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Veröffentlicht am 20.12.2017

Geschickt gesetzte Geheimnisse, die früh angedeutet und spät aufgedeckt werden

The Child
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Im zweiten Thriller von Fiona Barton mit dem Titel „The Child“ begegnete ich alten Bekannten wieder. Wie in ihrem Debüt wird erneut die Journalistin Kate Waters von der Daily Post in den vorliegenden Fall ...

Im zweiten Thriller von Fiona Barton mit dem Titel „The Child“ begegnete ich alten Bekannten wieder. Wie in ihrem Debüt wird erneut die Journalistin Kate Waters von der Daily Post in den vorliegenden Fall involviert und Detective Bob Sparkes bildet einen ihrer wertvollen Kontakte zur Kriminalpolizei. Die jetzige Geschichte spielt zwei Jahre später nach den Ereignissen des ersten Buchs, bedarf aber nicht dessen Vorkenntnis.

Es ist eine Meldung im Abendblatt der Konkurrenz durch die Kate darauf aufmerksam wird, dass eine Babyleiche auf einer Baustelle gefunden wurde. Entsprechend ihrer Gewohnheit reißt sie sich den Artikel aus und legt sie zu den anderen in ihre Tasche, die ebenfalls darauf warten, weiter verfolgt zu werden. Der Ausschnitt eines Zeitungsberichts auf dem Cover, verfasst von Kate Waters, ließ mich bereits ahnen, dass die Recherche der Protagonistin weitere Fakten ans Tageslicht bringen wird. Auch der Untertitel des Buchs „Du kannst die Vergangenheit begraben, aber die Wahrheit lebt weiter“ unterstützte meine Vermutung.

Nicht nur Kate wird auf den Bericht über den Leichenfund aufmerksam. Emma Simmonds, 42 Jahre, arbeitet von zu Hause aus als Textkorrektorin. Sie findet den Artikel in der Zeitung, die ihr Ehemann Paul aus der U-Bahn mit nach Hause gebracht hat. Sie leidet seit Jahren an einer psychischen Krankheit. Die Meldung ruft bei ihr eine panikartige Reaktion hervor. Am gleichen Tag trauert Angela Irving wieder einmal um ihre vor über 40 Jahren als Neugeborenes verschwundene Tochter Alice. Die frühere Krankenschwester ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder, doch der Geburtstag ihrer Tochter lässt wieder die Hoffnungslosigkeit aufleben, Alice jemals wiederzusehen. Erst vier Tage später liest sie den inzwischen von Kate verfassten Artikel zum Thema, mit der Frage als Überschrift, wer denn das Baby sein könnte.

Die Geschichte wechselt zwischen verschiedenen Charakteren, vor allem den bereits vorgenannten. Vom ersten Kapitel an ist klar, dass der Zeitungsbericht Emma sehr tief trifft. Bewusst lässt Fiona Barton sie in der Ich-Form erzählen. Dadurch kam ihr Erschrecken über den Fund mir sehr nah. Wie sich herausstellt hat nicht nur sie ein Geheimnis, dass man zu ahnen beginnt, aber erst nahezu zum Schluss aufgeklärt wird, sondern auch ihre Mutter Jude trägt ein belastendes Ereignis mit sich. Als Leser erfuhr ich so mit und mit wie es in der Jugend von Emma zum Zerwürfnis mit Jude kam und erst sehr viel später wieder eine Annäherung der beiden erfolgte. Während Emma kaum ein gesellschaftliches Leben hat und bei ihrem deutlich älteren Mann Unterstützung und Geborgenheit findet, ist ihre Mutter seit jeher sehr selbstbewusst. Sie war Anwältin und kämpft nicht nur für ihre Klienten, sondern auch für ihre eigenen Rechte auf ein angenehmes Leben an der Seite eines attraktiven Mannes und mit eigenen Kindern. Nicht alle ihre Wünsche sind in Erfüllung gegangen und so ist sie leicht verbittert ob der unerreichten Ziele. Einen großen Teil der Schuld daran schreibt sie Emma zu.

Nicht nur Jude reflektiert ihre Rolle als Mutter, sondern auch Angela, denn ihre beiden Kinder haben stets an der Seite des Schattens des verschwundenen Geschwisters gelebt. Angela hat es nie geschafft, die wiederkehrende Lethargie abzustreifen. Ebenso hat Kate Waters Schuldgefühle und fragt sich als Mutter, was sie falsch gemacht hat, denn einer ihrer erwachsenen Söhne spricht von einer Zukunft mit der seine Eltern nicht einverstanden sind.

