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Veröffentlicht am 20.11.2021

Vom Gehen und Bleiben

Wenn ich wiederkomme
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In Deutschland sind Stand 2019 ca. 300.000 osteuropäische Pflegekräfte in Privathaushalten im Einsatz und betreuen dort, oft rund um die Uhr, pflegebedürftige Senioren. Eine Zahl, die wahrscheinlich in ...

In Deutschland sind Stand 2019 ca. 300.000 osteuropäische Pflegekräfte in Privathaushalten im Einsatz und betreuen dort, oft rund um die Uhr, pflegebedürftige Senioren. Eine Zahl, die wahrscheinlich in den kommenden Jahren weiter ansteigen wird, da sich viele Familien die kostspielige Unterbringung von Oma oder Opa in einem Pflegeheim nicht leisten können. Ein Problem, das sich quer durch Europa zieht.

Während es in Deutschland meist polnische Frauen sind, die diese Arbeit erledigen, kommt in Italien die Mehrzahl der Pflegerinnen aus Rumänien, ein Fakt, den der Mailänder Autor Marco Balzano seinem neuen Roman „Wenn ich wiederkomme“ zugrunde gelegt hat.

Was macht es mit einem Menschen, wenn er die Heimat verlassen muss? Und was macht es mit denen, die zurückbleiben? Das sind offenbar die elementaren Fragen, die Balzano umtreiben. War es in „Ich bleibe hier“ noch die Zwangsevakuierung, der sich die Protagonistin widersetzt, so steht nun Daniela, eine rumänische Ehefrau und Mutter vor dieser Entscheidung. Soll sie bleiben und ihre Familie weiter von der Hand in den Mund leben, oder wird sie in die Fremde gehen, um ihren Kindern eine finanziell gesicherte Zukunft und somit auch eine ordentliche Ausbildung bieten zu können? Sie entscheidet sich für letzteres, nicht ahnend, welche Konsequenzen es für sie und ihre Familie nach sich ziehen wird.

Von dem Vater ist keine Hilfe zu erwarten er ist kaum präsent, unzuverlässig. Fels in der Brandung ist Großvater Mihal, der sich rührend um Enkel und Enkelin kümmert. Er ist nach dem Weggang der Mutter die einzige Konstante, versucht den Kindern Stabilität zu geben, sorgt sich um sie. Doch dann stirbt er, und sein Verlust hat weitreichende Konsequenzen für die Zurückgebliebenen.

Es ist eine eindrücklich geschilderte Familiengeschichte, an der uns der Autor aus den verschiedenen Perspektiven (Mutter, Tochter, Sohn) teilhaben lässt. Eine Geschichte, die mit Sicherheit so immer wieder in den Familien der Arbeitsmigranten vorkommt und auch zukünftig vorkommen wird, vor allem dann, wenn man sich die Zahl vergegenwärtigt, die 2020 im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht wurde. Man geht von knapp 500.000 Pflegebedürftigen aus, die in Privathaushalten leben. Und mit zunehmender Überalterung der Gesellschaft wird diese Zahl weiter ansteigen. Eine Tatsache, die keine Pflegeversicherung auffangen kann, aber offenbar der Politik kein Kopfzerbrechen verursacht.

Veröffentlicht am 17.11.2021

Ein Gemälde in üppigen Farben

Diebe des Lichts
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Lust auf einen Ausflug in die italienische Renaissance? Dann solltet ihr zu „Diebe des Lichts“ greifen, dem Roman des Historikers und Journalisten Philipp Blum, der es hier wie kein anderer versteht, diese ...

Lust auf einen Ausflug in die italienische Renaissance? Dann solltet ihr zu „Diebe des Lichts“ greifen, dem Roman des Historikers und Journalisten Philipp Blum, der es hier wie kein anderer versteht, diese Epoche zum Leben zu erwecken.

