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Veröffentlicht am 01.06.2020

Gefühlvoll und bewegend geschriebener Roman mit einigen unvorhergesehenen Wendungen

Denn das Leben ist eine Reise
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An der Seite der 36-jährigen Protagonistin Aimeé Thaler machte ich mich im Roman „Denn das Leben ist eine Reise“ im roten VW-Bus auf den Weg nach St. Ives in Cornwall/England. Nach einem einschneidenden ...

An der Seite der 36-jährigen Protagonistin Aimeé Thaler machte ich mich im Roman „Denn das Leben ist eine Reise“ im roten VW-Bus auf den Weg nach St. Ives in Cornwall/England. Nach einem einschneidenden Erlebnis bei dem ihr Vertrauen in ihren Ehemann Per endgültig zerstört wird, wagt Aimeé das Risiko, in ihrer Heimat in Deutschland alles aufzugeben, um mit ihrem Sohn in eine unbekannte Zukunft zu flüchten. Der Titel des Romans verdeutlicht, dass in jeder Phase unseres Lebens bestimmte Entwicklungen möglich sind, vor denen wir nicht zurückschrecken, sondern sie annehmen sollten.

So locker beschwingt wie die farbliche Gestaltung des Covers mit den Sporen des Löwenzahns auf mich wirkte, konnte ich die Stimmung nicht in der Geschichte wiederfinden, denn Aimeé hat mit einigen Schwierigkeiten zu kämpfen, die für eine melancholischen Hintergrund sorgten. Wie eine Spore der Willkür des Windes ausgesetzt ist, so fühlt sich Aimeé manchmal aufgrund emotionaler Bindungen als Spielball von diversen Familienmitgliedern, Freunden und Bekannten. Sie schafft es nicht, sich einfach davon zu befreien, dazu ist einiges an psychischer Stärke nötig, die sie häufig nicht aufbringen kann. Im Laufe der Erzählung zeigt sich, ob Aimeé die Kraft findet, ihr Leben nach ihren Vorstellungen zu leben.

Aimeé hat ihr Kindheit und Jugend im Wohnmobil mit ihrer Mutter in einer Trödlerkommune verbracht. Ihren Vater hat sie nie kennengelernt. Inzwischen ist sie Mitte Dreißig, hat mit ihrem Lebenspartner einen sechsjährigen Sohn und führt als Selbständige Möbelrestaurationen durch. Als es zum Bruch kommt, beschließt sie mit ihrem alten VW-Bus, der in einer Garage einige Jahre überdauert hat, nach St. Ives zu fahren, um an der Beerdigung einer alten Kommunenfreundin teilzunehmen, mit deren Sohn sie zeitweilig mehr als freundschaftliche Bande geteilt hat. In Cornwall möchte sie bleiben, doch der Anfang gestaltet sich schwierig, denn St. Ives ist eine touristische Hochburg, die bezahlbaren Unterkünfte sind knapp und Jobs gibt es fast nur im Sommer, wenn die Touristen vor Ort sind.

Vor jedem Kapitel, dass in der Jetztzeit spielt, erzählt Hanna Miller einen Gedanken Aimeés an jeweils eine Szene, die auf gewisse Weise einen Schatz für die Protagonisten beinhaltet, an den sie sich gerne erinnert. Während sich die Geschichte in der Gegenwart stringent über die Monate weiterentwickelt, blickt Aimeé immer wieder zu bestimmten wichtigen Punkten in ihrem Leben zurück. Dadurch erfuhr ich einiges mehr über das Verhältnis zu ihrer Mutter Marilou und ihre Beziehung zu ihrem Kindheitsfreund und Jugendliebe Daniel. Beides war angefüllt mit schönen Erinnerungen, aber auch überschattet von hässlichen Ereignissen.

