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Veröffentlicht am 02.06.2022

Zurück an die Oberfläche

Das versunkene Dorf
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Dreißig Sekunden, eine Kugel…und plötzlich ist alles anders. Diese leidvolle Erfahrung muss Noémie Chastain machen, als ein Einsatz des Pariser Drogeneinsatzkommandos aus dem Ruder läuft. Der Verdächtige ...

Dreißig Sekunden, eine Kugel…und plötzlich ist alles anders. Diese leidvolle Erfahrung muss Noémie Chastain machen, als ein Einsatz des Pariser Drogeneinsatzkommandos aus dem Ruder läuft. Der Verdächtige schießt um sich, eine Kugel trifft die Kommissarin mitten ins Gesicht. Sie kann gerettet werden, doch trotz Operation bleibt die linke Seite entstellt. Zwar kämpft sie sich mit Hilfe eines Therapeuten ins Berufsleben zurück, muss aber nach ihrer Rückkehr feststellen, dass sie vorerst den Platz in ihrem Team verloren hat. Übergangshalber soll sie für einen befristeten Zeitraum im okzitanischen Département Aveyron eine Dienststelle überprüfen, die vor der Schließung steht. Die dortige Verbrechensrate tendiert gegen Null, die Personalkosten stehen in keinem Verhältnis dazu. So weit, so gut.

Doch kurz bevor ihre Zeit dort abgelaufen ist und die Rückkehr nach Paris ansteht, treibt in dem nahegelegenen Stausee von Avalone ein Plastikfass an die Oberfläche, in dem die verweste Leiche eines Kindes liegt. Und schon ist Noémie Chastain mitten in einem Fall, der nie aufgeklärt wurde. Als vor fünfundzwanzig Jahren das alte Dorf geflutet wurde, verschwanden drei Kinder spurlos, ob tot oder entführt, konnte nicht geklärt werden. Es gab zwar einen verdächtigen Wanderarbeiter, aber keine Beweise für seine Beteiligung, und das Schicksal der Kinder konnte nicht geklärt werden. Bis jetzt, auch wenn die Kommissarin gegen den Widerstand der Dörfler ermitteln muss, die eine Mauer des Schweigens um die Vergangenheit errichtet haben. Aber noch weiß sie nicht, dass sie sich damit in große Gefahr begibt.

Das titelgebende „versunkene Dorf“ als Schauplatz für diesen gleichnamigen Kriminalroman zu wählen, bringt eine ganz besondere Atmosphäre mit sich. Packende Spannung, mit jeder Menge falscher Fährten. Geheimnisvoll und etwas gruselig, wenn man darüber nachdenkt, welche Geschichten, welche Schicksale mit den Wasserfluten untergegangen sein könnten. Norek fängt dies mit stimmungsvollen, aber nie banalen Beschreibungen ein, macht oft nur Andeutungen und überlässt es der Fantasie des Lesers, die Leerstellen zu füllen. Bei der Beschreibung der Polizeiarbeit hingegen ist er sehr präzise und realitätsnah, was nicht weiter verwundert, da er ausgebildeter Polizist ist und auch achtzehn Jahre in diesem Beruf gearbeitet hat.

„Surface“, so der Originaltitel dieses Kriminalromans, wurde verdientermaßen mit dem Prix Maison de la Presse, dem Prix Relay, dem Prix Babelio-Polar und dem Prix de l'Embouchure ausgezeichnet. Nachdrückliche Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 02.06.2022

Die dunkle Seite der Bretagne

Der Dachs
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Seit einiger Zeit haben Urlaubskrimis Hochkonjunktur. Schaut man sich die beschriebenen Handlungsorte genauer an, wird man feststellen, dass die meisten davon in Frankreich und dort im Süden, oft in der ...

Seit einiger Zeit haben Urlaubskrimis Hochkonjunktur. Schaut man sich die beschriebenen Handlungsorte genauer an, wird man feststellen, dass die meisten davon in Frankreich und dort im Süden, oft in der Provence zu finden sind. Aber dann gibt es ja noch die Bretagne im Nordwesten, die seit der Kommissar-Dupin-Reihe von Jean-Luc Bannalec aka Jörg Bong kontinuierlich steigende Beachtung erfahren hat.

