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Veröffentlicht am 01.10.2023

Verständliche und unterhaltsame Erzählung über den Wettlauf zur Entwicklung der Polio-Impfung

Die Formel der Hoffnung
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In ihrem Roman „Die Formel der Hoffnung“ beschreibt Lynn Cullen den Werdegang der Ärztin und Forscherin Dr. Dorothy Millicent Horstmann, die sich über viele Jahre ihres Lebens hinweg für eine Prävention ...

In ihrem Roman „Die Formel der Hoffnung“ beschreibt Lynn Cullen den Werdegang der Ärztin und Forscherin Dr. Dorothy Millicent Horstmann, die sich über viele Jahre ihres Lebens hinweg für eine Prävention gegen Kinderlähmung eingesetzt hat. Sie starb 2001 im Alter von 90 Jahren. Als Leserin konnte ich die Wissenschaftlerin in der Zeit von 1940 an bis zum Jahr 1963 begleiten.

Dorothy M. Horstmanns Eltern sind deutscher Herkunft. Wenige Jahre nach ihrer Emigration wird die Mutter zur Alleinverdienenden, doch sie setzt alles daran, Dorothy den Weg für eine Karriere zu ebnen. Die Ärztin fällt immer wieder durch ihre Größe auf und überragt meist ihre Kollegen. Doch bei ihrer Stellensuche wird ihre Bewerbung bewusst übergangen, denn es ist damals schwierig, als Frau eine leitende Position zu erhalten. Nur durch einen Irrtum gelingt ihr der berufliche Einstieg in einem Assistenzprogramm. Doch unbeirrt geht sie ihren Weg, denn ihr Ziel ist es, Kindern eine Zukunft ohne Sorge vor Lähmungen und Tod zu geben.

Der Weg zu einem Impfstoff gegen Polio ist gefüllt mit Hoffnung und vielen Rückschlägen. Es gibt mehrere Virologen, die sich am Wettlauf zur Entwicklung einer Impfung beteiligten. Zweien von ihnen gelingt es schließlich, entsprechende Fortschritte zu verzeichnen. Lynn Cullen verdeutlicht, dass deren Forschung abhängig von Geldgebern war, was für Dorothy ein Problem darstellte. Immer wieder wird sie aufgrund ihres Geschlechts übergangen. Einer Frau wurden Haushalt und Familie zugestanden und erwartet, dass sie ihren Beruf nach einer Heirat aufgab. Die Autorin führt dazu im Roman zahlreiche Beispiele in Form von historischen, weiblichen Personen an. Im Roman spielen sie zwar nur eine Nebenrolle, aber sie in der Realität leisteten sie wichtige Beiträge, damit der Impfstoff gefunden werden konnte, ohne dass ihr Name in Abhandlungen zum Thema Eingang gefunden hat.

Vermutlich blieb Dr. Dorothy M. Horstmann auch deshalb unverheiratet und ohne Kinder, weil sie aufgrund häufig spontan anfallender Reisetätigkeiten in den Fällen von Polioausbrüchen rund um die Welt, immer wieder und auch manchmal lange andauernd von Daheim abwesend war. Dennoch erdenkt die Autorin sich für die Wissenschaftlerin eine Liebe, die sich ganz natürlich in deren Leben einfügt.

Die Ärztin sichert sich die Schätzung ihrer Kollegen durch die Entdeckung, dass das Virus über das Blut in die Nervenbahn eindringt. Obwohl ihr damit eine Ehrung durch einen Nobelpreis verwehrt bleibt, wie sicherlich vielen weiteren Wissenschaftlern auch, erarbeitete sich Dr. Horstmann immer mehr Respekt unter den mit der Erforschung von Polio Beschäftigten.

Lynn Cullen verknüpft in ihrem Roman „Die Formel der Hoffnung“ die ihr durch eine sehr gute Recherche bekannten Fakten des Lebens der Ärztin Dr. Dorothy M. Horstmann mit erdachten, aber überaus passenden Begebenheiten und bringt damit einem breiten Publikum eine bedeutende, aber eher unbekannte weibliche Persönlichkeit näher. Nebenher übt sie Kritik an der Gesellschaft in den mittleren Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts im Umgang mit Frauen, die eine berufliche Karriere anstreben. Als Leserin erfuhr ich viele Details über den Wettlauf zur Entwicklung des Impfstoffs gegen Polio, die die Autorin verständlich und auf unterhaltsame Weise in ihre Erzählung einfließen lässt. Sehr gerne empfehle ich das einfühlsam geschriebene Buch weiter.

