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Veröffentlicht am 10.02.2023

Über Einsamkeit und den unkonventionellen Weg in eine Gemeinschaft

Oben Erde, unten Himmel
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Die in einer größeren japanischen Stadt lebende Suzu ist gerade nicht nur aus ihrem Job als Kellnerin in einem Familienrestaurant gefeuert worden, sondern auch „geghostet“, das heißt ein Liebhaber hat ...

Die in einer größeren japanischen Stadt lebende Suzu ist gerade nicht nur aus ihrem Job als Kellnerin in einem Familienrestaurant gefeuert worden, sondern auch „geghostet“, das heißt ein Liebhaber hat von jetzt auf gleich vollständig den Kontakt zu ihr abgebrochen und Suzu wie eine heiße Kartoffel fallengelassen. Sie selbst zog eigentlich vor fünf Jahren in die Stadt, um zu studieren, brach das Studium jedoch nach nur kurzer Zeit wieder ab. Nun treibt sie durch ihre einsames Leben und trifft unvermittelt durch ein nebulöses Stellenangebot auf ihren neuen Chef Herrn Sakai, sowie einige neue Kollegen und zukünftige Freunde. Ihre neue Arbeit ist nichts Alltägliches – zumindest für uns Europäer:innen – , denn die ist nun Leichenfundortreinigerin. Im Japanischen gibt es eigenes ein Wort für den „einsamen Tod“ von Menschen, die in sozialer Isolation leben und mitunter erst Wochen später nach ihrem Versterben in den eigenen vier Wänden gefunden werden. Dieses Wort ist „Kodokushi“ und ein einsamer Verstorbener ist ein sog. „Kodokusha“.

Flašar entwirft nun eine reizende Geschichte um die Mitte Zwanzig Jährige Suzu und die vielen, toll ausgeleuchteten Nebenfiguren um sie herum. Es geht um die Vereinsamung in den städtischen Häuserblocks, aber eben auch um den Weg hin in eine neue Gemeinschaft. Vom Allein- und Einsamsein hin zum Zusammensein mit anderen, selbst wenn einen mit diesen zunächst nicht viel verbindet.

Sprachlich schreibt die Autorin sehr solide, nutzt ab und an Anglizismen, die ich persönlich manchmal als etwas störend empfand, führt aber letztlich ganz sanft durch diese Welt der Verstorbenen und vor allem der Lebenden. Ganz präzise Beobachtungen und Formulierungen bleiben dabei im Gedächtnis, wie zum Beispiel „Mit Beziehungen war es wie mit Weihnachtsbäumen. Es war schön, einen zu haben, andererseits auch egal, wenn man keinen hatte. Problematisch wurde es eher dann, wenn man unbedingt einen haben wollte und keinen bekam.“ Will Suzu zu Beginn noch unbedingt eine Beziehung und sieht sich auf den entsprechenden Dating-Online-Portalen um, rückt dies mit dem Einzug der realen menschlichen Gemeinschaft in ihre Leben immer mehr in den Hintergrund. Sie entwickelt sich und ihre Wahrnehmung weiter und bemerkt, was viele als selbstverständlich annehmen würden: „Wir lachten. Menschen waren seltsam, dachte ich. Unberechenbar, kompliziert und zutiefst komisch waren sie.“ Suzu entdeckt soziale Kontakte und damit das Soziale in sich selbst. Dabei hilft ihr vor allem der herzliche neue Chef Sakai, eindeutig meine Lieblingsfigur in diesem Roman. Durch seine unkonventionelle Art, sich mit immer neuen Menschen in seinem Umfeld anfreunden zu wollen und sie damit von einem Roboter zu einem Menschen zu machen, ist einfach herzerwärmend.

Beim Verstehen des Textes und seinen vielen Bezügen zu Japan helfen die Worterklärungen in alphabetischer Reihenfolge im Anhang. Wie immer hätte ich mir gewünscht, dass die entsprechenden Begriffe schon im Romantext auf irgendeine Weise hervorgehoben worden wären. Aber sei es drum. Insgesamt handelt es sich um eine wunderschöne Veröffentlichung des Wagenbach Verlags, die sich optisch ebenso schön in die vorangegangen Romane der Autorin einordnet.