Begleiten wir Sander und Hugo, die beiden Brüder aus Flandern, die bei einer Vergeltungsaktion der spanischen Besatzer miterleben, wie ihr Vater abgeschlachtet und ihr Gehöft niedergebrannt wird. Ein Wendepunkt in ihrem Leben, denn nun müssen sie für sich selber sorgen. Sie verlassen ihre Heimat auf der Suche nach einem Neuanfang. Ein Maler hat Mitleid, bildet Sander in der Kunst des Blumenmalens aus und lehrt dessen Bruder das Farbenmischen. Hugo verschließt sich, spricht nicht mehr, vergräbt die Wut über das Erlebte tief in seinem Inneren, doch sein Jähzorn bricht sich immer wieder Bahn und ist schließlich auch dafür verantwortlich, dass die Brüder einmal mehr gewohntes Terrain verlassen müssen. Ihr Weg führt sie nach Italien. Rom, Neapel und Palermo sind die Stationen ihrer nicht immer freiwilligen Reise, auf der Sander seine Fähigkeiten komplettiert und als Maler zu Ansehen gelangt. Hugo hingegen mischt tagsüber weiter die Farben und kämpft in der Nacht mit seinen Dämonen. Aber es kommt der Tag, an dem auch Sander zwischen die Fronten gerät und sich entscheiden muss…

Philipp Blom zeichnet in üppigen Farben zum einen das Gemälde einer Zeit, die von politischen und religiösen Konflikten geprägt ist, zum anderen aber auch das Bild einer zerissenen Gesellschaft. Hier Adel, Kirche und deren Günstlinge, dort das einfache Volk, das von der Hand in den Mund lebt. Intrigen und Verschwörungen prägen diese Zeit, die Verfolgung Andersdenkender ist eher die Regel als die Ausnahme. Die kirchliche Obrigkeit bestraft erbarmungslos jeden, der aus der Reihe tanzt. Man nennt sie Ketzer, die klugen Köpfe aus Dichtung, Kunst, Wissenschaft. Giordano Bruno, Caravaggio, Galileo Galilei, man kennt die Namen, weiß um deren Schicksal. Die Inquisition macht vor niemandem Halt. Kerker und/oder Verbannung sind noch die harmlosesten Strafen, der Tod auf dem Scheiterhaufen erfreut nicht nur die Kirchenoberen sondern bietet auch dem Pöbel Abwechslung aus dem freudlosen Alltag.

Ein gut recherchierter historischer Roman, dessen sprachliche Qualität weit über dem Durchschnitt dessen liegt, was man üblicherweise in diesem Genre erwarten darf. Sehr empfehlenswert!

Veröffentlicht am 11.11.2021

Schottisch schwarz

Bobby March forever
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Der schottische Autor Alan Parks hat seine im Januar 1973 startende Harry McCoy Reihe analog der Monate auf zwölf Bände angelegt. Die beiden ersten Monate sind bereits abgearbeitet (Blutiger Januar, Tod ...

Der schottische Autor Alan Parks hat seine im Januar 1973 startende Harry McCoy Reihe analog der Monate auf zwölf Bände angelegt. Die beiden ersten Monate sind bereits abgearbeitet (Blutiger Januar, Tod im Februar), weiter geht es mit März und „Bobby March Forever“.

Eine Bemerkung für all jene, die noch nichts von Parks gelesen haben. Er hat jahrelang im Musikbusiness gearbeitet, lässt immer wieder Infos zu Musikern, Bands und Veranstaltungen einfließen und vermittelt so auch einen guten Überblick über Zeitgeist und Szene der damaligen Zeit (wobei Bobby March ein fiktiver Charakter ist).