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Veröffentlicht am 22.09.2023

Zwischen Wahrheit, Legenden und Flunkereien

Nincshof
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Im Burgenland, direkt an der Grenze zu Ungarn, liegt das fiktive Örtchen Nincshof. Wohlüberlegt hat die Autorin Johanna Sebauer den Haupthandlungsort ihrer Geschichte so genannt, denn „nincs“ bedeutet ...

Im Burgenland, direkt an der Grenze zu Ungarn, liegt das fiktive Örtchen Nincshof. Wohlüberlegt hat die Autorin Johanna Sebauer den Haupthandlungsort ihrer Geschichte so genannt, denn „nincs“ bedeutet im ungarischen „es gibt keins“. Die Verschwörung dreier Bewohner will genau das erreichen, nämlich nichts Geringeres, als dass das Dorf aus dem Gedächtnis der Welt verschwindet. Alten Legenden nach war das früher so und brachte den Vorteil, dass sie staatlichen Verpflichtungen wie zum Beispiel dem Zahlen von Steuern und der Wehrpflicht entgingen. Sie möchten wieder frei in allen ihren Entscheidungen werden. Die große Herausforderung stellen die heutigen sozialen Medien dar und ich war von Beginn an nicht nur gespannt, wie sie ihr Ziel erreichen wollen, sondern natürlich auch, ob sie erfolgreich sind.

Als erstes werben die Oblivisten, wie die Verschwörer sich nennen, die bereits über achtzigjährige Erna für ihr Vorhaben an. Nebenher hat deren Mitwirken den Effekt, dass sie einen Versammlungsort in ihrer Küche haben und sich gerne von ihr mit leckeren Snacks versorgen lassen. Der Zuzug einer Familie aus Wien trübt ihre Erfolge, denn mit deren Plan, einer Irrziegenzucht Touristen anzulocken, stehen sie konträr dazu, das Dorf dem Vergessen anheim zu geben.

Der Roman ist eine herrliche Komödie, die mit vielen eigenartigen Ideen aufwartet zu denen Ernas nächtliche Besuche im Swimmingpool der Nachbarn gehören, Pusztafeigen und deren Wirkung sowie jede Menge Einfälle und deren Umsetzung durch die Oblivisten. Die Figuren sind liebevoll gestaltet, voller Eigenleben und ausgestattet mit zahlreichen Macken. Zwischen der amüsanten Geschichte schwingt das Thema des Heischens nach Aufmerksamkeit. Viele versuchen in der Öffentlichkeit auf sich aufmerksam zu machen und inszenieren sich entsprechend, wobei sie andere ungewollt ins Rampenlicht rücken und ihre Entscheidungsfreiheit dabei ein Stück einschränken. Johanna Sebauer weist dadurch darauf hin, dass dies eins der Dinge des Zuviels ist, die neben zu viel Arbeit, zu viel Essen und zu wenig Zeit an unserer Gesundheit knabbern.

Wahrheit, Legende und Lügen sind in Nincshof eng beieinander angesiedelt und die Erzählungen über die Vergangenheit und die Ereignisse der Gegenwart lassen sich nicht einfach zuordnen, was sehr zum Vergnügen des Lesenden beiträgt. Ich habe das Buch sehr genossen und vergebe gerne eine Leseempfehlung.

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Veröffentlicht am 12.09.2023

Dritter Teil der Fräulein vom Amt- Serie: hält mit den beiden vorigen Büchern überaus mit

Fräulein vom Amt – Spiel auf Leben und Tod
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Im Jahr 1925 erstickt unweit der Spielstätte des Internationalen Schachturniers in Baden-Baden die noch jugendliche Wäscherin Gertrude in einer Wäschetrommel der Dampfwaschanstalt. Im dritten Band der ...

Im Jahr 1925 erstickt unweit der Spielstätte des Internationalen Schachturniers in Baden-Baden die noch jugendliche Wäscherin Gertrude in einer Wäschetrommel der Dampfwaschanstalt. Im dritten Band der Reihe über das Fräulein vom Amt mit dem Untertitel „Spiel auf Leben und Tod“ von Charlotte Blum bemüht sich Alma Täuber, die titelgebende Protagonistin, um die Aufklärung der Umstände unter denen die Angestellte der Wäscherei ums Leben kam. Eine Kollegin hat sie um ihre Mithilfe gebeten, denn die Verstorbene ist eine Cousine und Mitbewohnerin von ihr.