Als sie ihren Partner Per kennenlernte bot dieser ihr ein Leben in einem schönen Haus ohne Sorgen ums Geld. Aber Aimeé musste erst durch viele Täler gehen, um zu erkennen, dass eine gesicherte Existenz nicht alles ist, was man für erstrebenswert halten kann. Ein wenig war ich darüber enttäuscht, dass ihre Suche nach einem geeigneten Platz für ein neues Zuhause schon nach kurzer Zeit in St. Ives endete. Dafür verfolgte ich umso gespannter, ob sie hier tatsächlich eine Möglichkeit finden wird, eine Zukunft zu gestalten.

„Denn das Leben ist eine Reise“ von Hanna Miller ist ein gefühlvoll und bewegend geschriebener Roman mit einigen unvorhergesehenen Wendungen. Trotz der ständigen Sorgen um die von ihr geliebten Menschen, die die Protagonistin begleiten und für eine melancholische Hintergrundstimmung sorgen, wurde ich gut von der Geschichte unterhalten. Daher vergebe ich gerne eine Lesempfehlung.

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Veröffentlicht am 18.05.2020

Heitere Szenen trotz traurigem Hintergrund

Pandatage
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Im Roman „Pandatage“ schildert der Engländer James Gould-Bourn die besondere Beziehung von Danny Maloony zu seinem 11-Jährigen Sohn Will, die aufgrund einer Familientragödie entstanden ist. Um der prekären ...

Im Roman „Pandatage“ schildert der Engländer James Gould-Bourn die besondere Beziehung von Danny Maloony zu seinem 11-Jährigen Sohn Will, die aufgrund einer Familientragödie entstanden ist. Um der prekären Situation zu entkommen, in der er sich gerade befindet, hat Danny eine Idee. Er kauft ein Pandakostüm für sich, um damit öffentlich aufzutreten. Aber statt damit eine Lösung seiner bisherigen Probleme zu erreichen, warten ganz neue auf ihn. „Pandatage“ in der Maskerade verändern Danny nach außen hin zwar im Aussehen, doch seine Gefühle hält er für andere verborgen.

Will saß bei dem tragischen Verkehrsunfall vor einem Jahr, bei dem seine Mutter Liz starb, mit im Auto. Seitdem spricht er mit niemandem mehr. In der Schule wird er von den anderen Schülern gemoppt, nur sein bester Freund Mo steht ihm zur Seite. Sein Vater ist als ungelernter Arbeiter auf dem Bau beschäftigt. Es ist nicht leicht für Danny, seinen Job, den Haushalt und die Betreuung seines Kindes unter einen Hut zu bringen. Von den Schwierigkeiten seines Sohns in der Schule bekommt er wenig mit. Aufgrund seines mehrfachen Zuspätkommens verliert er seine Arbeit, die Rechnungen häufen sich und sein Vermieter droht ihm drastische Maßnahmen bei Mietverzug an. Als Tanzbär Geld zu verdienen, hat er sich leichter vorgestellt, denn im Gegensatz zu Liz hat er überhaupt kein Talent zum Tanzen und bisher auch kein Interesse daran gezeigt. Nur Tanzunterricht könnte ihm jetzt weiterhelfen. Vor Will möchte er unbedingt sein neues Engagement geheim halten.

Danny ist ein liebenswerter Charakter. Er stammt aus einfachen Verhältnissen. Von seinen Schwiegereltern fühlt er sich aufgrund seiner beruflichen Stellung nicht akzeptiert. Doch die Liebe zwischen Liz und ihm hat schon einige Klippen umschifft. Er hat sich immer wenig Sorgen um seine Zukunft gemacht. Aber nachdem er alle Kosten nur noch von seinem Gehalt bezahlen kann, sind seine finanziellen Belastungen hoch. Er ist davon ausgegangen, dass auf dem Arbeitsmarkt immer Arbeitswillige gesucht werden und steht plötzlich nach seiner Entlassung vor den Scherben seiner Existenz.