Die Zutaten dieser regionalen Krimis gleichen sich: Sympathische Ermittler*innen aus der Großstadt, die freiwillig oder gezwungenermaßen neu starten, pittoreske Dörfer, hilfsbereite Bewohner, landestypische Kulinarik und relativ simpel gestrickte Fälle. Allerdings haben letztere durch die Ortskenntnis Bannalecs fast schon Reiseführerqualitäten. Es gibt zwar Tote, aber auf explizite Gewaltdarstellungen und die Einbindung politischer Themen wird weitgehend verzichtet. Immer schön cosy ist die Parole.

Aber es geht glücklicherweise auch anders, wie ein Autor beweist, den ich bisher noch nicht auf dem Schirm hatte. Christian Buder zeigt in „Der Dachs“ die dunkle Seite der Bretagne, die wir so bisher noch nicht präsentiert bekommen haben, und das beschreibt er sprachgewandt und ziemlich noir, clever, komplex und sehr spannend.

Handlungsort ist ein bretonisches Fischerdorf, Hauptfigur Ronan Prad von der Gendarmerie Maritime. Ein Bürgermeister, dessen Security aus Fremdenlegionären besteht. Ein Fischer, der samt Boot spurlos verschwunden ist, ein Schicksal, das er mit Prads Frau teilt. Zwei Tote, die am Strand angespült werden, ein Schiffswrack voller Leichen. Alle Toten haben in „La Jungle“, dem berüchtigten Flüchtlingslager in Calais auf eine Passage nach London gewartet, das Prad daraufhin genauer unter die Lupe nimmt. Aber einigen Menschen mit Macht und Einfluss passt das so gar nicht in den Kram.

Ein Protagonist mit Ecken und Kanten, faszinierende und bildgewaltige Beschreibungen dieses rauen Landstrichs, die die Kraft des Meeres ahnen lassen, mehrere miteinander verwobene Fälle, in die politische Entscheidungsträger verwickelt sind, ein furioses Finale. Lesen!

Veröffentlicht am 31.05.2022

Scharfsichtiger Ausblick auf die Zukunft

RCE
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Sibylle Berg ist wütend. Und sie macht ihrem Ärger Luft. Das wissen alle, die GRM Brainfuck gelesen haben oder ihre Kolumnen im Spiegel kennen. Ich schätze ihre Kolummnen, ihren entlarvenden Blick auf ...

Sibylle Berg ist wütend. Und sie macht ihrem Ärger Luft. Das wissen alle, die

GRM Brainfuck gelesen haben oder ihre Kolumnen im Spiegel kennen. Ich schätze ihre Kolummnen, ihren entlarvenden Blick auf unsere gesellschaftliche Realität und den Zustand der Welt. Manchen mögen sie übertrieben vorkommen, zu pessimistisch sein, aber wenn man genau hinschaut, kann man ihnen weder den Wahrheitsgehalt noch die Relevanz absprechen.

Und auch ihr neuer Roman „RCE:

RemoteCodeExecution“ ist, wie bereits der Vorgänger „GRM. Brainfuck“, eine weitergedachte Gegenwartsanalyse, ein realistisches Szenario, das aufrütteln soll, denn mittlerweile sind einige Jahre vergangen, und der Zustand der Welt hat sich weiter verschlechtert. Der Neo-Kapitalismus trägt deutlich feudalistische Züge. Mittelschicht? Verarmt. Privater Grundbesitz? Nicht für „normale“ Menschen. Der Alltag? Deprimierend. Klimawandel, verödete Städte, Digitalisierung, umfassende Überwachung, die Politik hat ihren Einfluss verloren. Geld regiert die Welt und mit ihnen die Banken, Tech-Riesen, Großkonzerne und Oligarchen.