Sommer 1973: Bobby March wird tot im Hotelzimmer aufgefunden. Überdosis. Ein begnadeter Gitarrist, der bei den Stones einsteigen hätte können, von dem sogar Keith Richards nach seinem Vorspielen begeistert war. Jetzt aber nur ein neuer Zugang im Club 27. Harry McCoy soll die Todesumstände aufklären, sollte sich aber gleichzeitig um zwei verschwundene Mädchen kümmern, eines davon die Nichte seines Ex-Chefs und Mentors Murray. Aber sein neuer Boss DI Raeburn hat andere Pläne für ihn, will ihn von den Ermittlungen ausschließen und dafür mit Routineermittlungen zu einer Serie von Raubüberfällen zuschütten. Das Verhältnis der beiden ist von einer tiefen Abneigung geprägt. Raeburn weiß, dass McCoy der bessere Polizist ist, und McCoy verabscheut diesen unangenehmen, gewalttätigen, bis ins Mark korrupten und von Ehrgeiz zerfressenen Vorgesetzten. Also macht’s Harry wie immer, lässt Raeburn Raeburn sein, vertraut auf seinen Instinkt und ermittelt gemeinsam mit Wattie auf eigene Faust. Und dann muss er sich auch noch um Stevie Cooper, seinen Freund aus Kindertagen, kümmern, der in Glasgows Unterwelt die Fäden zieht, dick im Drogengeschäft vertreten ist und selbst an der Nadel hängt.

Hört sich nach einem überladenen Plot an? Ist es aber zu keinem Zeitpunkt, da Parks bis zum Ende sämtliche Fäden souverän in der Hand hält und die Schnittstellen logisch aufbaut. Er zeigt uns die düsteren Seiten der schottischen Metropole, nimmt uns mit in die heruntergekommenen Viertel und hat mit Harry McCoy einen Charakter geschaffen, der mit seiner eigenwilligen Arbeitsmoral vor allem Gerechtigkeit für diejenigen sucht, die im Schatten stehen.

Schottisch-schwarze Atmosphäre, Zeitkolorit und Musik der 70er sowie ein sympathischer, loyaler Ermittler, all das verpackt in eine vielschichtige Krimihandlung. Das ist es, was diese Reihe auszeichnet. Lesen!

Veröffentlicht am 02.11.2021

Eine liebevolle Hommage

Der Nachtwächter
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Louise Erdrich, Autorin mit Chippewa-Wurzeln, 2021 mit dem Pulitzer 2021 für diesen Roman ausgezeichnet, zeigt in „Der Nachtwächter“ das dunkle Kapitel der „Termination Bill“ auf, die ihren Anfang zu Beginn ...

Louise Erdrich, Autorin mit Chippewa-Wurzeln, 2021 mit dem Pulitzer 2021 für diesen Roman ausgezeichnet, zeigt in „Der Nachtwächter“ das dunkle Kapitel der „Termination Bill“ auf, die ihren Anfang zu Beginn der fünfziger Jahre hat. Verträge, die seit langem Bestand haben, werden gebrochen mit dem Ziel, die Stämme zu zerschlagen, die Ureinwohner von ihrem Land zu vertreiben und in Städte umzusiedeln. Schlussendlich Landraub mit legitimen Mitteln. Druck wird im Wesentlichen über die finanzielle Schiene aufgebaut. Den Stämmen wird der autonome Status aberkannt, die Entschädigungszahlungen für die Besiedlung von Stammesland eingestellt. Die Auswirkungen, die dies hat, sind bis heute deutlich zu sehen: Armut, Alkoholismus, Arbeitslosigkeit, fehlende Perspektiven und nicht zuletzt der Identitätsverlust der Vertriebenen.

Erdrichs Großvater wurde im Turtle Mountain Reservat in North Dakota geboren, und seine Geschichte ist Inspiration und Grundlage für diesen Roman, in dessen Zentrum Thomas Wazhushk steht. Nachts bewacht er eine Fabrik, in der tagsüber die Frauen des Turtle-Mountain-Clans arbeiten, unter anderem auch seine Nichte Pixie. Thomas ist ein guter, ein mitfühlender Mensch und will die anstehende Vertreibung mit allen Mitteln verhindern, weshalb er einerseits innerhalb des Reservats versucht, zu informieren und einen Marsch nach Washington zu organisieren, andererseits aber auch viele Nächte damit verbringt, lange Briefe an die Verantwortlichen in Washington zu schreiben, um seinen Stamm vor der Auslöschung, aber auch den Erfahrungen zu bewahren, die Pixie machen muss, als sie in Minneapolis nach ihrer Schwester sucht, die das Reservat verlassen hat und spurlos verschwunden ist.