Somit ist „Oben Erde, unten Himmel“ ein äußerst lesenswerter Roman, der zwar zum Thema Einsamkeit und Gemeinschaft im Allgemeinen nicht mehr allzu viel Neues beitragen kann, aber dafür im Speziellen mit Blick auf die japanischen Kultur und das Kodokushi wirklich sehr wissenswert und erhellend ist. Ich habe das Buch sehr gerne gelesen und wünsche ihm sowie dem behandelten Themenbereich viel Aufmerksamkeit.

4/5 Sterne

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Veröffentlicht am 09.02.2023

Wenn eine Krise der nächsten den Rang abläuft

Liebes Arschloch
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„Liebes Arschloch, ich habe deinen Beitrag auf Insta gesehen. Du bist wie die Taube, die mir im Vorbeiflug auf die Schulter kackt.“ So beginnt die Replik einer mit fünfzig schon „alternden“, aber immer ...

„Liebes Arschloch, ich habe deinen Beitrag auf Insta gesehen. Du bist wie die Taube, die mir im Vorbeiflug auf die Schulter kackt.“ So beginnt die Replik einer mit fünfzig schon „alternden“, aber immer noch bekannten französischen Grand Dame des Schauspiels, Rebecca, auf den Post eines Mannes, der sie aus dem Nichts im Internet mit Tiefschlägen bezüglich ihres Aussehens diffamiert. Kein Wunder, dass sie da mal kurz die Contenance verliert. Nur hat es Rebecca sowie faustdick hinter den Ohren, wie man im Verlaufe dieses eindrücklichen Briefromans erfährt. Ihr Gegenüber ist Oscar, ein dreiundvierzigjähriger Schriftsteller, welcher sie noch aus seiner Kindheit kennt. Denn Rebecca war eine Zeit lang die beste Freundin von Oscars Schwester Corinne. Die Dritte und eher passive Teilnehmerin dieser illustren digitalen Runde ist Zoé, Ende Zwanzig und als radikale Feministin der jüngsten Generation in den sozialen Medien unterwegs. Zoé wurde vor einigen Jahren durch das aufdringliche Verhalten Oscars aus ihrer Stelle als Pressereferentin aus Oscars Verlag gekickt. Bevor die MeToo-Bewegung es Frauen ermöglichte, offen über Belästigungen und Machtmissbrauch am Arbeitsplatz zu reden. Mit einem Post auf ihrem Blog kommt nun ein Shitstorm ins Rollen, der nicht nur Oscar sondern auch von rechts außen Zoé zu überrollen droht.

All dies und noch viel, viel mehr bekommen wir als Leser:innen des vorliegenden Briefromans nun über Bande mit. Über mehrere Monate hinweg begleiten wir vor allem Rebecca und Oscar bei ihrer rein digitalen Konversation. Potentielle Leser:innen, die vom harschen Beginn des Romans abgeschreckt werden könnten, kann man beruhigen: Keineswegs verfällt Despentes in eine vulgäre Sprache. Nein, sehr differenziert aber immer authentisch im Sprachstil werden große und wichtige Themen unserer Gegenwart angesprochen und diskutiert. Als Leser:in fühlt man sich dabei empathisch mal zu Rebecca, mal zu Zoé und tatsächlich auch mal zu Oscar hingezogen. Und gleichzeitig hat man das Gefühl von allen Protagonist:innen auch massiv abgestoßen zu werden. Mitunter vertreten sie krasse Standpunkte bezogen auf Feminismus, Drogenkonsum oder die Anti-Coronamaßnahmen, das Altern von Frauen vs. Männern und die damit verbundenen Ansprüche der Gesellschaft an sie.

Nun nutzt die Autorin die Form des Briefromans ganz geschickt, um viele verschiedene Sichtweisen auf einen Sachverhalt ins Rennen zu bringen. Aus vielen Blickwinkeln werden zentrale Themen der letzten Jahre (ausgenommen dem Ukraine-Krieg, welcher im zeitraum des Romanverlaufs noch nicht begonnen hatte) beleuchtet und als Lesende lernen wir unglaublich viel durch die Argumentationslinien der hier Schreibenden. Da sie aus jeweils unterschiedlichen Generationen stammen, treffen gegenteilige Ansichten aufeinander. Man selbst kann sich dann aussuchen, was einen überzeugt. Sehr viele kluge Beispiele zu problematischen gesellschaftlichen Entwicklungen werden von Despentes ins Feld geführt ohne über den gesamten Roman hinweg mit „der einen“ klaren Aussage moralinsauer auf die Rezipient:innen einwirken zu wollen.

