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Veröffentlicht am 04.03.2021

Berührende und ansprechende Geschichte, die in der Münchener Nachkriegszeit spielt

Glückskinder
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Griet und Antonia, genannt Toni, sind die weiblichen Protagonistinnen im Roman „Glückskinder“ von Teresa Simon, einem offenen Pseudonym der Autorin und promovierten Historikerin Brigitte Riebe. Die beiden ...

Griet und Antonia, genannt Toni, sind die weiblichen Protagonistinnen im Roman „Glückskinder“ von Teresa Simon, einem offenen Pseudonym der Autorin und promovierten Historikerin Brigitte Riebe. Die beiden Hauptfiguren haben den Zweiten Weltkrieg überlebt und finden auch in der kargen Nachkriegszeit Arbeit und Liebe. Immer wieder blitzt bei ihnen der Gedanke auf, wie glücklich sie sich im Vergleich zu anderen schätzen können. Die Gestaltung des Covers suggerierte mir den Aufbruch in eine neue Zeit. Wie sich später herausstellt, ist diese zwar geprägt von Hunger, Entbehrung und Wohnungsnot, macht aber auch Hoffnung und gibt Chancen.

Zu Beginn der Geschichte erlebte ich die junge Niederländerin Griet van Mook auf einem Marsch vom KZ Giesing nach Wolfratshausen. Von den Widerständlerinnen weiß zu diesem Zeitpunkt noch keine, dass sie bald darauf von einem US-Trupp befreit werden. Griet hat ihre Angehörigen verloren und mit der Hilfe eines Captains der amerikanischen Besatzer gelingt es ihr, nicht nur eine Stellung in München zu erhalten, sondern auch eine Unterkunft. Sie wird in der Etagenwohnung von Antonia Brandls Großtante, in der neben Toni auch noch Tonis Mutter, ihre elfjährige Schwester sowie eine Tante und deren erwachsener Sohn leben, einquartiert. Tonis Arbeit als Angestellte bei einem Verlag ruht und so widmet sie sich der Aufgabe, das Lebensnotwendige für die Familie zu besorgen. Griet und Toni schätzen zu Beginn ihrer Bekanntschaft einander falsch ein, doch im Zeitablauf entsteht immer mehr Verständnis füreinander und eine besondere Freundschaft.

Die Geschichten laufen parallel zueinander, in den Kapiteln wechselt der Fokus ständig zwischen den beiden jungen Frauen. Ein Prolog zu Beginn des Romans scheint zunächst nicht im Zusammenhang mit den Protagonistinnen zu stehen und machte mich neugierig darauf, welche Verbindung es hierbei gibt. Dank der sehr guten Recherche der Autorin konnte ich viel über die allgemeinen Lebensumstände der Bevölkerung Münchens in den Jahren 1945 bis 1948 erfahren. Gekonnt und ganz natürlich setzt Teresa Simon ihre Figuren in das Umfeld ein, so dass deren Handeln authentisch erscheint.

Beide Frauen sind starke Charaktere und durchsetzungsfähig, aber ohne dabei ihre Mitmenschen zu vergessen. An ihre Seite stellt Teresa Simon Männer, die einen Teil der Bevölkerung symbolisieren. Dan vertritt dabei die Besatzer, durch ihn erhält man Einblick in deren Agieren. Tonis Bruder Max kehrt unter widrigen Umständen nach dem Krieg aus Frankreich nach Hause zurück. Der windige Louis dagegen, weiß die Situation zu nutzen und widmet sich dubiosen Geschäften.

Gerade in den Nachkriegsjahren herrscht Lebensmittelmangel und bittere Kälte, doch die Autorin gibt anhand ihrer Figuren auch die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung untereinander wieder. Ins Augenmerk rückt Teresa Simon den aufgrund der Nöte wachsenden Schwarzmarkt in der Möhlstraße Münchens. Damit sich der Leser selbst ein Bild der Umstände machen kann, sind dem Buch im Anhang Rezepte mitgegeben, die zeigen, wie aus den wenig vorhandenen Lebensmitteln in der Nachkriegszeit Gerichte zubereitet wurden. Es war ebenfalls schwierig für die Bevölkerung, sich auf die neue politische Situation einzustellen. Das Schicksal der politischen Gefangenen, das die Autorin in die Geschichte einflechtet, ist bewegend. Griets Misstrauen gegenüber den Deutschen ist aus der Sicht verständlich.