Es ist ein buntes Kaleidoskop, zusammengesetzt aus unzähligen Einzelschicksalen, Drama und leisem Humor, übernatürlichen Erscheinungen, Mystik und Spiritualität. Eine liebe- und respektvolle Hommage an die Menschen, die trotz aller Widrigkeiten ihre Würde behalten und mit aller Entschlossenheit für ihre Traditionen und ihre Existenz kämpfen. Lesen!

Veröffentlicht am 30.10.2021

Viele Fragen, keine Antworten

Inmitten der Nacht
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„Inmitten der Nacht“ habe ich ausgewählt, weil er auf der Leseliste des ehemaligen US-Präsidenten Obama zu finden ist. Und alle Bücher, die ich in der Vergangenheit aufgrund seiner Empfehlungen gelesen ...

„Inmitten der Nacht“ habe ich ausgewählt, weil er auf der Leseliste des ehemaligen US-Präsidenten Obama zu finden ist. Und alle Bücher, die ich in der Vergangenheit aufgrund seiner Empfehlungen gelesen habe, konnten überzeugen. So auch dieses.

Amanda, Clay und die beiden Kinder, eine weiße Mittelklasse-Familie aus Brooklyn, mieten für den Familienurlaub eine Luxus-Villa auf Long Island. Das großzügige Anwesen liegt abgelegen im Wald, es gibt keine Nachbarn und zum Einkaufen muss man einige Zeit fahren. Das Anwesen lässt keine Wünsche offen, Pool, Jakuzzi, hochwertige Ausstattung, alles vorhanden. Entspannung pur, die allerdings nur kurz währt, denn schon am Abend des ersten Urlaubstages steht ein älteres Paar, Ruth und GH, unangemeldet vor der Tür, schwarz, völlig verstört. Wenn man ihren Aussagen Glauben schenken kann, sind sie die Besitzer des Hauses und suchen Zuflucht, weil ein großflächiger Stromausfall New York lahmgelegt hat und sie nicht in ihre Wohnung in der Park Avenue gelangen können. Verifizieren lässt sich diese Aussage nicht, denn weder TV, noch Internet oder Telefon funktionieren. Sämtliche Verbindungen zur Außenwelt sind gekappt.

Aus dieser Ausgangssituation entwickelt sich ein Szenario, das zu Beginn nur mysteriös erscheint, aber im Verlauf der Handlung zunehmend bedrohliche Züge annimmt. Was geht da draußen vor sich? Soll man das vermeintlich sichere Refugium verlassen und in die Stadt zurückkehren? Ist das wirklich nur ein Stromausfall? Ist das Land im Krieg? Wurden Atomwaffen eingesetzt? Was hat es mit der Herde Rehe auf sich oder den Flamingos, die urplötzlich auf dem Grundstück auftauchen? Woher kommt der ohrenbetäubende Knall, der Risse in den Glasscheiben verursacht?

Es gibt keine Antworten, nur Unsicherheit, eine verwirrende neue „Normalität“, mit der die beiden Familien zurechtkommen, sich trotz aller Vorurteile und Zweifel zusammenraufen, unterstützen müssen, damit sie eine Überlebenschance haben.

„Leave the world behind“, so der Originaltitel, ist ein Roman, der perfekt in unsere Zeit passt. Beeindruckender und beunruhigend. Packend und atmosphärisch. Der die Hilflosigkeit, die Verunsicherung, den Kontrollverlust und die Ängste thematisiert. Der auch die Themen Vorurteile und Rassismus nicht ausklammert. Ein Roman über eine beängstigende Zukunft, am ehesten vergleichbar mit Cormac McCarthys „Die Straße“. Ein Roman über unsere Gegenwart, der viele Fragen aufwirft, aber keine einfachen Antworten parat hat. Lesen!