Punkte Abzug gibt es meinerseits nur für die recht platte Art, wie der Emailkontakt von der Autorin eingefädelt wird. Da fragt man sich zu Beginn doch, warum überhaupt diese Personen so ausführlich einander schreiben, wenn sie sich doch auf den ersten Blick außer Beleidigungen nicht viel zu sagen haben. Recht schnell wird es dann aber inhaltlich intensiv mit persönlichen Einblicken und Eingeständnissen der Protagonisten. Zusätzlich wirkt es dann recht offensichtlich konstruiert, dass hier scheinbar jeder jeden kennt. Diese Kritikpunkte treten aber hinter dem Großen und Ganzen zurück.

Die Veränderungsfähigkeit der Figuren über diesen recht langen Zeitraum der Korrespondenz hinweg hat mit hingegen sehr gut gefallen und war auch sehr gut nachvollziehbar und plausibel erzählt. Diese Flexibilität und Plastizität wurde ja auch von uns verlangt in den letzten Jahren. Eine Krise, ein Skandal löste den nächsten ab. So konstatiert Rebecca an einer Stelle, als gerade das Coronavirus in Europa Einzug gehalten hat, gegenüber Oscar, der noch mitten in seinem Belästigungsskandal steckt: „Und in diesem Schlamassel denke ich an dich, mein dummer Freund. Und sage mir, du wirst erleichtert sein. Dieses verdammte Coronavirus wird deinem #MeToo den Rang ablaufen…“ Eine Krise läuft hier der vorherigen den Rang ab. Ja, genauso sahen unsere letzten Jahre aus auf der Welt.

Virginie Despentes entwirft einen klugen Briefroman, der sprachlich wie auch inhaltlich überzeugt. Ich habe ihn sehr gern gelesen, während die Seiten nur so dahinflogen. Eine klare Leseempfehlung meinerseits.

4/5 Sterne

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Veröffentlicht am 06.02.2023

Ein kleiner, aber mächtiger Roman

Macht
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In diesem Roman der norwegischen Schriftstellerin und Fotografin dreht sich alles um Macht. Aber eben nicht um politische Macht, sondern um die Macht über den eigenen Körper. Denn die namenlose Ich-Erzählerin ...

In diesem Roman der norwegischen Schriftstellerin und Fotografin dreht sich alles um Macht. Aber eben nicht um politische Macht, sondern um die Macht über den eigenen Körper. Denn die namenlose Ich-Erzählerin hat vor 15 Jahren eine Vergewaltigung erleben müssen und kämpft seitdem um diese Macht, nachdem sie sie an einem Abend komplett verloren hatte.

Mit lakonischer Sprache schildert uns die Erzählerin ihre aktuelle Lebenswelt. Sie ist Krankenpflegerin, verheiratet und hat zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, ist mittlerweile gut situiert. Diese finanzielle Unabhängigkeit nutzt sie, um durch luxuriöse Kleidung sowie teure Pflege- und Kosmetikprodukte ihren Körper nach den eigenen Vorstellungen formen zu können. Alles muss perfekt sein. Oder zumindest so scheinen. Denn sie meint auf der Straße anderen Frauen ansehen zu können, ob sie in ihrem Leben auch schon vergewaltigt worden sind. Eine von zehn Frauen in Norwegen hat diese Erfahrung machen müssen. Nun möchte Sie mit aller Macht die Kontrolle über ihren Körper zurück, hätte sie am liebsten nie abgegeben.

Anhand kleinster, alltäglicher Situationen macht Furre deutlich, wie sich die Vergewaltigung ganz ohne Verfallsdatum noch viele Jahre nach dem Vorfall auf das Leben ihrer Protagonistin auswirkt. Der Gang zur Zahnärztin, das damit verbundene an die Decke starren und warten, dass es endlich vorbei ist. Einmal Angst gehabt zu haben, durch die Hand eines Mannes zu sterben und nun jede Nacht neben einem solchen im Ehebett zu liegen. Ständig der Bedrohung einen Schritt voraus sein zu wollen, ob beim Weg nachhause vom Bus oder bei der Krebsvorsorge. Immer die Kontrolle, die Macht behalten. „Ich bügele meine Blusen und reinige meine Haut. Das ist mein Überlebensmodus.“

