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Veröffentlicht am 16.05.2022

Der Verlust der Unschuld

Amelia
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„Amelia“ ist das wiederaufgelegte Debüt der in Belfast geborenen Anna Burns, die 2018 mit „Milchmann“ sowohl den Man Booker Prize Fiction als auch den National Books Critics Circle Award gewann. Und tatsächlich ...

„Amelia“ ist das wiederaufgelegte Debüt der in Belfast geborenen Anna Burns, die 2018 mit „Milchmann“ sowohl den Man Booker Prize Fiction als auch den National Books Critics Circle Award gewann. Und tatsächlich kann man diese beiden Romane als Einheit sehen. Wo „Milchmann“ eher vage in den Beschreibungen der täglichen Gewalt während der nordirischen „Troubles“ bleibt, wird diese in „Amelia“ schonungslos präsentiert. Und wenn manche Leser*innen monieren, dass die Autorin in diesem Buch kaum Informationen zu den Ursachen des Nordirlandkonflikts anbietet, kann man ihnen grundsätzlich zwar zustimmen, aber bei Interesse kann man sich diese Informationen problemlos selbst beschaffen.

Allerdings geht es in diesem Roman nicht um die gewaltsame Besetzung der Insel durch die Engländer im 12. Jahrhundert, die Aufteilung Irlands in die Republik und Nordirland im Jahr 1921, noch um die politische und wirtschaftliche Diskriminierung der katholischen Minderheit durch die Protestanten, die in dem Nordirland-Konflikt zwischen 1968 und 1998 ihren blutigen Höhepunkt findet. Es geht um die Auswirkungen, die dieser Bürgerkrieg nicht nur auf Familien, sondern auf eine ganze Generation hat.

Burns (1962 geboren) nimmt uns in „Amelia“ in den nordirischen Alltag dieser Jahre mit, die sie selbst erlebt hat, und zeigt schonungslos und unsentimental die Gewalt, die das Aufwachsen der Kinder prägt. Bombenanschläge, Schießereien, zwielichtige Gruppierungen, tote Familienangehörige, die nur zur falschen Zeit am falschen Ort waren, häusliche Gewalt. Eine Spirale, aus der es kein Entkommen gibt. Die Flucht in Drogen und Alkohol schafft kurzzeitiges Vergessen des trostlosen Alltags. Die Hoffnung auf Normalität bleibt ein unerfüllter Wunschtraum.

Ein schwer verdaulicher Coming-of-Age Roman, in dem die kindliche Unschuld Stück für Stück auf der Strecke bleibt, und die Verletzungen an Geist und Seele keine Heilung erfahren. Harte Kost.

Veröffentlicht am 15.05.2022

Wenn man nichts zu verlieren hat...

Ocean State
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Rhode Island, der titelgebende „Ocean State“ in New England, kleinster Bundesstaat der USA. An der Küste die Luxusvillen der Superreichen, in den Kleinstädten Häuser, an denen die Farbe abblättert, die ...

Rhode Island, der titelgebende „Ocean State“ in New England, kleinster Bundesstaat der USA. An der Küste die Luxusvillen der Superreichen, in den Kleinstädten Häuser, an denen die Farbe abblättert, die Blumen verwelkt sind, das Gras hüfthoch in den Vorgärten steht und die ausrangierten Hummerfallen vor sich hin rosten.

Es sind diese Gegensätze, die gesellschaftlichen Verwerfungen, für die Stewart O’Nan ein Auge hat und sie in fast allen seiner Romane zum zugrunde liegenden Thema macht. So auch in seinem neuen Roman, der uns schon mit dem ersten Satz mitten hinein in die Story katapultiert: „Als ich im achten Schuljahr war, half meine Schwester dabei, ein anderes Mädchen zu töten.“