James Gould-Bourn entlockte mir trotz dramatischer Szenen immer wieder ein Lächeln durch geschickt gesetzten Wortwitz mancher Figuren. Auch wenn er teilweise zu Übertreibungen greift, die unglaubwürdig sind, so verteidigt er doch diese Linie mit dem engen Band zwischen Liz und Danny, das den Tod überdauert und an dem sein Protagonist festhält. Danny verliert nach dem Unfall aufgrund seiner eigenen tiefen Empfindungen, die er gegenüber Will geschickt überspielt, den Kummer seines Sohns aus den Augen und widmet sich ganz seiner Arbeit auf dem Bau, bei der er Abstand von Zuhause gewinnen kann. Der Arbeitsplatzverlust entzieht ihm die Möglichkeit sein Gedankenkarussell auszuschalten.

„Pandatage“ von James Gould-Bourn sorgt immer wieder für heitere Szenen trotz traurigem Hintergrund aus mehrfachem Anlass durch abwechslungsreich gezeichnete, eigenwillige Figuren mit manch schrägen Sprüchen und überspitzten Beschreibungen von Situationen. Er stellt dar, dass es verschiedene Wege zu trauern gibt. Für das Wohl eines Kindes reicht eine nur physische Anwesenheit nicht aus, sondern es ist notwendig auch dessen Vertrauen zu erhalten und ihm im Gegenzug seines zu schenken. Gerne vergebe ich eine Leseempfehlung für den Roman.

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Veröffentlicht am 13.05.2020

Persönliche Coming-of-Age-Geschichte der Autorin

Wild Game
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Das Buch „Wild Game“ der US-Amerikanerin Adrienne Brodeur ist die wahre Geschichte der Beziehung zwischen der Autorin und ihrer Mutter Malabar. Der Untertitel „Meine Mutter, ihr Liebhaber und ich“ stellt ...

Das Buch „Wild Game“ der US-Amerikanerin Adrienne Brodeur ist die wahre Geschichte der Beziehung zwischen der Autorin und ihrer Mutter Malabar. Der Untertitel „Meine Mutter, ihr Liebhaber und ich“ stellt die Brisanz der Erzählung heraus, denn Adrienne Brodeur wurde unwillentlich zur Mitwisserin der langjährigen Affäre Malabars. Der Titel nimmt Bezug auf das Schreiben eines Kochbuchs über Wildgerichte, denn das Projekt bildet den Grund für Treffen zwischen den Liebenden ohne das ihre Liaison auffällt.

Ende der 1970er Jahre ist Adrienne, kurz Rennie gerufen, 14 Jahre alt. Jedes Jahr verbringt die Familie ihre Ferien im eigenen Ferienhaus auf Cape Code. Freunde sind hier herzlich willkommen, besonders häufig sind Ben, ein langjähriger Freund von Rennies Stiefvater Charles, und seine Frau Lily zu Gast. Nach einem feuchtfröhlichen Abend mit den Freunden wird Rennie mitten in der Nacht von ihrer Mutter geweckt, die ihr mitteilt, dass Ben sie geküsst hat. Anders als die Ich-Erzählerin erwartet, hat Malabar sich sehr über den Kuss gefreut. Es ist der Beginn eines leidenschaftlichen Liebesverhältnisses in dem Adrienne eine immer aktivere Rolle einnimmt, um ablenkende Situationen zu schaffen.

Anders als bei einem Roman steht die Realitätsnähe hier nicht in Frage. In einleitenden Worten informiert die Autorin darüber, dass die Geschichte ihre Ansicht der Ereignisse darstellt, die sie nicht nur aufgrund ihrer Erinnerungen, sondern auch anhand von Fotos, Aufzeichnungen und weiterer Fakten geschrieben hat. Sie schildert die heiteren Tage ihrer Mutter am Meer, die unterbrochen sind von den trüben Tagen im Alltag. Nicht nur Malabars Name ist ungewöhnlich, sondern auch ihre Vergangenheit. Rennies Mutter steht gern im Mittelpunkt. Ihre glänzenden Kochkünste geben ihr immer wieder kleine Erfolgserlebnisse, doch sowohl Malabar wie auch Ben sind an Ehepartner gebunden, die von Krankheit gezeichnet sind. Ihr Aktionsradius ist daher eingeschränkt, denn sie fühlt sich Charles verpflichtet. Gerne würde sie, die in Indien geborene und in ihrer Kindheit weit Gereiste, Abenteuer erleben und die Welt kennenlernen.