Mit „Glückskinder“ hat Teresa Simon eine berührende und ansprechende Geschichte geschrieben, die den Leser mitnimmt nach München in die entbehrungsreichen Jahre zur Nachkriegszeit. Durch ein günstig gesetztes Figurenensemble gelingt es der Autor eine Erzählung zu weben, die viel vom historischen Hintergrund durchscheinen lässt und realistisch nachvollziehbar ist. Gerne vergebe ich eine uneingeschränkte Leseempfehlung.

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Veröffentlicht am 03.03.2021

Wie man durch Freundschaft zu sich selbst finden und emotional reifen kann

Hard Land
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Der Roman „Hard Land“ von Benedikt Wells beginnt mit zwei Feststellungen, die nicht nur neugierig auf die vorliegende Geschichte machen, sondern gleich zeigen, dass der Protagonist sich mit sehr gegensätzlichen ...

Der Roman „Hard Land“ von Benedikt Wells beginnt mit zwei Feststellungen, die nicht nur neugierig auf die vorliegende Geschichte machen, sondern gleich zeigen, dass der Protagonist sich mit sehr gegensätzlichen Gefühlen in jenem einen besonders erinnerungswürdigen Sommer seiner Jugend auseinander zu setzen hat: er wird sich verlieben und er wird seine Mutter verlieren. Dabei bleibt die Beziehung zu ihr und die mit ihrem Verlust verbundenen Empfindungen anfangs noch offen und riefen eine gewisse Erwartung an die Erzählung bei mir hervor. Der Titel bezieht sich auf einen preisgekrönten Gedichtzyklus des fiktiven Lyrikers William Morris. In dem von Benedikt Wells geschriebenen Text nimmt er Bezug auf die harte Arbeit, die der eigene Grund und Boden dem Besitzer abverlangt, ein Leben lang, über die Jahreszeiten und Jahre hinweg.

Der fünfzehnjährige Sam wohnt im Jahr 1985 mit seinen Eltern in einem kleinen Ort in Missouri. Seine ältere Schwester Jean lebt seit einigen Jahren an der Westküste der USA, sein bester Freund ist mit seiner Familie vor Kurzem weggezogen und der Kontakt nahezu abgebrochen. Sams Vater ist arbeitslos, seine Mutter arbeitet trotz ihrer schweren Krankheit in ihrer eigenen Buchhandlung. Eigentlich soll er den Sommer bei Verwandten in Kansas verbringen, doch ein Aushang am Kino bringt ihn auf die Idee, dort auszuhelfen. Hier begegnet er der Tochter des Besitzers und zwei beliebten älteren Jungen, die er von der Schule kennt und die ebenfalls dort angestellt sind. Mit ihnen und durch sie wird der Sommer unvergleichbar und unvergesslich.

Ich finde es mutig von Benedict Wells, eine Coming-of-Age-Geschichte zu schreiben, die nicht dort spielt, wo er selbst aufgewachsen ist und die in einer Zeit spielt, die er selbst nicht erlebt hat. Dennoch meistert er diese Hürden mit Bravour. Dank seines hohen Einfühlungsvermögens versetzt er sich gekonnt an Ort und Zeit und vermittelte mir auf diese Weise Bilder und Gefühle, die ich nachvollziehen konnte. Auch ich habe in eben jener Zeit einen unvergessenen Sommer an der Seite von Freunden erlebt und kann auf ähnliche Erfahrungen zurückgreifen. Die Beschreibungen des Autors haben mich erreicht und die Empfindungen von Sam stellten sich für mich als authentisch dar.

Es ist ein Wechselbad der Gefühle, die Sam in jenem Sommer 1985 erlebt hat. Sam wird bewusst, dass er seine Schüchternheit überwinden muss, damit er nicht zur Verwandtschaft geschickt wird, die er aus bestimmten Gründen meiden möchte, wie seine Eltern es für ihn vorsehen. Seine Eigeninitiative ist der erste Schritt zur Selbstverwirklichung und Selbstbewusstsein. Verbunden ist dieser Schritt mit Freude und Leid, mit Lachen und Weinen. Es gibt viele nie erlebte Situationen, neue Eindrücke für ihn, die man gar nicht schnell genug verarbeiten kann und die sich zu einem ganz neuen Lebensgefühl steigern, bei dem die Welt einen kleinen Moment still zu stehen scheint, in dem aber andernorts sich die Erde weiterdreht und für Ereignisse sorgt, bei denen man später vielleicht bedauert, anwesend gewesen zu sein …

Benedict Wells hat mit „Hard Land“ einen Roman geschrieben, bei dem man die Sommerhitze knistern spürt und die Musik der 1980er vibriert. Mit seinem empathischen Schreibstil hat der Autor eine bewegende Coming-of-Age-Geschichte verfasst, die zeigt, wie man durch Freundschaft zu sich selbst finden und emotional reifen kann. Gerne vergebe ich hierzu eine Leseempfehlung.