2009, Ashaway, ein heruntergekommenes Haus nahe der stillgelegten Mühle. Neuer Wohnort der Olivieras. Carol, die alleinerziehende Mutter, arbeitet als Hilfspflegerin in einem Altenheim und lebt mit ihren Teenagertöchtern Angel und Marie in einem heruntergekommenen Haus draußen bei der alten Fabrik. Was ihre Männerbekanntschaften angeht, ist sie nicht sonderlich wählerisch, jeder einzelne stellt sich als Fehlgriff heraus. Auch wenn sie ihnen kein gutes Vorbild ist, liebt sie doch ihre Mädchen und sorgt für sie, würde ihnen gerne mehr bieten. Marie, die dreizehnjährige Erzählerin, fühlt sich als die Außenseiterin der Familie. Zu pummelig, zu unbeholfen, zu unbeliebt. Ganz anders Angel, ihre große Schwester, die sie vergöttert und die all das ist, was sie gern wäre. Groß, hübsch, beliebt und selbstbewusst. Angel wiederum macht sich keine Illusionen über ihre Zukunft. Zu schlecht sind ihre Startbedingungen, da bleibt nach dem Schulabschluss nur ein schlechtbezahlter Job, Mann und Kind. Kein Platz für Träume, ausgeschlossen ein gemeinsames Leben mit ihrem High School Sweetheart, dem Jungen aus reichem Hause, der das College besuchen, eine passende Frau finden und Angel vergessen wird. Myles, der sie bereits jetzt schon mit Birdy betrügt, die einen ähnlichen familiären Hintergrund wie Angel hat und alles daran setzt, Myles für sich zu gewinnen, womit die Tragödie ihren Lauf nimmt und nicht mehr aufzuhalten ist.

Mit feinem Gespür für die Lebenssituation der vier Frauen erzählt O’Nan eine Geschichte von großen Erwartungen, enttäuschter Hoffnung, falschen Entscheidungen und der Gewissheit, dass auch in Amerika nicht jede Frau ihres Glückes Schmied ist. Einzig Myles bleibt blass, ist nur ein verwöhnter Schnösel.

Es sind die beiden alternierenden Erzählstränge, die das Geschehene so eindringlich wirken lassen. Das Wissen um ein Leben ohne Perspektive, aus dem es kein Entkommen gibt, man nichts zu verlieren hat und deshalb alles riskieren kann. Eine Handlung, die wie der Blick auf einen Zug wirkt, der in hohem Tempo ungebremst auf ein Hindernis zurast, weil eine Weiche falsch gestellt wurde.

Veröffentlicht am 05.05.2022

So muss Urban Fantasy sein

Die Silberkammer in der Chancery Lane
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Will man sich detailliert über die Geschichte Londons informieren, gibt es drei Möglichkeiten, die ich allesamt nachdrücklich empfehlen kann. Erstens: Vor Ort bietet sich das informative und sehr gut kuratierte ...

Will man sich detailliert über die Geschichte Londons informieren, gibt es drei Möglichkeiten, die ich allesamt nachdrücklich empfehlen kann. Erstens: Vor Ort bietet sich das informative und sehr gut kuratierte Museum of London an. Zweitens: Peter Ackroyds brillantes Buch „London – Die Biographie. Und dann gibt es noch die dritte Möglichkeit für all diejenigen, die Historisches am liebsten verpackt in einer spannenden Story lesen. Denen empfehle ich die Rivers-of-London Romane von Ben Aaronovitch, in der man gemeinsam mit Peter Grant, Bobby bei der Metropolitan Police, tief in die Geschichte der englischen Metropole eintauchen kann. In „Die Silberkammer in der Chancery Lane“, dem aktuellen Band dieser Urban-Fantasy-Reihe, wird der Radius sogar erweitert, denn Peter muss im Zuge der Ermittlungen nicht nur in den englischen Norden reisen, sondern kommt auch in Kontakt mit Ereignissen, die bis ins Mittelalter und zu Oliver Cromwell zurückreichen.