Die noch junge Adrienne hat widerstreitende Gefühle, wenn sie über die Affäre nachdenkt. Einerseits fühlt sie sich durch die Mitteilung des Geheimnisses geschmeichelt und hofft, dass sich dadurch eine besondere Nähe zu ihrer Mutter einstellt, andererseits sieht sie den Seitensprung als verwerflich an, weil ihr bewusst ist, dass das Bekanntwerden beide Ehen zerstören könnte. Sie nimmt die Einschränkungen wahr, die ihre Mutter hinnimmt und sie entscheidet sich dafür, ihr dabei zu helfen, Freiräume zu schaffen, damit Malabar ihre Gefühle ausleben kann. Doch je länger die geheime Beziehung anhält, desto deutlicher werden für Rennie die Auswirkungen auf ihr eigenes Leben durch ihre ständige Bereitschaft zur Organisation von Ablenkungsmanövern. Besonders schwierig wird die Frage, wie sie die Angelegenheit in ihre eigenen Partnerschaften einfließen lassen soll.

„Wild Games“ von Adrienne Brodeur ist die sehr persönliche Coming-of-Age-Geschichte der Autorin. Sie thematisiert nicht nur ihre besondere Beziehung zu ihrer egozentrischen Mutter, sondern vor allem deren jahrelang dauernde Liebesaffäre zum besten Freund des Stiefvaters, die nicht nur einen breiten Raum in ihrem eigenen Leben eingenommen, sondern es auch tiefgreifend beeinflusst hat. Zwar ist die Erzählung nicht einzigartig, zeigt aber auf vielfache Weise und bewegend auf, welche Abhängigkeiten und Einflüsse in einem Familienkonstrukt zum Tragen kommen können. Gerne vergebe ich eine Leseempfehlung.

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Veröffentlicht am 05.05.2020

Neuanfänge sind möglich, gebotene Chancen sollte man ergreifen

Unsere glücklichen Tage
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In ihrem Debütroman „Unsere glücklichen Tage“ schreibt Julia Holbe über die Freundschaft der vier jungen Frauen Elsa, Fanny, Marie und Lenica. Die drei erstgenannten stammen aus Luxemburg und verbringen ...

In ihrem Debütroman „Unsere glücklichen Tage“ schreibt Julia Holbe über die Freundschaft der vier jungen Frauen Elsa, Fanny, Marie und Lenica. Die drei erstgenannten stammen aus Luxemburg und verbringen jahrelang ihre Sommerferien im Ferienhaus von Elsas Eltern an der Atlantikküste der Bretagne. Lenica wohnt mit ihrer Familie vor Ort und hat sich mit den Frauen angefreundet. In einem heißen Sommer an der Küste bringt Lenica Sean mit, einen Freund seit vielen Jahren. Vom ersten Augenblick an fühlt Elsa sich von ihm magisch angezogen. Doch am Ende der Ferien ist plötzlich alles vorbei, der Kontakt der Frauen zueinander bricht abrupt ab. Etwa 30 Jahre später trifft Elsa Marie durch Zufall wieder. Beiden ist die Sehnsucht nach der gemeinsam verbrachten Zeit deutlich anzumerken und sie beschließen, die alte Gewohnheit wieder aufleben zu lassen.

