieser Selbstverteidigungskurs wird von Uri geleitet, einem charismatischen Mann, der die Jugendlichen - unter ihnen auch den eher lethargischen Adam - schnell auf Zack bringt. Hat das eine etwas mit dem anderen zu tun?

Die Handlung wird aus der Sicht der Mutter erzählt und genauso wie Lilach sind wir überzeugt, dass Adam auf keinen Fall seinen Mitschüler getötet haben kann und eine Seite später, dass Adam es doch gewesen sein könnte. Immer neue Details kommen ans Licht und Lilachs Wechselbad der Gefühle nimmt die Leser mit.

Ayelet Gundar-Goshen thematisiert in diesem Roman Herkunft und Heimat, Rassismus und Antisemitismus, verwoben in eine Familiengeschichte und einen spannenden Plot.

Der Roman hat mir gut gefallen. Was macht es mit einer israelischen Familie, wenn sie im sonnigen Kalifornien lebt, scheinbar weit weg vom Konflikt, der zuhause den Alltag bestimmt? Wie verändert sich das Verhältnis zu den Eltern und Verwandten in Israel, wenn man zwar reich geworden ist, aber dafür der Heimat den Rücken gekehrt hat? Wie weit darf man sich assimilieren? Die Autorin beleuchtet diese vielen Konflikte durch Lilachs Augen, die geglaubt hat, alles richtig zu machen - für ihren Sohn.

Das Buch ist kein Krimi, allerdings mögen einigen wiederum die Krimielemente zu zahlreich sein. Für mich ist es die Geschichte einer israelisch-amerikanischen Familie, die in ihren Grundfesten erschüttert wird, wobei das Fundament bereits vorher auf wackeligem Boden stand. Dennoch spannend erzählt und mit einem gehörigen Twist, der den Roman zum Ende hin in eine ganz neue Richtung lenkt.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 22.12.2022

Das Glück zerrinnt zwischen den Fingern

Über Carl reden wir morgen
0

Anton und Rosa Brugger sind Geschwister und leben in einem eher abgelegenen Tal in Österreich in der Hofmühle. Während Anton in der Mühle bleibt, geht Rosa nach Wien und lernt ein ganz anderes Leben kennen. ...

Anton und Rosa Brugger sind Geschwister und leben in einem eher abgelegenen Tal in Österreich in der Hofmühle. Während Anton in der Mühle bleibt, geht Rosa nach Wien und lernt ein ganz anderes Leben kennen. Jahre später geht Antons Sohn Albert zur Kriegsmarine und bleibt insgesamt 12 Jahre fort. In der Mühle, die das Zentrum der Handlung ist, treffen er und seine Tante wieder aufeinander. Über mehrere Jahrzehnte und Generationen spannt sich der Bogen dieser Familiengeschichte. Immer wieder brechen Familienmitglieder aus dem engen Leben in der Mühle aus, das zieht sich durch den gesamten Roman. Neben den dörflichen Tragödien spielt vor allem der 1. Weltkrieg eine wichtige Rolle innerhalb der Familie Brugger.

Es stehen immer zwei Personen im Mittelpunkt der verschiedenen Abschnitte. Hatte man die zwei liebgewonnen, ging es schon in der nächsten Generation weiter. Einige wichtige Erklärungen werden erst nach und nach eingeflochten, so entsteht ein dichtes Handlungs- und Personengewebe.

Trotz der vielen Schicksalsschläge, die die Familie zu überstehenden hat, habe ich das Buch sehr gerne gelesen. Es ist spannend, dramatisch, traurig und tragisch, denn von vielen Protagonisten muss man sich innerhalb der Handlung verabschieden. Es tat schon weh zu lesen, wie das Glück den Figuren immer wieder durch die Finger rinnt. Die Charaktere haben mir in ihrer Vielfalt sehr gut gefallen, einzig Eugen war in meinen Augen als Getriebener etwas überzeichnet. Die Handlung nach Ende des Krieges hatte zudem leichte Züge eines Boulevardstückes.

Die Autorin kann sehr gut erzählen, da wird ein riesiges Panorama an Personen und Geschehnissen aufgebaut, das die Jahrzehnte der k.u.k. Monarchie Österreich-Ungarn widerspiegelt. Ein Familienroman, der mich sehr gefesselt hat. Gut, dass ich den Klappentext nicht gelesen hatte, er verrät wieder einmal (völlig unnötig) viel zu viel.