Alma zögert zwar zu helfen, aber es ärgert sie, dass die Kollegen von Kriminalkommissar Ludwig Schiller, mit dem sie bereits seit längerem fest befreundet ist, den Tod der Wäscherin als Selbstmord oder Unfall zu den Akten heften. Schnell erkennt sie Ungereimtheiten und überlegt gemeinsam mit ihrer Freundin und Mitbewohnerin Emmi und ihrem Cousin Walter, der beruflich in der Stadt ist, wie sie an nähere Informationen über die Verstorbene und deren privates Tun und Lassen gelangen kann.

Am Schachturnier hat sie zunächst wenig Interesse, begleitet ihren am Spiel interessierten Freund aber zu einer Veranstaltung und erfreut sich an der Atmosphäre der Veranstaltung. Später erfährt sie davon, dass während der Spiele Langfinger unterwegs sind. Die Ermittlungen kommen nur schleppend voran. Alma weiß, dass es weit hergeholt ist zu überlegen, ob der Tod von Gertrude in Verbindung mit den Diebstählen steht, bis sie in eine für ihr eigenes Leben bedrohliche Situation gerät.

Erneut verbindet das Autorinnenduo, das unter dem Pseudonym Charlotte Blum schreibt, einen fiktiven Kriminalfall mit historischen Fakten, zu denen das Schachturnier gehört, das von der Stadtverwaltung der Kur- und Bäderstadt damals veranstaltet wurde. Es gelingt ihnen, durch zahlreiche Beschreibungen der Umgebung, kulturellen Begebenheiten und politischen Hintergründen ein vorstellbares Bild der damaligen Zeit entstehen zu lassen. In einem Glossar am Ende des Buchs erhält man kurze Erläuterungen zu damals wichtigen Persönlichkeiten, zu Literatur, Musik und verschiedenen zeitgeschichtlichen Begrifflichkeiten.

Die Entwicklungen im Fernmeldewesen in Form der technischen Neuerung des Selbstwählapparats bringen Alma zum Grübeln über ihre berufliche Zukunft. Mit den neun Kolleginnen ihrer Schicht kommt sie gut zurecht. Man hilft einander oder lästert gemeinsam. Ihren Heiratswunsch hat die Protagonistin bisher aufgeschogen, weil sie dann ihre Arbeitsstelle aufgeben müsste. Täglich wartet sie darauf, dass es Entlassungen geben wird.

Bei den Ermittlungen sorgen die Verbindungen zu Bekanntschaften der lebenslustigen Emmi für AnsprechpartnerInnen, die Alma dazu nutzt, weiterführende Informationen zu erhalten. Aufgrund ihrer vergangenen Erfahrungen machte sie diesmal auf mich einen forscheren Eindruck, wenn es darum ging, sich unbekannten Situationen auszusetzen wie beispielsweise dem Besuch eines als verwerflich angesehenen Lokals.

Mit dem dritten Band „Spiel auf Leben und Tod“ der Serie um Alma Täuber, dem „Fräulein von Amt“ knüpft Charlotte Blum nahtlos an die erfolgreichen ersten beiden Bände an. Der zu ermittelnde Fall ist ansprechend gewählt und ungewöhnlich, so dass er Anreiz zum Miträtseln bietet. Die Verknüpfung mit dem tatsächlich stattgefundenen Schachturnier des Jahrs 1925 in Baden-Baden ist geschickt gesetzt und in der Umsetzung gelungen. Das Buch ist ein Must-Read für alle Fans der Serie und sehr gerne empfehle ich das Buch an alle Freunde historischer Kriminalromane weiter.

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Veröffentlicht am 11.09.2023

Einfühlsame Erzählung über zwei Frauen verschiedener Jahrhunderte und die Wertschätzung ihrer Arbeit

Marschlande
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Zwei Frauen und 500 Jahre, die sie voneinander trennen und dennoch findet Jarka Kubsova in ihrem Roman „Marschlande“ verbindende Elemente in deren Suche nach einem eigenständigen Leben. Abelke Bleken lebte ...

Zwei Frauen und 500 Jahre, die sie voneinander trennen und dennoch findet Jarka Kubsova in ihrem Roman „Marschlande“ verbindende Elemente in deren Suche nach einem eigenständigen Leben. Abelke Bleken lebte im 16. Jahrhundert und ist eine historisch verbürgte Person, die die Autorin mit Leben füllt. Die im Südosten Hamburgs ansässige Britta Stoever ist dagegen eine rein fiktive Figur, in deren Charakter sich manche Leserin sicher wiederfinden wird. Der Alltag der beiden ist sehr verschieden in eben jener, als Marschlande bezeichneten Gegend, stellt aber die zwei Frauen in ihrer jeweiligen Zeit vor besondere Herausforderungen.