Wie bereits im Debüt von Fiona Barton habe ich auch diesmal durch Kate Waters etwas über investigativen Journalismus erfahren. Von Anfang an baut die Autorin Spannung auf durch geschickt gesetzte Geheimnisse, die früh angedeutet und erst spät aufgedeckt werden. Glaubte ich mich der Lösung bereits nahe, entdeckte ich eine zeitliche Unlogik, die natürlich auch Kate nicht verborgen blieb. An manchen Stellen spielt die Autorin mit dem äußeren Schein und sorgt für überraschende Wendungen. Ihre Charaktere sind sehr gut ausformuliert. Sie zeigen nachvollziehbare Gefühle und tragen Verantwortung für ihr Tun.

„The Child“ konnte mich noch mehr fesseln als das erste Buch von Fiona Barton. Das Buch ist nicht als Thriller ausgewiesen. Obwohl mit dem Fund der Knochen ein lange zurück liegendes Verbrechen aufzuklären ist, ist die Erzählung aufgrund seiner Vielschichtigkeit mehr als ein Krimi mit anhaltender Spannung. Gerne vergebe ich eine Leseempfehlung.

Veröffentlicht am 06.12.2017

Ein gut verborgener Täter und eine geschickte Konstruktion

Bald stirbst auch du
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Erst auf den zweiten Blick ist mir der Blutstropfen am Ast mit den spitzen Trieben aufgefallen, der auf dem Cover des Thrillers „Bald stirbst auch du“ von Karen Sander aka Sabine Klewe zu finden ist. Blutig ...

Erst auf den zweiten Blick ist mir der Blutstropfen am Ast mit den spitzen Trieben aufgefallen, der auf dem Cover des Thrillers „Bald stirbst auch du“ von Karen Sander aka Sabine Klewe zu finden ist. Blutig wird es auch bei den Ermittlungen in diesem vierten Band der Serie, in der ein Team rund um den Düsseldorfer Kommissar Georg Stadler mit der Hilfe der in der Nähe von Liverpool/England ansässigen Psychologin Liz Montario Kriminalfälle aufklärt. Die Kenntnis der ersten drei Teile ist nicht notwendig um der Handlung folgen zu können. Der Titel suggerierte mir noch vor dem Lesen des Krimis, dass im vorliegenden Fall nach einem Serienmörder gesucht werden wird, denn er deutet auf einen weiteren Mord hin.

Liz Montario hält einen Workshop an der Universität Liverpool, an der acht junge Polizisten verschiedener europäischer Länder teilnehmen. Jeder Teilnehmer soll einen Cold Case, also einen Fall der nie aufgeklärt wurde, vorstellen und das Team wird die Aktenlage analysieren und nach neuen Ermittlungsansätzen dazu suchen. Zoe aus Düsseldorf ist die Zweite, die ihren Fall präsentiert. Innerhalb von zweieinhalb Jahren wurden zwei junge Frauen, die eine in Schottland, die andere in Südengland auf ähnliche Weise getötet und in der Nähe von Wasser regelrecht drapiert. Bereits vor mehr als zehn Jahren geschah ein Mord, der damit vergleichbar war und dessen Täter immer noch in Haft sitzt. Unterdessen wird in Neuss-Reuschenberg am Ufer der Erft eine Frauenleiche aufgefunden. Das Team von Georg Stadler nimmt die Ermittlungen auf, während Liz und Zoe einer Spur nach Schweden folgen, die im Zusammenhang mit dem Cold Case stehen könnte. Bis schließlich die Ähnlichkeit zum aktuellen Fall in Neuss auffällt …

Georg Stadler, seine Teamkollegen Birgit und Miguel sowie Liz Montario sind als Ermittler Charaktere, die auch ein Privatleben haben dürfen. Dadurch sind sie aber auch von dieser Seite her verletzbar. Freundschaften bestehen untereinander. Persönliche Gefühle werden nicht zu Hause gelassen, sondern auch mit an den Arbeitsort gebracht. Das lässt die Geschichte real wirken.

Wieder gelingt Karen Sander mit diesem Buch ein fein komponierter Thriller. Die Art der Morde ist ungewöhnlich. Der Spannungsbogen hält dadurch an, dass Liz und das Düsseldorfer Team einen Zusammenhang zwischen den aktuellen Morden und den vergangenen zunächst nicht erkennen. Als Leser hatte ich durch die chronologische Erzählung einen Vorteil.