Kurzer Einschub mit Blick auf unsere reale Gegenwart: 2020 zeigt die Auswirkungen der Pandemie und die Richtung, in die die Entwicklung geht. Es gibt eine Schätzung der Weltbank, nach der dadurch mehr als 100 Millionen Menschen zusätzlich durch den Einbruch der Wirtschaft, Arbeitslosigkeit etc. absolut verarmt sind, während die ca. 2.700 Milliardäre weltweit ihr Vermögen um 60 Prozent gesteigert haben. Und durch den aktuellen Krieg wird es mit Sicherheit noch einmal einen größeren Zuwachs erfahren.

Ist eine Kehrtwende noch möglich? Zumindest versuchen wollen sie es, eine Gruppe von vernetzten IT-Nerds, die die Digitalisierung für ihre Zwecke nutzen wollen und vom Tessin aus weltweit Brigaden rekrutieren. Mit ferngesteuerten Zugriffen wollen sie in die Systeme der Herrschenden eindringen, den Stecker ziehen und einen Neustart erzwingen. Möge es gelingen.

Ist das fiktional? Eine Dystopie? Könnte man annehmen, aber das greift viel zu kurz. Es ist weit mehr als das. Frau Berg hat umfassend recherchiert, erschlägt den Leser fast schon mit den Fakten, die sie zutage gefördert hat und hier verarbeitet. Aber wenn man über den eigenen Tellerrand schaut, genauer hinsieht, weiterdenkt, scheint das Szenario, das sie hier kreiert, absolut realistisch und glaubwürdig. Eine Brandrede, die aufrütteln soll. Eine klug analysierende Bestandsaufnahme. Und gleichzeitig ein deprimierender Ausblick auf Veränderungen, die es zu verhindern gilt. Lesen!

Veröffentlicht am 28.05.2022

Winslow spielt sein ganzes Können aus – großartig!

City on Fire
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Am 23.04.23 hat Don Winslow bekannt gegeben, dass er seine schriftstellerische Tätigkeit an den Nagel hängen wird. Zukünftig möchte er seine Zeit darauf verwenden, eigenfinanziert mit digitalen Kampagnen ...

Am 23.04.23 hat Don Winslow bekannt gegeben, dass er seine schriftstellerische Tätigkeit an den Nagel hängen wird. Zukünftig möchte er seine Zeit darauf verwenden, eigenfinanziert mit digitalen Kampagnen demokratische Anliegen zu unterstützen und damit Donald Trump und den "Trumpismus" in den Vereinigten Staaten bekämpfen. Zum Abschluss gibt es aber noch, wie schon bei seiner herausragenden Kartell-Trilogie, ein Epos in drei Bänden, dessen erster Teil „City on Fire“ gerade erschienen ist. Band 2 und 3 sind seiner Aussage nach bereits geschrieben und werden 2023 und 2024 veröffentlicht.

Dogtown im Süden von Providence, Rhode Island, Mitte der achtziger Jahre. Ein Einwandererviertel. Zuerst kamen die Iren, danach die Italiener. Zwei Familienclans, die Murphys und die Morettis, leben dort in friedlicher Eintracht, haben ihre Geschäfte untereinander aufgeteilt. Gewerkschaften, Bestechung, Diebstahl, Kredite, Schutzgelderpressung und seit neuestem auch Drogenhandel werfen genug Profit für beide Seiten ab. Noch begegnet man sich mit Respekt, aber die Zeit der Familienoberhäupter neigt sich dem Ende zu, und der Generationenwechsel lässt nichts Gutes erahnen. Und schneller als man denkt, setzt ein nichtiger Anlass eine Gewaltspirale in Gang, einen blutigen Kampf bis aufs Messer, der sich zu einem Krieg entwickelt, in dem es schlußendlich um die Kontrolle des organisierten Verbrechens zwischen New York und Boston geht. Mittendrin Danny Ryan, derjenige mit dem moralischen Gewissen, dessen Vater früher einmal Oberhaupt der irischen Mobster war, mittlerweile mit Terri Murphy verheiratet. Ob er will oder nicht, die unzähligen Toten auf beiden Seiten drängen den bisherigen Befehlsempfänger in die Rolle des Strategen, des Anführers. Eine große Verantwortung, könnte doch eine einzige Fehlentscheidung die endgültige Auslöschung des irischen Clans zur Folge haben.