Abelke bewirtschaftet den großen geerbten Hufnerhof ganz allein, nachdem ihr Personal nach einem Deichbruch sie verlassen hat, um andernorts mehr zu verdienen. Sie steht in der Verantwortung, die Schäden am Deich in kurzer Zeit ausbessern zu müssen. Ihre Hoffnung auf Hilfe schwindet immer mehr und sie erkennt, dass ihre Rolle als Frau damit in Zusammenhang steht, denn die meisten ihrer Zeitgenossen und -genossinnen sehen das weibliche Geschlecht als Versorgerin von Küche und Kindern. Aber Abelke ist ohne Partner*in.

Auch Brittas Mann sieht Jahrhunderte später seine Frau am liebsten am Herd und in der Umsorgung der Tochter und des Sohns. Er selbst ist im Beruf erheblich eingespannt und stolz darauf, mit seinem Gehalt den kürzlichen Hauskauf finanzieren zu können. Britta erhält in ihrem Halbtagsjob, dessen Anforderungen hinter ihren Kenntnissen zurückbleiben, kaum Anerkennung.

Bei beiden Frauen nährt sich die Wut darüber, dass sie nicht gleichberechtigt behandelt werden. Abelke fühlt sich im Vergleich mit anderen Hufbauern zurückgesetzt und Britta spürt das Ungleichgewicht, wenn es um die Aufgabenverteilung in ihrer Ehe geht. Dabei nutzt auch Reden nichts, denn diejenigen, die ihren Vorrang erworben haben und damit auch eigene Vorteile, werden von ihrer Position kaum weichen. Wenn sie aus ihrem Umfeld heraus unterstützt werden, kann es sein, dass sie gleicher als gleich werden; Orwell lässt grüßen. Währenddessen staut sich bei den Frauen der Frust an.

Britta beschäftigt sich mit dem Schicksal Abelkes, nach der in Hamburg eine Ringstraße benannt ist, und wird sich dabei umso mehr ihrer eigenen Probleme bewusst. Anders als früher findet sie heute offene Ohren für ihre Sorgen und vermag es, Konsequenzen zu ziehen.

Jarka Kubsova bindet die von ihr geschilderten Lebensabschnitte der Frauen in eine Umgebung ein, die häufiger extremen Wetterkapriolen ausgesetzt ist. Stürme und Überschwemmungen fordern den Bewirtschaftern der Böden einiges ab. Dank der schnörkellosen Beschreibungen konnte ich mir die Gegend beim Lesen gut vorstellen und empfand sowohl die Härte der damaligen Bestellungsarbeiten wie auch die Schönheit der malerischen Landschaft, wie sie sich bis heute darstellt.

In ihrem Roman „Marschlande“ beschreibt Jarka Kubsova einfühlsam zwei Frauenleben, die durch viele Jahrhunderte getrennt sind und in denen sich dennoch Gemeinsamkeiten in ihrem Streben nach Selbstbestimmung finden. Wie in ihrem Buch „Bergland“ setzt sie auch hier eine Akzentuierung auf das Ansehen der Arbeit von Frauen und zeigt im Vergleich von damals und heute, wie klein der Fortschritt auf dem Gebiet der Gleichberechtigung ist. Für mich ist das Buch erneut ein Lesehighlight und darum empfehle ich es gerne weiter.

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Veröffentlicht am 10.09.2023

Fantastischer Ausflug in die Zukunft in einem ungewöhnlichen Schreibstil

Tausend und ein Morgen
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In der utopischen Welt ohne Kriege, in der Ilija Trojanows Roman „Tausend und ein Morgen“ spielt, hat die Menschheit es geschafft, einige ihrer heute größten Probleme zu lösen. Der Klimawandel, die Armut ...

In der utopischen Welt ohne Kriege, in der Ilija Trojanows Roman „Tausend und ein Morgen“ spielt, hat die Menschheit es geschafft, einige ihrer heute größten Probleme zu lösen. Der Klimawandel, die Armut und der Hunger gehören dazu. Die Protagonistin Cya beendet gerade ihre Ausbildung zur Chronautin, einer Berufsgruppe, die in die Vergangenheit zu Zeitpunkten reist, von denen sie sich erhoffen, dass sie dort eine kleine Änderung vornehmen können, die dann zu mehr Friedlichkeit führt. Eine Einmischung in den Handlungsablauf ist nicht einfach und scheitert öfters als erwünscht. Folgen durch die Änderung für ihre eigene Welt befürchten die Chronautin nicht, weil sich das Universum sowieso unentwegt verzweigt. Darauf nimmt der Titel Bezug, der auf die vielen Möglichkeiten hinweisen möchte, die der Menschheit zur Verfügung stehen, ein Leben zu gestalten und dabei sein Potential einzusetzen.