Auf der Suche nach dem Mörder legt die Autorin geschickt einige Finten aus. Unerwartete Wendungen zeigten mir, dass meine Vermutungen ins Leere liefen. Der Täter versucht am Tatort den Ermittlern etwas mitzuteilen bis gemäß dem Titel deutlich wird, das die Zeit drängt, weil sonst ein weiteres Verbrechen geschehen wird. Die meist kurzen Kapitel sind oft mit einem Ortswechsel verbunden und enden häufig mit einem kleinen Cliffhanger.

„Bald stirbst auch du“ ist vom Anfang bis zum Ende spannend bedingt durch einen gut verborgenen Täter und eine geschickte Konstruktion der Fallermittlungen. Für Thrillerleser eine unbedingte Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 29.11.2017

Ungewöhnlicher Roman - berührend, ergreifend und in Eeinnerung bleibend

Die Farbe von Milch
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„Die Farbe von Milch“ hat das Haar der fünfzehnjährigen Protagonistin Mary im gleichnamigen Buch der Engländerin Nell Leyshon. Marys Lebensweg ist bisher so stachelig und dornig wie die auf dem Cover abgebildeten ...

„Die Farbe von Milch“ hat das Haar der fünfzehnjährigen Protagonistin Mary im gleichnamigen Buch der Engländerin Nell Leyshon. Marys Lebensweg ist bisher so stachelig und dornig wie die auf dem Cover abgebildeten Gewächse darunter Disteln, Ilex und Himbeere. Sie kam als vierte von vier Geschwistern, alles Mädchen, mit einer Behinderung am Bein zur Welt und wächst in bäuerlichen Verhältnissen auf einem kleinen Hof auf. Schon früh müssen die Kinder dem Vater zur Hand gehen, da das Geld nicht für einen Knecht oder eine Magd ausreicht. Wie es dazu kam, dass sie von dieser aussichtslosen Situation heraus dennoch Lesen und Schreiben lernte, davon erzählt dieser Roman.

Es ist das Jahr 1831 als Mary, wie von ihr betont, selber ihre Geschichte aufschreibt. Sie beginnt am Anfang, für sie nicht zwingend aber sinnvoll, und der ist ungefähr ein Jahr her. Die zurückliegenden Ereignisse unterteilt sie in die vier Jahreszeiten, die gleichzeitig die Kapitel im Buch bilden. Bereits auf der ersten Seite spürte ich einen gewissen Zeitdruck unter dem sie schreibt, denn sie mahnt sich selbst zur Geduld. Unterschwellig wurde dadurch meine Neugier geweckt, was sie dazu drängt, sich zu beeilen.

Das Leben auf dem Land ist im 19. Jahrhundert hart, die meisten Tätigkeiten erfordern Muskelkraft. Entscheidungen trifft ausschließlich der Hofbesitzer und das ist Marys Vater. Ihm haben auch seine Frau, seine Kinder und sein kranker Vater zu gehorchen. Arbeiten, beten und schlafen ist der Alltag. Fatalistisch erledigt Mary ihre Arbeit, ohne sich je ein anderes Dasein zu erhoffen. Trotzdem hebt sie sich von anderen Schicksalsgenossen dadurch ab, dass sie immer ihre Meinung äußert, so schmerzlich sie für manch einen auch sein mag. Ihr Verstand ist hellwach und ob bewusst oder nicht, so gelingt es ihr manchmal mit Bauernschläue ihren eigenen Wille durchzusetzen.

Nell Leyshon nutzt für ihren Roman eine besondere, eine einfache Sprache ungeachtet der Interpunktion, die den Lernstand der 15-jährigen widerspiegelt. Marys Geschichte ist auf das Wesentliche beschränkt, abhängig von der Zeit die ihr zum Schreiben bleibt, und gerade dadurch so eindringlich. „Die Farbe von Milch“ ist ein ungewöhnlicher Roman, der das gewöhnliche Los von Frauen auf dem Land in der damaligen Zeit darstellt. Berührend, ergreifend, in Erinnerung bleibend und eine klare Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 21.11.2017

Erschütternd, berührend und gleichzeitig faszinierend

Schloss aus Glas (Filmausgabe)
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Im Roman „Schloss aus Glas“ schildert die US-Amerikanerin Jeannette Walls ihre Lebensgeschichte. Zig-mal sind ihre Eltern mit den Geschwistern in deren Kindheit und Jugend innerhalb der USA umgezogen. ...