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Veröffentlicht am 01.03.2021

Faszinierende Handlung mit dem Hintergrundthema Bewusstsein und damit verbundener Persönlichkeit

Sprich mit mir
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Der US-Amerikaner T.C. Boyle widmet sich in seinem Roman „Sprich mit mir“ dem Verhältnis von Menschen zu Menschenaffen, genauer gesagt zu Schimpansen. Der Titel des Buchs entspricht der Aufforderung zur ...

Der US-Amerikaner T.C. Boyle widmet sich in seinem Roman „Sprich mit mir“ dem Verhältnis von Menschen zu Menschenaffen, genauer gesagt zu Schimpansen. Der Titel des Buchs entspricht der Aufforderung zur Kommunikation im Rahmen der Möglichkeiten der Tiere. Während es in den 1940er Jahren einen Versuch gab, einer Schimpansin Englisch beizubringen, basiert die Geschichte von T.C. Boyle auf entsprechenden Experimenten in den 1970ern zur Verständigung durch Gebärdensprache.
Der 32-jährige Guy Schermerhorn ist Professor für vergleichende Psychologie an einer kalifornischen Universität. Im Rahmen einer Studie an einer Hochschule in Iowa zum eventuell möglichen Spracherwerb bei Primaten wurde ihm der Schimpanse Sam überlassen. Aimee Villard, Studentin der Frühpädagogik, bewirbt sich im Jahr 1978 bei ihm als Hilfskraft zur Pflege von Sam. Schon bald fasst Sam Vertrauen zu ihr. Unter der Anleitung von Guy und Aimee macht Sam große Fortschritte und wird zunehmend menschlicher. Seine natürlichen Instinkte suchen sich aber immer wieder ihren Weg.
Im zeitlichen Ablauf wird es schwieriger, Forschungsgelder zu erhalten und eines Tages wird Sam vom Leiter des Forschungsprogramms aus Iowa zurückgefordert, um ihn wirtschaftlich besser nutzen zu können. Vor allem Aimee kann sich damit nicht abfinden und sucht auf ihre eigene Weise nach einer Lösung, um Sam nicht nur in ihrer Nähe zu haben, sondern auch weiter mit ihm arbeiten zu können.
T.C. Boyle wirft in seinem Roman unter anderem das ethische Problem auf, welche Eigenschaften untrennbar mit dem Bewusstsein verknüpft sind, damit sie uns Menschen so einmalig machen, um über andere Lebewesen zu richten. Es ist aber zu bedenken, dass wir vielleicht gar nicht so besonders sind. Wenn wir die Möglichkeit hätten, uns mit Primaten zu verständigen, könnten diese uns ihre Gefühle mitteilen und wir würden erkennen, dass sie in der Lage sind ihre Schlüsse aus Situationen zu ziehen und zu bluffen. Spinnt man den Gedanken weiter, ist zu überlegen, welches Potential sich uns Menschen dadurch bieten könnte, wenn wir erfahren, was Primaten im Allgemeinen beschäftigt und welches Urwissen sie mit sich tragen.
Mit Guy und Aimee schafft der Autor gegensätzliche Charaktere im Umgang mit dem Sprachexperiment und bietet dadurch auch zwei unterschiedliche Ansichten über Sinn und Zweck von Forschung. Sicherlich hat Guy eine enge Beziehung zu Sam aufgebaut, aber es geht ihm auch darum, sich durch die Studien berufliche Anerkennung zu verschaffen. Dadurch macht er sich abhängig von Finanzgebern und fügt sich den Gegebenheiten. Aimee widmet sich ihrer Aufgaben mit Leidenschaft und entwickelt zu Sam eine nahezu mütterliche Liebe. Ihre Beurteilung in bestimmten Situationen ist manchmal arglos, dem von ihr gesetzten Ziel ordnet sie ihr Leben unter und widmet ihm ihre ganze Kraft.
Die Kapitel wechseln ab zwischen solchen, bei denen Aimee und Guy in ihrer Beziehung zu Sam im Vordergrund stehen und anderen, bei denen der Autor die potentiellen Gedanken des Schimpansen beschreibt. Die beiden Sichtweisen sind zeitversetzt, wobei die Wiedergabe des Denkens von Sam zunächst Fragen aufwirft und äußerst beunruhigend ist.
Beim Lesen des Romans „Sprich mit mir“ von T.C. Boyle entwickelte sich bei mir ein Lesesog, der sich aufgrund der faszinierenden Darstellung der Handlung mit dem Hintergrundthema zum Bewusstsein und der damit verbundenen Persönlichkeit ergeben hat. Die Geschichte überrascht mit einigen Wendungen und bleibt dadurch, obwohl sie wahre Geschehnisse beinhaltet, unvorhersehbar. Gerne vergebe ich hierzu eine uneingeschränkte Leseempfehlung.