Bei der Zeitreise ist die Begleitung durch eine künstliche Intelligenz sinnvoll. Ilija Trojanow nutzt sie dazu, um Cya Erklärungshilfen in einer ihr weitgehend unbekannten Umgebung zu geben und dadurch auch dem Lesenden. Die KI entwickelt sich aufgrund des zugewonnenen Wissens weiter, was aber zu der Gefahr führt, dass ihr Algorithmus zusammenbricht. Auch ein Buddy steht jedem Chronistin zur Seite. Außerdem ist die Reisezeit beschränkt. Dabei hat Cya anfangs das Problem, sich der Situation von Anwesenden im Damalsdort, wie sie die Vergangenheit nennen, unbemerkt zu entziehen, um in ihre Gegenwart zurückzukehren. Obwohl die Chronistin bei ihren Reisen über körperliches Empfinden und Gefühle verfügt, stirbt sie bei einem dabei eintretenden Tod nicht in ihrer utopischen Welt. Durch die Erfahrungen können sich die Eindrücke verändern. Bisher waren Chronistin nicht so erfolgreich wie gewünscht, aber sie machen Fortschritte.

Ihre Raumzeitreisen führen Cya ins 18. Jahrhundert zu Piraten in der Karibik, in unserer Gegenwart nach Indien zu religiösen Fanatikern, ins Jahr 1984 zu den Olympischen Spielen und schließlich in die Zeit der russischen Revolution. Derweil kommt es auch in der utopischen Gegenwart zu Konflikten. Es steht die Frage im Raum, was passiert, wenn Jemand durch die Einwirkung eines anderen stirbt. Ebenso zeigt der Autorbeispielhaft einen möglichen Umgang der zukünftigen Gesellschaft mit einem Andersdenkenden.

Ilija Trojanow spielt in seinem Buch mit der Präsentation des Geschriebenen. Allgemeine Handlungsabläufe sind im Blocksatz gedruckt. Die reichlichen Dialoge sind linksbündig gesetzt, wenn sie in der Zukunft geführt werden, solche im Damalsdort sind rechtsbündig und die Hinweise der Künstlichen Intelligenz immer kursiv. Übergänge werden mit einer fettgedruckten Phrase angedeutet. Ich gebe zu, dass der Schriftsatz auf mich auf den ersten Blick einen ansprechenden Eindruck machte. Zu Beginn des Lesens war ich kurz irritiert, aber eine Orientierung mit Zuordnung gelang mit nach wenigen Seiten.

Der Autor taucht in die verschiedenen Gesellschaften der Vergangenheit tief ein. Cya betritt bei jeder Reise eine unbekannte Situation. Durch ihre Beschreibungen konnte ich mich als Leserin gut einfinden. Die Dialoge kommen in der Regel ohne zusätzliche Ergänzungen von Bewegung und Lautmalerei aus. Neue Figuren stellen sich dabei meist selbst vor und erzählen aus ihrem Leben. Ilija Trojanow lässt die Personen mit unerschöpflichen Aspekten von einer Welt voller Missständen, Gewalt und Machtansprüchen erzählen. Die Freude an der Formulierung ist den geschilderten Geschehnissen anzumerken. Für die Protagonistin ist es nicht einfach, als friedfertiger Mensch in einer raubeinigen oder oft barbarischen Umgebung authentisch zu erscheinen und nicht aufzufallen. Auch wenn ihr dabei die künstliche Intelligenz zur Seite steht, muss sie immer bedenken, dass diese nur ihre Aufgaben zu erfüllen hat und ihr nicht gefühlsmäßig nahe rücken darf. Jede Zeit, in die der Autor den Lesenden eintauchen lässt, hat Themen, die er mühelos am Rande ausformuliert, darüber sinniert und dadurch zum Nachdenken anregt.

Im Roman „Tausend und ein Morgen“ führt Ilija Trojanow uns vor Augen, dass unsere Welt von uns gemacht wird. Jede unserer Entscheidungen läuft auf weitreichende Folgen hinaus, nicht nur für uns, sondern auch für andere. Allerdings moralisiert er nicht, sondern stößt beim Lesenden manchen Gedankengang an mit der Frage, was denn wäre, wenn anders entschieden und gehandelt würde. Ich bin der Chronistin gerne auf ihren Wegen gefolgt. Das Buch ist für Lesende geeignet, die fantastische Ausflüge und grenzüberschreitendes Schreiben mögen.

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