Die unterirdischen „London Silver Vaults“ beherbergen die größte Silbersammlung der Welt. 1885 ursprünglich als Tresorräume für Privatleute konzipiert, wurden die sicheren Räumlichkeiten im Lauf der Jahre zunehmend von Silberhändlern genutzt und sind mittlerweile quasi eine Shopping Mall für Silberwaren. Als von dort ein versuchter Raubüberfall mit Todesfolge gemeldet wird, der eindeutig übernatürliche Züge zeigt, wird das Team von Thomas Nightingale, Inspektor und letzter Zauberer Englands, sein Protégé Peter Grant, der mittlerweile auch als Ausbilder tätig ist, die Praktikantin Danni Wickford und DS Sahra Guleed zum Tatort gerufen. Nicht nur, dass der Tote ein riesiges Loch in der Brust hat, bei der Autopsie findet Dr. Walid in dessen Körper einen Metallzylinder mit einer Vestigia-Signatur. Mit dieser Art Magie können weder Nightingale noch Grant etwas anfangen. Erst die Befragung der Ex-Frau des Ermordeten weist die Richtung, aber noch ist nicht allen Beteiligten klar, worum es letztlich geht. Vor allem rechnet niemand damit, dass dieser Ring noch weitere Todesopfer fordern wird.

Aaronovitch verbindet in dieser Reihe die Merkmale des klassischen Polizeiromans mit jeder Menge Fantasyelementen, verortet dies an realen Locations, webt interessante Hintergrundinformationen ein und garniert das alles mit einer unterhaltsamen Prise englischen Humors, die an Monty Python erinnert. So muss Urban Fantasy sein: Spannung, Fantasy, Historie und Witz, eine absolut gelungene Mischung, die immer wieder eine höchst vergnügliche Lektüre garantiert. To be continued…ich freue mich darauf.

P.S. Das Gendern in der Übersetzung hätte man sich schenken können.

Veröffentlicht am 27.04.2022

Die Macht der Sprache

Die Sammlerin der verlorenen Wörter
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„Wörter definieren uns, sie erklären uns, und manchmal dienen sie auch dazu, uns zu kontrollieren oder zu isolieren.“ (S. 505)

Kein Internet, keine Wikipedia, deshalb waren während Schulzeit und Studium ...

„Wörter definieren uns, sie erklären uns, und manchmal dienen sie auch dazu, uns zu kontrollieren oder zu isolieren.“ (S. 505)

Kein Internet, keine Wikipedia, deshalb waren während Schulzeit und Studium das Oxford Dictionary neben Duden und Brockhaus meine ständigen Begleiter. Gedanken darüber, wie die Wörter und Definitonen in die Nachschlagewerke gekommen sind, habe ich mir aber nie gemacht. Diese Leerstelle, zumindest im Hinblick auf das englische Wörterbuch, füllt die Sozialwissenschaftlerin Pip Williams mit ihrem ersten Roman „Die Sammlerin der verlorenen Wörter“, in dem sie dessen Entstehung aus der Sicht von Esme Nicoll begleitet.

Esme ist die Tochter eines alleinerziehenden Lexikographen, der als Mitarbeiter von Sir James Murray an der Erstellung der ersten Ausgabe des ersten Oxford English Dictionary mitarbeitet. Der Vater ist einer von vielen Helfern, sammelt und katalogisiert die auf Zetteln eingesandten Worte samt Definitonen. Interessanterweise wird aber nicht jedes dieser Worte wichtig genug, um einen Platz im OED zu finden. Das merkt auch Esme ziemlich schnell, die ihren Vater bei seiner Arbeit begleitet und ihm die vom Tisch heruntergefallenen Einsendungen reicht. Auf einem dieser Zettel steht „Bonemaid“ (= Magd, im weitesten Sinn), ein Wort, das sie ihr Leben lang begleiten wird und Antrieb für all ihre Bemühungen ist, hat ihr Vater diesen Zettel doch umgehend entsorgt.

Und so fängt sie an, diese ausrangierten Begriffe zu sammeln und stellt fest, dass sie alle eine Gemeinsamkeit haben. Bei ihnen geht es ausnahmslos um Erfahrungen und Dinge des täglichen Lebens der Frauen und der einfachen Bevölkerung. In ihr reift der Plan, aus diesen „verlorenen“ Worten ihr eigenes Wörtbuch zu schaffen, damit auch diese Menschen gehört werden. Aber dafür muss sie zuerst einmal den Universitätskosmos verlassen und in deren Welt eintauchen.