Im Roman „Schloss aus Glas“ schildert die US-Amerikanerin Jeannette Walls ihre Lebensgeschichte. Zig-mal sind ihre Eltern mit den Geschwistern in deren Kindheit und Jugend innerhalb der USA umgezogen. Der Traum des Vaters der Autorin ist es, ein Schloss aus Glas zu bauen, umfangreiche Pläne dazu arbeitet er im Laufe der Jahre aus. Doch stattdessen übernachtet die Familie sogar zunächst gelegentlich unter freiem Himmel oder im Pkw, später meistens in irgendwelchen Bruchbuden. Jedes Mal, wenn die Verwahrlosung der Kinder auffällt und das Sozialamt auf die Familie aufmerksam wird oder der Vater Ärger mit Arbeit und Kumpel hat, packt die Familie kurzfristig ihre wenigen Habseligkeiten und sucht sich einen neuen Aufenthaltsort. Je älter Jeannette und ihre Geschwister werden desto deutlicher wird ihnen, dass sie sich von der Familie lösen müssen, um der Armut zu entkommen und ihren eigenen Zielen nachzugehen. Es kristallisiert sich immer mehr ein eigener Traum heraus: New York und er rückt in greifbare Nähe …

Jeannette Walls schildert ihre Lebensgeschichte ohne Mitleid schüren zu wollen. Sie ist 1960 geboren worden. Ihre Eltern sind Freigeister, ihre Mutter ist Lehrerin, betrachtet sich aber als Künstlerin im Bereich Kunst und Schriftstellerei, die jedoch für ihre Werke keine Käufer findet. Der Vater ist ebenfalls intelligent, verfällt aber immer mehr dem Alkohol und vertritt vehement seine Meinung. Immer wieder denken sich die Eltern ungewöhnliche Spiele und Aktionen aus, die die Kinder zu schätzen wissen und glücklich dabei sind. Doch die Familie lebt von der Hand in den Mund. Beide Elternteile sind sehr kreativ wenn es darum geht ihren Kindern nicht nur die Welt, sondern auch ihre Lebenssituation zu erklären. Laissez-faire ist angesagt.

Ich habe beim Lesen manches Mal im Stillen meinen Kopf geschüttelt, denn es ist oft kaum zu glauben, wie schwierig der Kampf ums Essen für die Kinder war, weil die Eltern ihre eignen Ansprüche stellten. Probleme gab es natürlich auch damit, Freunde zu finden. Denn die Geschwister galten als „Schmuddelkinder“, weil es meistens an Wasser zum Waschen fehlte und am Strom zum Heizen. Vorwürfe der Autorin gegen ihre Eltern fehlen weitestgehend, weil beide Eltern psychisch krank sind beziehungsweise waren. Das Handeln der Eltern ist daher kaum nachvollbar. Jeannette Walls sieht gute Seiten in dem Abenteuer, von einem Ort zum nächsten zu ziehen, ebenso wie die Nachteile einer alltäglichen Routine. Es bestand immer ein großer Familienzusammenhang vor allem bei den Geschwistern, deren größte Sorge es war, in unterschiedlichen Pflegefamilien untergebracht zu werden, wenn sie von der Fürsorge aufgegriffen würden. Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft haben die Geschwister nie aufgegeben.

Die Geschichte ist erschütternd und berührend und fasziniert doch gleichzeitig durch die ungewöhnliche Lebensweise. Der Roman wird mir noch lange im Gedächtnis bleiben. „Schloss aus Glas“ ist ein Buch, das ich jedem zum Lesen empfehle, der an tragischen Lebensgeschichten interessiert ist.

Veröffentlicht am 16.11.2017

Familiengeschichte mit komplexem Tiefgang

Ein Mensch brennt
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Die titelgebende Figur des Romans „Ein Mensch brennt“ ist die historische Person Hartmut Gründler. Er hat sich am 16. November 1977 aus Protest gegen die Atompolitik der damaligen Regierung mit Benzin ...

Die titelgebende Figur des Romans „Ein Mensch brennt“ ist die historische Person Hartmut Gründler. Er hat sich am 16. November 1977 aus Protest gegen die Atompolitik der damaligen Regierung mit Benzin übergossen und angezündet und starb fünf Tage später im Krankenhaus an den Folgen seiner Verletzungen. Erzählt wird die Geschichte von der fiktiven Figur des Hanno Kelsterbach. Als Hartmut Gründler 1975 ins Souterrain des Familienheims zieht, steht Hanno gerade kurz vor seinem achten Geburtstag. Durch die Augen dieses Kinds schildert der erwachsene Hanno die Haupthandlung in Rückblicken auf die Ereignisse in den 1970ern. Entsprechend gestaltet ist das Cover mit dem Seitenprofil eines Jungen, der interessiert in die Welt blickt, die er sich erst noch erschließen muss.