Und wieder einmal spielt Don Winslow sein ganzes Können aus. Ein extrem spannende Story, die einzelnen Szenen haben eine stark visuelle Kraft und können es durchaus gleichberechtigt mit den Klassikern des Genres aufnehmen. Für Sentimentalitäten bleibt kaum Platz, es geht sehr brutal und blutig zur Sache. Die Sprache ist der Handlung angepasst (wie immer in einer exzellenten Übersetzung von Conny Lösch). Hart, klar und präzise, reduziert auf das Wesentliche. Ohne Drumherumgerede.

Sämtliche Charaktere sind komplex, bis ins kleinste Detail ausgearbeitet, auch eine Stärke des Autors, was auch eine Erklärung für den eher verhaltenen Einstieg in die Story sein könnte. Bei einem Dreiteiler müssen die Personen Fleisch auf den Knochen haben, brauchen einen Background, denn sonst können sie das Interesse des Lesers nicht bis zum Ende binden. Alles richtig gemacht, Mr Winslow.

Veröffentlicht am 17.05.2022

Von Taormina nach München und zurück

Terra di Sicilia. Die Rückkehr des Patriarchen
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Für „Terra di Sicilia“ hat der deutsch-italienische Autor Mario Giordano die Geschichte seiner sizilianischen Vorfahren genommen, sich von ihr inspirieren lassen, bestimmte Ereignisse herausgegriffen, ...

Für „Terra di Sicilia“ hat der deutsch-italienische Autor Mario Giordano die Geschichte seiner sizilianischen Vorfahren genommen, sich von ihr inspirieren lassen, bestimmte Ereignisse herausgegriffen, diese weitergesponnen und mit der ihm eigenen Lust und Fähigkeit am Fabulieren zu einem großen Familienepos zusammengefügt. Herausgekommen ist dabei ein höchst unterhaltsamer Schmöker, der in allen Bereichen überzeugen kann.

Wer nun aber glaubt, dass wir es hier einer typischen Migrantengeschichte der fünfziger Jahre zu tun haben, in der die Männer aus dem italienischen Süden um der Arbeit willen nach Deutschland gekommen sind, wird enttäuscht sein, denn Barnaba Carbonaro, die zentrale Person dieses Romans, derjenige um den sich alles dreht, ist zu dieser Zeit längst schon wieder zurück in die Heimat gereist und wird erst in den sechziger Jahren zurück nach Deutschland kommen.

Von Sizilien nach Deutschland und zurück, von der Orangenplantage in Taormina bis zum Münchner Großmarkt, vom kleinen Buben ohne Schuhe bis zum geachteten Geschäftsmann. Wir begleiten Barnaba durch die Jahrzehnte. Von 1880 bis 1960. Den Tausendsassa mit den vielen Talenten und dem unbändigen Willen nach Reichtum und dem Wunsch, ein Imperium zu schaffen. Den Analphabeten mit der herausragenden Begabung für Zahlen. Den Netzwerker vor dem Herrn, der die Gesellschaft der Einflussreichen sucht, um im Fall des Falles selbst daraus einen Vorteil ziehen zu können. Mutig, leidenschaftlich und geschäftstüchtig, aber manchmal auch zu gutgläubig und risikobereit. Den, der alles auf eine Karte setzt, und wieder von vorne beginnt, wenn er verliert.

Atmosphärisch, mit genauem Blick auf die archaische Gesellschaft Siziliens und die italienische Geschichte, eine wendungsreiche Story samt liebevoll und detailliert ausgearbeitetem Personentableau. Mitreißend und empathisch erzählt. Absolut empfehlenswert!

Mario Giordano hat bereits angekündigt, dass es eine Fortsetzung geben wird, in der dann die in diesem Band eher zu kurz gekommenen Frauen der Familie Carbonaro die Hauptrolle spielen werden. Ich freue mich darauf!