Die zeitliche Einordnung ist immens wichtig für diesen Roman, der 1887 beginnt und weit bis ins zwanzigste Jahrhundert hineinreicht. Das Viktorianische Zeitalter neigt sich dem Ende zu, die Industrialisierung nimmt Fahrt auf, es ist eine Zeit des Wandels, die ganz allmählich gesellschaftliche Veränderungen einläutet. Die bestehenden Klassenunterschiede werden thematisiert, die Rolle der Frauen hinterfragt, die Suffragetten fordern das Wahlrecht und gehen auf die Barrikaden und der Erste Weltkrieg steht vor der Tür. All dies wird aus Esmes Sicht beschrieben und festigt sie in ihrer Meinung, dass es die Sprache der Männer ist, die die Gegenwart regiert, Geschichte schreibt, die Stimmen der Frauen außen vor bleiben.

Ein berührender, und ja, auch ein feministischer Roman über die Macht der Sprache, der Anstösse gibt und zum Nachdenken anregt.

Veröffentlicht am 24.04.2022

Brisantes Thema, hochspannend umgesetzt

Mörderische Witwen
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Mein Interesse an skandinavischen Krimis hat in den vergangenen Jahren spürbar abgenommen. Zum einen liegt das an der Vielzahl der mittelmäßigen Autoren, die den Buchmarkt überschwemmt haben, zum anderen ...

Mein Interesse an skandinavischen Krimis hat in den vergangenen Jahren spürbar abgenommen. Zum einen liegt das an der Vielzahl der mittelmäßigen Autoren, die den Buchmarkt überschwemmt haben, zum anderen an der Banalität der Themen, die sich kaum noch von denen der üblichen Massenware unterscheiden.

Einer der wenigen Autoren, die aus dem Angebot herausstechen, ist Pascal Engman, ein ehemaliger Journalist, der in seiner Vanessa-Frank-Reihe mit kritischem Blick auf sein Heimatland Schweden schaut und in seinen Romanen Themen aufgreift, die an den Pfeilern der schwedischen Gesellschaft rütteln. Rechtsnationalismus, Misogynie und nun IS-Terrorismus in „Mörderische Witwen“.

Die Prostituierte Molly bewegt sich in einflussreichen Kreisen und hört zufällig ein Gespräch mit brisantem Inhalt an.

Der Sohn des IT-Experten Axel wird bei einem Unfall mit Fahrerflucht lebensgefährlich verletzt, woraufhin dieser alles daran setzt, den Verantwortlichen ausfindig zu machen.

Nicolas Paredes arbeitet mittlerweile als Bodyguard für eine vermögende Familie, deren Oberhaupt in dubiose Geschäfte verwickelt ist.

Zwei Tote im Park. Ein Polizist, erschossen. Eine weibliche Unbekannte, erstochen. Als klar ist, um wen es sich bei ihr handelt, bricht für Vanessa Frank eine Welt zusammen. Obwohl sie von dem Fall abgezogen wird, ermittelt sie weiter und fördert Informationen zutage, die ihr den Boden unter den Füßen wegziehen.

Europäische Frauen, verheiratet mit aktiven IS-Kämpfern und nach deren in ihre Heimatländer zurückkehren, um dort den Kampf weiterzuführen. Ein aktuelles, politisch brisantes Thema, das in den zurückliegenden Monaten vielfach durch die Presse gegangen ist. Authentisch und realistisch.

Viele Handlungsstränge, anfangs sauber getrennt, die sich im Verlauf der Story schlüssig verbinden. Unterschiedliche Perspektiven, die parallel abwechselnd in kurzen Kapiteln geschildert werden. Nicht verwirrend, sondern logisch aufeinander aufgebaut und sich allmählich verzahnend. Hohes Tempo, keine Längen. Spannung, die kontinuierlich wächst und das Interesse hoch hält. Das beherrscht kaum ein Thrillerautor so perfekt wie Pascal Engman.