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Veröffentlicht am 02.02.2021

Das Leben verlangt zahlreiche Entscheidungen von uns - welche ist die Richtige?

Die Mitternachtsbibliothek
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Büchereien sind für Leseratten ein anziehender Ort. Aber in der „Mitternachtsbibliothek“, wie der Brite Matt Haig sie in seinem gleichnamigen Roman beschreibt, ist sicher noch niemand von ihnen gewesen. ...

Büchereien sind für Leseratten ein anziehender Ort. Aber in der „Mitternachtsbibliothek“, wie der Brite Matt Haig sie in seinem gleichnamigen Roman beschreibt, ist sicher noch niemand von ihnen gewesen. Die 35-jährige Protagonistin Nora Seed ist kein Bücherwurm, doch das Schicksal führt sie in der Geschichte in die magische Welt, die der Autor in seinem Roman in Form der Mitternachtsbibliothek beschreibt. Vor Ort findet sie volle Regale vor, gefüllt mit Büchern, deren Einbände in allen erdenklichen grünen Farben erstrahlen. Alle Ausgaben sind gefüllt mit Biografien ihres Lebens, die sich in Details unterscheiden. Wie der Name schon sagt, kann die Bücherei nur um Mitternacht betreten werden, während Raum und Zeit stillstehen und man sich zwischen Leben und Tod befindet.

Während eines Schachspiels in der Bibliothek ihres Heimatorts Bedfords erfährt die sechszehnjährige Nora durch einen Telefonanruf vom plötzlichen Tod ihres Vaters. Das könnte der schlechteste Tag in ihrem Leben gewesen sein, doch neunzehn Jahre später, als sie ihren Job verloren hat, ihre Katze verstorben ist, sie Streit mit Verwandten und Freunden hat, fühlt sie sich einsam und empfindet ihr Leben nicht mehr lebenswert. Sie beschließt zu sterben und findet sich während des Übergangsprozesses in der Mitternachtsbibliothek gemeinsam mit ihrer früheren Schulbibliothekarin wieder. Sie erhält die Chance verschiedene Varianten ihres Lebens auszuprobieren. Wird sie eines finden, dass ihren Vorstellungen vom Glücklichsein entspricht?

Matt Haig greift in seinem Roman die interessante Idee auf, mit der sich bestimmt schon viele beschäftigt haben, was geschehen wäre, wenn man sich an einem oder mehreren Punkten im Leben anders entschieden hätte. Auf eine ruhige Art und Weise lässt er seine Protagonistin erfahren, dass es nicht einfach ist, sein Leben in allen Einzelheiten zufriedenstellend zu empfinden. Er gibt zu bedenken, dass eine Entscheidung mehr als eine weitreichende Änderung nach sich zieht.

Nora hat sich vielen Chancen bewusst entzogen, denn sie hätte vielleicht bei Olympia teilnehmen, mit einer Band erfolgreich sein oder als Gletscherforscherin oder Philosophin berühmt werden können. Diese Auflistung gibt nur einen Ausschnitt von Noras Möglichkeiten wieder und allein daraus lässt sich erkennen, dass es nicht einfach ist, das Leben zu finden, dass glücklich macht. Nora war als Kind schüchtern und durch Erfolge bekam sie im Vergleich zu anderen mehr Aufmerksamkeit, was ihr nicht behagte. Aber das war nur eines ihrer Sorgen, die sie zu dem gemacht haben, was sie heute ist. Die Mitternachtsbibliothek gibt ihr die Chance, Dinge zu ändern, die sie bereut. Der Weg dazu, sich selbst zu finden, ist mit vielen Erfahrungen verbunden, die teils wütend stimmen, traurig machen oder auch fröhlich, bedrückend sind oder heiter. Nora steht an einem Scheideweg vor der endgültigen Entscheidung über ihre Zukunft.