  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 01.12.2022

Was ist Heimat?

Jahre mit Martha
0

Eine Anziehung, die keiner richtig erklären kann: Martha Gruber, 40 Jahre und Professorin - Željko alias Jimmy, 15 Jahre, dessen Familie aus der Herzegowina stammt und dessen Mutter bei Frau Gruber putzt. ...

Eine Anziehung, die keiner richtig erklären kann: Martha Gruber, 40 Jahre und Professorin - Željko alias Jimmy, 15 Jahre, dessen Familie aus der Herzegowina stammt und dessen Mutter bei Frau Gruber putzt. Jimmy erledigt während der Sommerferien einige Arbeiten in Haus und Garten. Bei Grubers gibt es eine riesige Hausbibliothek, Jimmys Familie besitzt nur zwei Bücher. Für den Jungen liegt hier der Unterschied zwischen seiner Familie und den Grubers, nicht in Haus, Pool und Auto. Der Zugang zu Bildung scheint ihm die universelle Lösung zu sein.

"Ganz gleich, wie viele Arbeitsstellen meine Eltern noch annehmen würden - hier sah ich alles, was ich von ihnen nie würde bekommen können. Hier in diesem Raum, das dachte ich damals, lag das verborgen, was die Voraussetzung dafür sein musste, ein kluger Mensch zu sein." (S. 52)

Als die Ferien vorbei sind, trennen sich die Wege der beiden. Jimmy beginnt nach dem Abitur ein Studium in München. Hier trifft er auf den umschwärmten Literaturprofessor Alex Donelli und wird durch einen Zufall sein Assistent. Er wird Martha wieder begegnen. Eine Reise in die Herzegowina und illegale Geschäfte stehen ihm bevor, ehe er endlich glücklich werden wird - anders als er es sich gedacht hatte.

Mir haben die ersten 110 Seiten wahnsinnig gut gefallen. Wie Jimmy über sein Leben reflektiert, die Zukunft, seine Familie, was es heißt "nicht deutsch" zu sein, das war in Verbindung mit der Sprache ganz großartig zu lesen. Der Roman ist in der Ich-Perspektive des Protagonisten im Rückblick verfasst, deswegen spricht und reflektiert der 15-Jährige wie ein Erwachsener. Als Martha erneut in "Jimmys" Leben tritt, hat sich der "Sound" der Geschichte irgendwie geändert und ich habe diese Passagen nicht mehr mit der gleichen Begeisterung gelesen. Die intime Beziehung der beiden empfand ich als - sagen wir mal - irritierend. Zum Ende hin hat es mir dann wieder besser gefallen, obwohl die Handlung nach dem ersten Drittel eher episodenhaft wurde und ich auch nicht mit allem etwas anfangen konnte. Was sollte z.B. die Szene im Heizungskeller? Die Stringenz ging für mich teilweise verloren und auch ein bisschen die Leichtigkeit.

Dennoch ist das Buch lesenswert. Es gibt so viele schlaue Sätze, die zum Nachdenken anregen. Über das Leben im Allgemeinen, über Glück und wie man sich fühlt, wenn man keine richtige Heimat mehr hat.

Und es gibt viele witzige Sätze in diesem Roman, der über weite Strecken sehr unterhaltsam ist und ich fand Jimmy und seine weitverzweigte Familie sehr sympathisch und ich habe mit ihnen mitgefühlt. Der Autor hat seine Figuren ganz liebevoll gestaltet und die Geschichte ist gespickt mit gut beobachteten Details. Die Lesewut, die nur durch die Altpapiercontainer gestillt werden kann, der Besuch beim BIZ, die Arbeit an der Uni und mit Donelli, die Begegnung mit der Reinigungsfrau bei CBM etc.

Jimmy versucht sein Glück (und seinen Weg heraus aus der Zwei-Zimmer-Wohnung seiner Familie) zu finden, aber er findet es nicht mit Martha und er findet es nicht mit Donelli. Dieses Beziehungsgeflecht, wer hier was von wem will und wer wen möglicherweise ausnutzt, fand ich sehr gelungen kreiert.

Ich möchte noch viel mehr schreiben, um die vielen Aspekte des Buches anzusprechen, das sollte aber bis hier her genügen, um neugierig zu machen, oder?


  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere