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Veröffentlicht am 18.07.2019

Gnadenlos eindringlich

Wonder Valley
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Vor vielen Jahren habe ich Robert Altmans mehrfach preisgekrönten Film „Short Cuts“ gesehen, und bin seither ein Fan von Episodenerzählungen, sowohl filmisch als auch literarisch. Aber nur sehr selten ...

Vor vielen Jahren habe ich Robert Altmans mehrfach preisgekrönten Film „Short Cuts“ gesehen, und bin seither ein Fan von Episodenerzählungen, sowohl filmisch als auch literarisch. Aber nur sehr selten findet man einen Episodenroman, der so gut durchkomponiert ist wie „Wonder Valley“, in dem nach und nach jedes Steinchen an seinen Platz fällt und dem Leser schlussendlich ein Mosaik von unglaublicher Tiefe bietet.

Stadt der Engel, 2010. Ein Mann joggt in der morgendlichen Rushhour die Freeways entlang. Nackt, im Schlepptau Polizeiautos und einen Hubschrauber. Ein Anwalt auf dem Weg zur Arbeit steigt aus seinem Auto und läuft ihm hinterher. Ein anderer ist auf dem Weg Richtung Pazifik, seine Mutter auf der Rückbank, und schwitzt in dem geklauten Fahrzeug Blut und Wasser.

Alle unterwegs, alle auf der Flucht, alle auf der Suche. Pochoda switcht zwischen 2010 und 2006 hin und her, arbeitet mit dem Blick zurück, um die Handlungen ihrer Protagonisten in der Gegenwart zu erklären. Sie richtet ihren Fokus auf die Einzelschicksale, zeichnet so aber auch ein schonungsloses Bild der amerikanischen Gesellschaft. Es ist der Blick fürs Detail, der diesen Roman auszeichnet, ganz gleich, ob es um die Personen, ihre Geschichte oder ihre Lebensumstände geht. In der Vergangenheit und der Gegenwart. Das ist behutsam, aber dennoch eindringlich, oft gnadenlos, aber immer präzise. Der verlassene Trailerpark und die Aussteigerfarm in der Mojave Wüste, das Elendsviertel Skid Row und der Glamour in den Vororten von Los Angeles. Ren, Tony, Britt, Blake, und Sam, James. Fünf verschiedene Schicksale, die sich berühren, auseinanderdriften, wieder zusammenkommen, untrennbar miteinander verbunden sind. Alle auf der Flucht. Alle voller Sehnsucht. Alle auf der Suche nach dem einen Ort, an dem sie sein sollten, weil sie dort nicht hingehören, wo sie gerade sind.

„Wonder Valley“ ist außergewöhnlich, ein „diamond in the rough“ der zahllosen Neuerscheinungen, die den Buchmarkt überschwemmen. Unbedingt lesen!

Veröffentlicht am 17.07.2019

Reise ins Dunkel

Keine Kompromisse
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Zieht ein Mann durchs Land, kommt in eine Kleinstadt, und „hell breaks loose“. Der Mann, der den Ärger offenbar immer wieder magisch anzieht ist Jack Reacher, moderner Odysseus und Protagonist der Thriller-Reihe ...

Zieht ein Mann durchs Land, kommt in eine Kleinstadt, und „hell breaks loose“. Der Mann, der den Ärger offenbar immer wieder magisch anzieht ist Jack Reacher, moderner Odysseus und Protagonist der Thriller-Reihe von Lee Child, dessen Irrfahrten wir seit mittlerweile zwanzig Bänden begleiten. „Keine Kompromisse“, so nicht nur der Titel des neuesten Bandes sondern auch Reachers Credo.

Diesmal also Mother’s Rest, irgendwo im Nirgendwo von Oklahoma. Der Name klingt für Reacher nach Idylle, heimelig, weshalb er seine Tour nach Chicago unterbricht. Misstrauisch von den Einheimischen beäugt, schaut er sich um und hat ziemlich schnell das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmt. Die Begegnung mit Michelle Chang, früher beim FBI, jetzt als private Ermittlerin unterwegs, verstärkt diesen Eindruck. Sie ist auf der Suche nach ihrem Partner, aber auch dem Sohn eines Klienten, beide in Mother’s Rest wie vom Erdboden verschluckt. Reacher bietet Chang seine Unterstützung an, aber offenbar gibt es in dem Städtchen einige Leute, die etwas zu verbergen haben und denen die Nachforschungen der beiden gewaltig auf die Nerven gehen. Die Suche nach des Rätsels Lösung gestaltet sich schwierig und führt Chang und Reacher nicht nur in die Abgründe des Darknets sondern auch auf eine Reise quer durch die Vereinigten Staaten. Doch Anfang und Ende liegt in Mother’s Rest.

Spannung, Tempo und Action, das erwarte ich, wenn ich einen neuen Reacher in die Hand nehme. Und wie immer liefert Lee Child dies auch in seinem neuesten Roman zuverlässig. Allerdings weicht der Autor von seinem bekannten Schema ab, verlässt die ausgetretenen Pfade. Anders als in den Vorgängern ist es nicht von Anfang an offensichtlich sondern erfordert Durchhaltevermögen, bis man weiß, worum es geht, der „Unkaputtbare“ ist nach einer bösen Verletzung im Kampf auf die Hilfe seiner Partnerin angewiesen. Und er entwickelt Gefühle. Diese Entwicklungen fand ich absolut passend, entzaubert es doch den Superhelden-Mythos der Hauptfigur und macht aus einer reinen Kampfmaschine einen Menschen.

Sowohl für Wiederholungstäter als auch für Einsteiger geeignet.

Veröffentlicht am 10.07.2019

Ein intelligenter Krimi ohne Action und Verfolgungsjagden

Ein Sohn ist uns gegeben
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Donna Leon ist eine Konstante meines Leserlebens, ihre Brunetti-Romane begleiten mich seit über 25 Jahren. Eine Reihe, die nichts von ihrer Faszination für mich verloren hat. Die Autorin ist, wie auch ...

Donna Leon ist eine Konstante meines Leserlebens, ihre Brunetti-Romane begleiten mich seit über 25 Jahren. Eine Reihe, die nichts von ihrer Faszination für mich verloren hat. Die Autorin ist, wie auch ich, gealtert, und ihre Themenfelder haben sich im Lauf der Zeit verändert. Die Felder der mafiösen Strukturen Italiens, die Korruption, Behördenwillkür, politischen Verflechtungen sind natürlich noch immer präsent, aber sie nehmen nicht mehr so viel Raum ein. Stattdessen richtet sie verstärkt ihr Augenmerk auf die alltäglichen Probleme, die die Venezianer umtreiben. Aber es geht ihr nicht nur um die Vereinnahmung der Lagunenstadt durch Touristen und die sich daraus ergebenden Veränderung des Lebensraums, die Belastungen durch die Kreuzfahrtschiffe, sondern es sind auch immer wieder die individuellen Schicksale, die sie im Blick hat.

Wie das des betagten Kunsthändlers Gonzalo Rodriguez de Tejeda, Freund der Faliers und Paolas Patenonkel, der sein komplettes Vermögen einem jungen Liebhaber vererben möchte – sehr zum Missfallen seiner Familie und der venezianischen Gesellschaft. Brunetti wird von seinem Schwiegervater gebeten, den persönlichen Hintergrund des zukünftigen Erben zu durchleuchten, was ihm einige Bauchschmerzen bereitet. Aber was tut man nicht alles für die Familie. Alles scheint it rechten Dingen zuzugehen, doch dann erliegt Gonzalo einem Herzinfarkt und ein weiterer Todesfall in dessen Umfeld lässt Brunetti aufmerken…

Wie so oft in Donna Leons Romanen ist es nicht die Suche nach dem Täter, die die Handlung bestimmt. Es geht um die Natur des Menschen, um Ethik und persönliche Moral, über die der Commissario vor allem dann sinniert, wenn er nach Feierabend seine Klassiker liest. In diesem Fall ist es Euripides, aber auch eine alte Graphic Novel aus Paolas Studentenzeiten, die ihn über Flucht und Vertreibung nachdenken lässt, ein damals wie heute aktuelles Thema.

Keine Action, keine wilden Verfolgungsjagden, keine atemlose Spannung. Dafür ein intelligenter Kriminalroman, der mich, nachdem ich das Buch zugeklappt habe, höchst zufrieden aber auch nachdenklich zurückgelassen hat. Ich werde dem Commissario auf jeden Fall die Treue halten.

Veröffentlicht am 09.07.2019

Alles beim Alten

Cold Water
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1990, viel hat sich nicht geändert in Nordirland. Noch immer ist die Gewalt tagtäglich präsent. Noch immer inspiziert Duffy den Unterboden seines mittlerweile nagelneuen 5ers nach Semtex. Noch immer kämpfen ...

1990, viel hat sich nicht geändert in Nordirland. Noch immer ist die Gewalt tagtäglich präsent. Noch immer inspiziert Duffy den Unterboden seines mittlerweile nagelneuen 5ers nach Semtex. Noch immer kämpfen Katholiken und Protestanten gegeneinander. Noch immer werden Menschen die Kniescheiben zerschossen. Noch immer verschwinden Männer, Frauen, Teenager spurlos und niemand kümmert sich darum. „Die Neunziger können nicht schlimmer werden(…) Silberstreif, für’n Arsch.“

Alles beim Alten? Nein, nicht ganz, denn Sean Duffy ist auf dem Sprung. Weg aus Nordirland. Weg vom Carrickfergus CID. Weg aus der Coronation Road. Rüber nach Schottland. Mit Frau und Kind. Schluss mit dem Einsatz an vorderster Front, im reicht‘s. Gerade mal vierzig Jahre alt, aber katholisch, Bulle und Nordirland, das zählt so als wäre er siebzig. Also Halbtagsrente, sieben Tage im Monat, nur noch beratende Funktion und Kindermädchen für John Strong, den umgedrehten, paranoiden Spitzel.

Aber noch gilt es, einen letzten Fall zu lösen. Kat McAtamney, ein fünfzehnjähriges Tinkermädchen ist weg, spurlos. Fahrende verschwinden immer wieder und niemanden kümmert’s, nur eine weitere Ausreißerin. Nicht so Duffy. Gemeinsam mit „Crabbie“ McCrabban und Lawson, seinem Nachfolger, verbeißt er sich in den Fall und gibt nicht eher Ruhe, bis dieser aufgeklärt ist. So, wie wir es von ihm gewohnt sind.

Die Reihe um Sean Duffy neigt sich dem Ende zu, was ich mit größtem Bedauern zur Kenntnis nehme, ist es für mich doch eine der besten Serien, die auf dem Buchmarkt zu finden ist. Zum einen liegt das natürlich an der Hauptfigur, dem sympathischen, unangepassten, zynischen Detective mit Herz, zum anderen aber auch an den Fähigkeiten Adrian McKintys (in Belfast geboren und in Carrickfergus aufgewachsen), die “Troubles“, die Politik und deren Auswirkungen auf die Menschen in Nordirland en passant in seine Romane einzuarbeiten. Dazu braucht er keinen Holzhammer, manchmal reicht ein auf den ersten Blick belangloser Nebensatz. Diese gesellschaftspolitische Dimension der Reihe macht sie für mich besonders wertig, hebt sie sich damit doch von den üblichen Krimis/Thrillern, die ihr Augenmerk lediglich auf den Fall und dessen Aufklärung richten, deutlich ab.