Matt Haig zeigt in seinem Roman „Die Mitternachtsbibliothek“, dass das Leben jedem von uns zahlreiche Entscheidungen abverlangt, die jeweils weitere Konsequenzen mit sich bringen. Seine Protagonistin Nora lernt, darüber nachzudenken, ob eine andere Entscheidung tatsächlich die besseren Auswirkungen gezeigt hätte. Noras Geschichte ist nachvollziehbar. Auf sanfte Art vermittelt der Autor ein Stück Philosophie, die nachdenklich stimmt und berührt. Gerne vergebe ich eine uneingeschränkte Leseempfehlung.

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Veröffentlicht am 24.01.2021

Bewegend, fesselnd und abwechslungsreich mit unverbrauchtem HIntergrundthema

Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid
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n ihrem Roman „Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid“ schildert die in Berlin lebende Alena Schröder eine Familiengeschichte über vier Generationen hinweg. Die Erzählung spielt in der ...

n ihrem Roman „Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid“ schildert die in Berlin lebende Alena Schröder eine Familiengeschichte über vier Generationen hinweg. Die Erzählung spielt in der Gegenwart in der Bundeshauptstadt und nimmt die 27-jährige Doktorandin Hannah und ihre fast hundertjährige Großmutter Evelyn in den Fokus. In weiteren Kapiteln erfolgt ein Rückblick bis in die 1920er auf die Familiengeschichte. Der Titel nimmt Bezug auf ein verschollenes Bild aus dem Vermögen des im Zweiten Weltkrieg enteigneten jüdischen Kunsthändlers Goldmann, dessen einzige Erbin Evelyn ist, die sich diesem Umstand aber nicht stellen möchte und auf ihre ganz eigene Art damit ihre Enkelin betraut.

In der Generationengeschichte kommt auch Senta eine bedeutende Rolle zu, denn sie ist die Mutter von Evelyn. Sie wächst in den 1910er Jahren am Rand von Rostock auf und träumt davon, den Verlockungen Berlins zu folgen. Doch dann trifft sie Ulrich, den Kriegshelden, der Geschichten vom Fliegen erzählt. Bald wird sie schwanger und nach der Heirat immer unzufriedener. Sie lässt sich scheiden und erfüllt sich doch noch ihren Traum von Berlin. In der Hauptstadt erfährt sie an der Seite ihres jüdischen Ehemanns die zunehmenden Repressalien gegen die Religionsgemeinschaft. Silvia vervollständigt schließlich noch die Stammlinie als Tochter von Evelyn und Mutter von Hannah.

Es sind starke Frauenfiguren, authentisch und vielfältig, die Alena Schröder in ihrem Roman zeichnet, mit eigenen Vorstellungen vom Leben und einem enormen Willen, diese Vorstellungen zu verwirklichen. Das Verständnis von Generation zu Generation ist dadurch teils gestört, es kommt zu Brüchen, aber auch zu Annäherungen. Und obwohl manchmal große Weiten zwischen den Aufenthaltsorten liegen und auch die innere Verbundenheit nur ein loser Faden ist, gerät man einander nie vollständig in Vergessenheit. Auch wenn sich Senta, Evelyn und Silvia im Nachhinein nicht für gute Mütter halten, hat jede auf ihre Weise eine Möglichkeit gefunden, dem Nachwuchs eine vernünftige Perspektive für die Zukunft zu schaffen, die Freiraum zur Entfaltung der Persönlichkeit bietet.
Zwischen Gegenwart und Vergangenheit schildert die Autorin eine unterhaltsame Geschichte, die nie stillsteht und die sie bewusst so führt, dass immer eine gewisse unterschwellige Spannung auf den Fortgang bestehen bleibt. Raubkunst als Thema im Hintergrund fand ich ungewöhnlich, aber eine interessante Idee, über dessen Aufspüren ich durch die Erzählung gerne mehr erfahren habe.

Mit „Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid“ hat Alena Schröder einen bewegenden und fesselnden, abwechslungsreichen Roman geschrieben, der mit einem unverbrauchten Hintergrundthema und faszinierenden Frauenfiguren aufwartet. Ich habe das Buch sehr gerne gelesen und empfehle es daher uneingeschränkt weiter.

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