Der eigentliche Akt der Vergewaltigung wird dabei nicht detailliert von Furre geschildert. Das braucht es nicht, um den Horror einer solchen Tat zu verdeutlichen. Dabei hadert die Protagonistin doch auch stark mit sich selbst. Zweifelt in Gedanken noch Jahre später an, ob es überhaupt „definitionsgemäß“ eine Vergewaltigung war, ob sie sich nicht hätte mehr wehren sollen, ob es nicht doch ihre eigene Schuld war. Ganz meisterhaft lotet die Autorin mithilfe der Gedanken ihrer Erzählerin aus, was in unzähligen #metoo-Debatten seit dem Herbst 2017 zur Sprache kam. Sie ermöglicht es dabei ihrer Erzählerin den Vorfall und die Konsequenzen aus verschiedenen Blickwinkeln zu sehen. Wobei uns Leser:innen durchaus bewusst wird, dass diese Abwägungen für die Erzählerin mitunter eher Vermeidungsstrategien darstellen und sie in ihrer Heilung behindern. Sie berichtet uns von ihren mal mehr, mal weniger adäquaten Bewältigungsstrategien und wir dürfen sie ein Stück auf ihrem Weg der Bewältigung begleiten.

Sprachlich ist der Roman sehr nüchtern aber dadurch auch immer unglaublich präzise formuliert. Auf den nur 170 Seiten finden sich unzählige prägnante Sätze, die lange nachhallen. Ebenso wie die ganze Geschichte dieses Romans, oder besser: dieser Frau. Denn es ist leider die Geschichte von so vielen Frauen (und weniger, aber auch Männern). Jede Person hat eigene Bewältigungsstrategien, hier bekommen wir eine Auswahl davon zu lesen. Das ist unglaublich aufschlussreich und einprägsam. Und letztlich vielleicht sogar aufgrund der lakonischen Sprache besonders erschütternd.

Auch wenn die Autorin zum Ende hin ein wenig diese knackige Art der Beschreibungen aus den Augen verliert, finde ich den Roman einfach nur großartig. Dünn aber ungemein gehaltvoll, weshalb ich die Lektüre dieses Buches nur dringend empfehlen kann.

Zum Abschluss noch ein Wort zur Gestaltung des Buches. Die Covergestaltung ist wirklich überwältigend treffend in seiner Mehrdeutigkeit. Erwähnenswert sind aber auch die beiden Fotografien auf dem Vor- und Nachsatz. Diese stammen von der Künstlerin Niki de Saint Phalle aus dem Jahre 1961. Eine Künstlerin, die sich Zeit ihres Lebens mit den Folgen einer Vergewaltigung auseinandergesetzt hat. Und sie spielt auch eine gewisse Rolle für die Erzählerin, sodass bei dieser Ausgabe des DuMont Buchverlags wirklich von vorn bis hinten alles durchdacht gestaltet wurde. Toll!

4,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 06.02.2023

Interessanter familienbiografischer Roman auf Deutsch - Russisch - Kasachisch

Sibir
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Sabrina Janesch, selbst Tochter einer polnischen Mutter und eines Vaters, der – ebenso wie der Protagonist ihres Romans, Josef – als Kind mit seiner Familie aus dem Wartheland in die Steppe Kasachstans ...

Sabrina Janesch, selbst Tochter einer polnischen Mutter und eines Vaters, der – ebenso wie der Protagonist ihres Romans, Josef – als Kind mit seiner Familie aus dem Wartheland in die Steppe Kasachstans verschleppt wurde, führt im vorliegenden Roman familienbiografische Hintergründe und Recherchen zu einem spannenden Porträt einer Familie über Generationen hinweg zusammen.

Josef ist zehn Jahre alt, als er 1945 mit seiner in Galizien (Ukraine) angesiedelten, deutschstämmigen Familie bestehend aus seinem Bruder, seiner Mutter, der Tante und den Großeltern von russischen Soldaten nach Sibirien verschleppt wird. In die BRD kommt die Familie zehn Jahre später durch Verhandlungen von Bundeskanzler Adenauer mit weiteren zehntausenden Kriegsgefangenen – hauptsächlich Soldaten. Bekannt sind die Geschichten von Wehrmachtssoldaten, die in die russischen Gulags für viele Jahre verschwanden und in stark reduzierter Anzahl erst Jahre später freikamen. Von sogenannten „Zivilverschleppten“ hörte man bisher jedoch nur wenig. Als Vergeltung für Taten Nazideutschlands im Krieg wurden deutsche Zivilisten, die in östlichen Gebieten lebten, u.a. in die kasachische Steppe zum Arbeitsdienst verschleppt.