Julia Holbe lässt von Beginn an keinen Zweifel daran, dass etwas Bedeutsames zum Schluss des Aufenthalts an der Küste geschehen sein muss, so dass die Freundinnen von weiteren Treffen und Telefonaten abgesehen haben. Daher war ich zunächst etwas verwundert über die Freude des Wiedersehens von Elsa mit Marie. Schnell wurde deutlich, dass man schon deswegen nicht an die Vergangenheit anknüpfen konnte, weil Lenica inzwischen verstorben ist. Mir wurde aber auch bewusst, dass der Grund für das jahrelange Schweigen umso tragischer sein musste, denn Elsa war nicht einmal bei der Beerdigung ihrer Jugendfreundin, obwohl sie davon erfahren hatte.

Der Roman spielt in der Gegenwart, die Freundinnen sind inzwischen etwa 50 Jahre alt und stehen mitten im Leben mit all seinen Höhen und Tiefen. Fanny hat den Buchhandel ihrer Mutter übernommen, Marie ist Neurologin und Elsa Lehrerin. Die damaligen Erlebnisse sind scheinbar in Vergessenheit geraten. Die jungen Frauen haben sich weiterentwickelt, ihre eigenen Leben an der Seite anderer Personen gelebt und keine von ihnen möchte wieder in die frühere Rolle schlüpfen: Marie, die Unbeschwerte und Streitlustige, Fanny, die zurückhaltend und für ihre Kochkünste bekannt ist und die unternehmenslustige und sensible Elsa. Obwohl kein Zorn spürbar ist, gehen die Erinnerungen von Elsa, die als Ich-Erzählerin fungiert, oft zurück zu dem Bruch der Freundschaft, der über allem mit der Frage nach dem Warum bis fast zum Ende der Geschichte im Raum steht.

Wer selbst schon einmal den Sommer am Atlantik verbracht hat, wird sich gerne anhand der Schilderungen wieder dahin mitnehmen lassen. Die Sonne brennt, die Luft flirrt, das Wasser wartet kühlend auf den Schwimmer und über allem liegt eine Sehnsucht nach Nähe, Berührungen und Genießen der gemeinsamen Zeit. Nur die Schönheit der ungetrübten Tage möchte man erinnern. Doch Julia Holbe zeigt auf bewegende Weise, dass man seine Vergangenheit nicht beschönigen kann und sie für die Freundinnen auch verbunden ist mit Neid und Eifersucht, mit verletzenden Geheimnissen und Vertrauensbruch. Elsas Beziehung zu Sean wird erst im Laufe der Zeit verständlich, die Schilderungen der gemeinsamen Aktivitäten der beiden führen im mittleren Teil leider zu einigen Längen.

Julia Holbe schildert in ihrem Roman „Unsere glücklichen Tage“ die enge Freundschaft von vier jungen Frauen, die am Ende eines heißen Sommers plötzlich endet. Obwohl die Erinnerung verblasst, bleibt ein Schatten, der darauf wartet, an die rechte Stelle gerückt zu werden. Die Autorin zeigt, dass Neuanfänge möglich sind und macht Mut, gebotene Chancen aufzugreifen. Gerne empfehle ich den Roman weiter.

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Veröffentlicht am 27.04.2020

Die Wahrheit zu finden ist schwierig, aber faszinierend

Die Wahrheit ist
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Seinen Roman „Die Wahrheit ist“ hat der israelische Autor Eshkol Nevo auf eine besondere Weise gestaltet. Er setzt sich zusammen aus den Antworten, die ein Alter Ego des Schriftstellers als fiktiver Ich-Erzähler ...

Seinen Roman „Die Wahrheit ist“ hat der israelische Autor Eshkol Nevo auf eine besondere Weise gestaltet. Er setzt sich zusammen aus den Antworten, die ein Alter Ego des Schriftstellers als fiktiver Ich-Erzähler auf über hundert Fragen gibt, die ein Onlineredakteur aus einer Reihe von Fragen der User ausgewählt hat. Der Ich-Erzähler vermutet, dass es sein letztes Interview sein wird, denn er rechnet mit einem Herzinfarkt in den nächsten zwei Jahren, wobei seine Befürchtung auf seinen familiären Erfahrungen beruht.