Nicht zu vergessen, Duffys ausgeprägte Liebe zur Musik und seine umfangreiche Plattensammlung. Ganz gleich, ob Jazz, Klassik oder Rock/Pop, hat er alles und hat auch zu allem eine Meinung. Speziell zu Phil Collins und Bono, dem von den meisten Iren wegen seiner Steuertricksereien nicht sonderlich geschätzten Frontman von U2. Dieses wiederkehrende Element bringt mich immer wieder zum Schmunzeln. Und auch der Originaltitel „The Detective Up Late“ hat, wie bereits die sechs Vorgänger, einen Bezug zur Musik und ist einer Songzeile aus „Bad as me“, einem Song von Tom Waits entliehen.

Nichtsdestotrotz, schon wegen des Abschieds aus seiner protestantischen Nachbarschaft in der Coronation Road und dem Umzug nach Schottland, bereitet uns „Cold Water“ langsam, aber sicher, auf den Abschied von Sean Duffy und dem Carrickfergus CID vor. Zwei Bände sind noch geplant, aber das war’s dann, wenn man dem Autor glauben darf. Ich vermute, dass das Karfreitagsabkommen1998 den Schlusspunkt setzt, und das würde aus meiner Sicht auch Sinn machen. Auch wenn ich es jetzt schon bedauere.

Veröffentlicht am 02.07.2019

Historischer "Closed Room" Roman

Die letzte Stunde
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Minette Walters, die englische Bestsellerautorin psychologischer Spannungsromane, wechselt mit „Die letzte Stunde“ das Genre und wendet sich der Historie zu.

Dorset, Südengland, wir schreiben das Jahr ...

Minette Walters, die englische Bestsellerautorin psychologischer Spannungsromane, wechselt mit „Die letzte Stunde“ das Genre und wendet sich der Historie zu.

Dorset, Südengland, wir schreiben das Jahr 1348. Schiffe haben die Pest ins Land gebracht, die Todesfälle häufen sich. Lady Anne, Herrin von Develish, zählt zu den klugen Köpfen ihres Standes. Sie hat bei Nonnen eine umfassende Erziehung genossen hat, und sie reagiert schnell. Um die Menschen zu schützen, die unter ihrer Fürsorge stehen, entscheidet sie sich für die komplette Isolation ihrer Wasserburg. Niemand darf diese verlassen, aber auch der Zutritt wird jedem verwehrt. Tragischerweise betrifft diese Anordnung auch ihren Mann, der mit seinem Gefolge auf dem Rückweg von einem benachbarten Anwesen ist und nun außen vor bleiben muss. Alle sterben an den Folgen der Krankheit.

Die Vorräte reichen nicht ewig, die Reserven schwinden. Das Leben auf der Burg verändert sich, und nicht jeder kommt damit zurecht. Standesunterschiede verschwinden im Angesicht des Kampfes ums Überleben. Es ist nicht mehr die gesellschaftliche Position, die den Rang bestimmt, es ist die Art und Weise, wie man mit den neuen Verhältnissen zurechtkommt. Hier wird Thaddeus für Anne schnell unentbehrlich, ein ehemaliger Dienstbote, den sie aufgrund seiner Fähigkeiten zum Verwalter einsetzt. Hunger, Streitereien und Entbehrungen nagen an dem inneren Frieden, aber es kommt noch heftiger, als ein rätselhafter Mord geschieht.

Im Gegensatz zu ihren straff erzählten Kriminalromanen nutzt Walters in diesem historischen „closed room“ Roman die breite Leinwand, verliert sich aber selten in Nebensächlichkeiten. Ihre Sympathien gehören den Niederen, den Rechtlosen, die ihr Leben in den Dienst der Gemeinschaft stellen und mehr moralische Integrität als Klerus und Adel besitzen In ihren Beschreibungen des Feudalsystems, der Landschaft, Personen, Lebensumstände etc. ist die Autorin so akribisch, wie wir es von ihr gewohnt sind, was mit Sicherheit intensiver Recherchearbeit geschuldet ist. Bleibt zu hoffen, dass sie dieses hohe Niveau auch in „In der Mitte der Nacht“, dem zweiten Band der Pest-Saga, halten kann. Ich gehe davon aus.

Allen Fans von Rebecca Gablé und Ken Follet nachdrücklich empfohlen!