Josefs Geschichte lesen wir nun nur deshalb, weil seine Tochter Leila beginnt seine im Alter von über 80 Jahren schwindenden Erinnerungen aufzuschreiben. So gelingt der Einstieg in diesen Roman und überraschenderweise bleibt die Erzählung fortan jedoch nicht nur im Jahre 1945/46 in der kasachischen Steppe sondern springt im Verlauf des Buches zeitlich und örtlich immer wieder ins Jahr 1990/91, als die Sowjetunion zusammenbrach und erneut deutschstämmige Menschen, sog. „Russlanddeutsche“ in die BRD übersiedelten. Hier begleiten wir nun Leila, in etwa im selben Alter nun wie damals ihr Vater Josef, als er verschleppt wurde. So erfahren wir nicht nur etwas über das Leben des kleinen Josefs in der „Gelber-Rücken-Steppe“, Sary Arka, und seiner Freundschaft mit dem kasachischen Jungen Tachawi, sondern auch über das Leben des erwachsenen Josef sowie seiner Tochter Leila und ihrer Freundschaft zu Arnold, einem Jungen mit ähnlicher Familiengeschichte, und Pascha, dem Sohn einer Spätaussiedler-Familie.

Durch diesen geschickten Schachzug der Gegenüberstellung zweier Kindheiten fächert die Autorin die Familiendynamiken unter unterschiedlichen Vorzeichen auf und bringt uns Lesenden gleich zwei historische Phänomene näher. Das ist psychologisch wie auch sprachlich sehr gut umgesetzt. Mithilfe weniger Sätze baut sie die Atmosphäre der einen und der anderen Lebenswelt in unserem Kopf auf und zieht uns in diese aufregende Familiengeschichte hinein. Besonders die Beschreibungen um die durch die Sowjets zusammengewürfelte Dorfgemeinschaft Nowa Karlowka in Kasachstan überzeugen ohne Abstriche. Sie schreibt:

„Erst wesentlich später wurde ihm klar, dass die Tscherkessen, Armenier, Ukrainer, Polen, Esten, Finnen, Tschetschenen, Koreaner und Kalmücken, die in Nowa Karlowka lebten, schon vor Jahren aus allen möglichen und unmöglichen Ecken des sowjetischen Imperiums zusammengetrieben worden waren und in die Steppe geschafft. Nichts davon war freiwillig geschehen, die bunte Dorfgemeinschaft war brutal erzwungen, und sie alle, alle waren Gefangene, zurückgehalten nicht von Mauern, sondern von Leere.“

Dieser kulturellen und sprachlichen Mischung verleiht die Autorin gekonnt Ausdruck, indem sie immer wieder Vokabeln, welche an der Stelle des Buches für die Geschichte wichtig sind, in den drei Sprachen Deutsch, Russisch und Kasachisch auftauchen lässt. Denn Josef ist es verboten Deutsch zu sprechen, er will die Sprache aber nicht vergessen, in Russisch muss er sich im Dorf ausdrücken und mit seinem Freund Tachawi kann er sich nur auf Kasachisch verständigen.

Zugegebenermaßen empfand ich den Erzählstrang in der Steppe um den jungen Josef über die Länge des Buches hinweg ein wenig interessanter als der um 1990/91. Auch wenn ich die literarische Entscheidung der Autorin, jeweils nur etwa ein Jahr aus dem Leben der jeweils etwa zehnjährigen Kinder Josef und auch Leila zu erzählen, sehr gut nachvollziehen kann, so hätte ich mir doch noch mehr und Weiterführendes aus Josefs Kindheit und Jugend erhofft. Zuletzt tauchen im Erzählstrang 1990/91 außerdem ein paar zu viele Handlungswendungen auf und machen diesen ein wenig zu wuselig. Das Ende des Buches ist dann wieder erfrischend und konnte mich überzeugen.

Insgesamt handelt es sich bei „Sibir“ als um ein äußerst lesenswertes Buch, welches ich allen Interessierten ans Herz legen möchte. Da die Autorin ja bereits in der Vergangenheit literarisch ihre Familiengeschichte aufgearbeitet hat, bleibt noch die kleine Hoffnung erhalten, dass wir doch noch einmal zur Figur „Josef“ in einem Roman zurückkehren können, um mehr über seine Jugend und junges Erwachsenenalter zu erfahren.

4,5/5 Sterne

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