Der Roman beginnt im Jahr 2011 in der Zeit nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima. Inzwischen sind mehr als 33 Jahre vergangen seitdem sich Hartmut Gründler selbst angezündet hat. Hannos Mutter ist seit dieser Zeit überzeugte Umweltaktivistin und ein großer Anhänger der Ideen von Gründler. Hanno teilt deren Ansichten nicht, erinnert sich aber mit Bedenken an die Zeit als Gründler in die Kellerwohnung eingezogen ist und damit eine Veränderung im Wesen seiner Mutter begann. Er denkt zurück an den Kampf gegen die Atompolitik der Gruppe Lebensschutz, die Gründler ins Leben gerufen hat, und seine eigene Einbindung in die Aktivitäten durch das Engagement seiner Mutter in der Gruppe. Gleichzeitig versucht er durch den Rückblick besser zu begreifen, ob die schillernde Figur des Umweltaktivisten Anteil am Ende der Ehe seiner Eltern hatte.

Da auch ich in den 1970er Kind war, konnte ich die Agitation Hannos in dieser Zeit sehr gut nachvollziehen, sein Handeln auf Anweisung der Eltern, seine Freude am Hobby Fußball und gemeinsame Unternehmen mit der Familie. Ansonsten beobachtet man als Kind, hat seine Gedanken dazu, die viele Fragen aufwerfen, die man aber nicht abschließend formuliert oder sich nicht zu fragen traut, weil Kinder nicht alles wissen sollen. Die Sichtweise des Kinds bringt einen Anflug von Leichtigkeit in den Roman. Entsprechend der damals gängigen Vorstellung einer guten Ehe sorgte seine Mutter Martha sich ausschließlich um Haushalt und Kind. Der gemeinsame Kampf für die gute Sache gibt Martha die Möglichkeit im Engagement eine Art Befriedigung ihres Strebens nach Selbstbehauptung zu finden. Das Verständnis für die Ansicht seines Vaters als Familienoberhaupt und Versorger auf die Aktivitäten seiner Frau, das zum Zerwürfnis seiner Eltern führte, begreift Hanno erst später.

Beim Lesen habe ich manchmal vergessen, dass zwar Hartmut Gründlers wie auch mehrere andere Personen historisch verbürgt sind, die Geschichte aber an sich fiktiv ist. Geschickt wählt der Autor einen Protagonisten, der nur wenig jünger ist als er selbst, so dass er in seiner Wortwahl auf seine eigenen Erinnerungen zurückgreifen kann. Der Kontakt zu einem Mitstreiter Gründlers hat die Figur von Hannos Mutter nicht nur deutlich geprägt, sondern sie dadurch auch lebendig gemacht. Die Darstellung ist wirklichkeitsnah und nachvollziehbar.

Der erwachsene Protagonist wirft auch moralische Fragen auf. Beispielweise stellt er seine Rolle als Mitkämpfer im kindlichen Alter auf den Prüfstand. Hartmut Gründler war ein kompromissloser Idealist, der gewaltlosen Widerstand für die gemeinsame Sache forderte. Nicol Ljubic geht im Roman der Frage nach, wie viel man zu opfern bereit ist, um einer Idee zu folgen, bei der der Einzelne nichts zählt und allein dem Gemeinwohl dient.

„Ein Mensch brennt“ ist eine Familiengeschichte mit komplexem Tiefgang, die zwar als Hintergrund den Kampf gegen die Atomkraft in der Vergangenheit beinhaltet, aber gerade hier im Westen trotz des voraussichtlichen Endes der Atomenergie in Deutschland in Anbetracht des störanfälligen Kernkraftwerks Tihange/Belgien aktuell ist. Der Autor hat mit seinem Buch an ein verstörendes Ereignis erinnert, das uns beispielhaft den Kampf eines David in der Einzelperson des Hartmut Gründler gegen die mächtige Macht einer Bundesregierung als Goliath vor Augen führt. Die Geschichte bleibt in Erinnerung und ich empfehle sie gerne weiter, vor allem an Leser, die an geschichtlichen Ereignissen der jüngeren Vergangenheit interessiert sind.