Momentan schreibt er an keinem neuen Roman, weil es noch kein Jahr her ist, dass sein letztes Buch erschienen ist und er in der Zeit nach der Veröffentlichung immer besonders offen dafür ist, sich neu zu verlieben. Bereits nach dieser Aussage auf einer der ersten Seiten, stellte ich in Frage, ob der Erzähler sich tatsächlich an sein Versprechen dem Leser gegenüber hält, die Antworten der Wahrheit entsprechend zu geben, so wie es auch der Buchtitel andeutet, doch dazu weiter unten mehr. Im Cover drückt sich aus, dass sich Teile eines Ganzen, wie hier zum Beispiel die Wahrheit, in Ihrer Gestaltung verschieben lassen und dadurch ein neuer Eindruck entsteht.

Der Roman hat keine durchgehende Handlung und setzt sich aus vielen kurzen Geschichten als jeweilige Erwiderung zusammen. Lediglich zwei bis drei Fragen beantwortet der Protagonist täglich, so dass der Handlungsspielraum sich über einen längeren Zeitraum zieht. Aus den Antworten ergibt sich immer mehr das Bild eines Schriftstellers, der sich seine Wahrheiten zurechtbiegt entsprechend seiner Wünsche und Vorstellungen vom Leben. Die Schilderungen sind teils wie Vexierbilder doppeldeutig. Den Wahrheitsgehalt zu finden ist schwierig. Beispielsweise gibt er sich gerne als Liebhaber, obwohl er seit vielen Jahren verheiratet ist. Später nimmt er seine Aussagen zurück, auch weil seine Ehe darunter leidet.

Problematisch ist ebenfalls, dass er eigene Erfahrungen in seine Romanhandlungen einfließen lässt. Seine älteste Tochter hat dafür kein Verständnis und ihre Konsequenzen daraus gezogen. Auch in anderer Hinsicht hat er Sorgen, denn aufgrund eines lukrativen Auftrags hat er sich zur Unterstützung einer Meinung entschlossen, die nicht seine ist. Als er weitere Tätigkeiten dieser Art ablehnt, wird er vom Auftraggeber unter Druck gesetzt. Es wird deutlich, dass er auf ein positives Bild von sich in der Öffentlichkeit bedacht ist.

Die vorgenannten Gründe haben sicher auch dazu beigetragen, dass er unter einer ständigen Missstimmung leidet und vermutlich auch zu seiner momentanen Schreibblockade führten. Die Interviewfragen sind meist typisch für solche, die Schriftstellern gestellt werden und beziehen sich auf alles rund ums Schreiben, selten kommt es vor, dass Fragen zum familiären Hintergrund gestellt werden. Sie stehen in keiner Reihenfolge und führen zu Antworten, in die eine permanente zeitliche gegenwärtige Entwicklung einfließt, jedoch gehen die Gedanken des Ich-Erzählers häufig zurück zu Erinnerungen, die nicht immer positiver Art sind. Die örtlichen und zeitlichen Wechsel störten immer wieder meinen Lesefluss.

In seinem Roman „Die Wahrheit ist“ schreibt Eshkol Nevo über einen Autor, dem er seinen eigenen Namen gibt. Unweigerlich habe ich beim Lesen begonnen nach Parallelen zwischen Verfasser und fiktivem Schriftsteller zu suchen. Ähnlichkeiten zu sehen ist jedoch müßig, weil der Ich-Erzähler nach eigener Aussage die Schilderungen seinen Erwartungen an ein schönes Leben anpasst. Es ist unmöglich, die Wahrheit herauszufiltern, was den Roman überaus faszinierend macht. Gerne vergebe ich hierzu eine Leseempfehlung.

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