Profilbild von Havers

Havers

Lesejury Star
offline

Havers ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Havers über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 27.04.2021

Mann gegen Mann

Der Abstinent
0

Durch die Industrialisierung ist Manchester im 19. Jahrhundert eine Stadt im Aufwind. Die Textilfabriken versprechen Arbeit und ziehen Einwanderer aus allen Ecken des Königreiches an. Auch viele Iren folgen ...

Durch die Industrialisierung ist Manchester im 19. Jahrhundert eine Stadt im Aufwind. Die Textilfabriken versprechen Arbeit und ziehen Einwanderer aus allen Ecken des Königreiches an. Auch viele Iren folgen dem Ruf, müssen aber bald feststellen, dass sich ihre Hoffnungen auf ein besseres Leben nicht erfüllen. Sie werden für die niedrigsten Arbeiten eingesetzt und kärglich entlohnt, ihre Lebensumstände sind erbärmlich, Diskriminierungen an der Tagesordnung. Unmut macht sich breit, im Untergrund versammelt die Irisch-Republikanische Bruderschaft ihre Anhänger um sich. Die Polizei hat alle Hände voll zu tun, denn es kommt immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, die mit aller Härte niedergeschlagen und bestraft werden.

1867 werden im Morgengrauen drei irischen Rebellen in Manchester hingerichtet, denen man den Mord an einem Polizeibeamten anlastet. Ein von der englischen Obrigkeit unterschätztes Fanal, das einen verheerenden Kreislauf der Gewalt in Gang setzt. Auf englischer Seite steht James O'Connor, der titelgebende „Abstinent“, ein irischer Außenseiter aus Dublin, strafversetzt zur Manchester Division, der diese im Kampf gegen seine Landsleute unterstützen soll. Ein Informant berichtet ihm von einer Racheaktion der Fenians, die offenbar einen Veteranen aus dem US-Bürgerkrieg ins Boot geholt haben. Sein Name: Stephen Doyle. Seine Profession: Skrupelloser Auftragsmörder. Zwischen diesen beiden Männern entspinnt sich ein tödliches Katz-und-Maus Spiel, indem insbesondere O'Connor einmal mehr Verluste beklagen muss.

Was die beiden Protagonisten angeht, belässt es McGuire weitgehend bei Andeutungen. Biografische Details erfährt man peu à peu, die Trostlosigkeit beider Existenzen erschließt sich aus dem Kontext. Wie bereits in seinem 2016 für den Booker Prize nominierten Roman „Nordwasser“ überzeugt der Autor vor allem durch seine atmosphärischen Beschreibungen jenseits von Militärparaden und Afternoon-Tea. Die düsteren Ecken der viktorianischen Industriestadt, den Gestank, die verratzte Kneipen und die Rattenkämpfe zur Unterhaltung. Er zeigt die Armut, den täglichen Überlebenskampf und die daraus entstehende Gewalt, die die Bedeutung von Menschenleben auf ein Minimum reduziert. Lesen!

Veröffentlicht am 22.04.2021

Sizilien auf dem Teller

Echt sizilianisch kochen
0

Italienische Küche hat so viel mehr als Pasta mit Tomatensugo und Pizza zu bieten. Das wird jede/r bestätigen können, der schon einmal abseits touristischer Pfade in dem Land „wo die Zitronen blühen“ unterwegs ...

Italienische Küche hat so viel mehr als Pasta mit Tomatensugo und Pizza zu bieten. Das wird jede/r bestätigen können, der schon einmal abseits touristischer Pfade in dem Land „wo die Zitronen blühen“ unterwegs war. Marinella Sammarco ist Sizilianerin mit Leib und Seele und Wahl-Stuttgarterin. Sie ist keine ausgebildete Köchin, sondern hat ihr Handwerk von ihrer Oma auf dem Bauernhof und „learning by doing“ von Angelo, ihrem Mann gelernt, mit dem sie nach verschiedenen Stationen mittlerweile in Stuttgart das Restaurant „Il Ritorno“ führt.

Ihr Kochen ist geprägt von den traditionellen Rezepten der Inselküche, die sich schon durch die Einflüsse der unterschiedlichen Völker, die sich im Lauf der Geschichte in Sizilien niedergelassen haben, von der klassischen italienischen Küche unterscheiden. Aber sie ist auch aufgeschlossen für deren Veränderung, wechselt zwischen Tradition und kreativer Innovation, und das schlägt sich auch in der Gestaltung ihres Kochbuchs nieder, das neben Rezepten angefüllt ist mit ihren individuellen Beschreibungen und jeder Menge Tipps.

Zwei große Blöcke bestimmen die Auswahl der vorgestellten Gerichte: Tradizione und Innovazione, die sie auch innerhalb der in italienischen Restaurants üblichen Speisefolge beachtet. Antipasti, Primi Piatti, Secondo Piatti sowie Dolci. Natürlich sind die Klassiker vertreten, aber es gibt auf viel Neues zu entdecken, sei es in der Art der Zubereitung oder auch bei den verwendeten Gewürzen. Ansprechende Fotos runden die Beschreibung der benötigten Zutaten sowie die detaillierten Angaben zur Zubereitung ab.

Gerade in der aktuellen Situation ein höchst willkommenes Koch- und Lesebuch, mit dem man sich ohne großen Aufwand ein Stück Sizilien auf den Teller holen kann. Sehr empfehlenswert!

Veröffentlicht am 20.04.2021

Männliche Abgründe

Weiter Himmel
0

Endlich! Neun Jahre hat es bis zur Rückkehr von Jackson Brodie gedauert, obwohl er im fünften Band der Reihe nur eine Nebenrolle einnimmt. Mittlerweile führt der Ex-Polizist, Privatermittler und Teilzeitvater ...

Endlich! Neun Jahre hat es bis zur Rückkehr von Jackson Brodie gedauert, obwohl er im fünften Band der Reihe nur eine Nebenrolle einnimmt. Mittlerweile führt der Ex-Polizist, Privatermittler und Teilzeitvater ein ziemlich unspektakuläres Leben in Yorkshire, spricht noch immer mit seinen Hund und setzt sich mit seinem pubertierenden Sohn auseinander. Einige Kilometer weiter gehen in Whitby die drei gutsituierten Freunde Tommy, Andy und Steve unter dem Deckmantel der Wohlanständigkeit ihren schmutzigen Geschäften nach.

Soweit der Rahmen innerhalb dessen Kate Atkinson eine Story entwickelt, deren Bezug zu einem realen Missbrauchsskandal offensichtlich ist. In den Jahren zwischen 2012 und 2015 wurden im Zuge der „Operation Yewtree“ damals ein Pädophilenring gesprengt und zahlreiche prominente Personen verhaftet, angeklagt und verurteilt.

„Weiter Himmel“ ist kein Kriminalroman, obwohl die Autorin schon allein aufgrund der Thematik Anleihen bei diesem Genre macht. Sie zeigt uns die Abgründe, die innerhalb wohlanständiger Familien lauern, und das macht sie äußerst geschickt. Es dauert, bis ein roter Faden erkennbar ist und alle Akteure ihren Platz finden. Auf den ersten hundert Seiten gibt es viele Andeutungen, Informationen, deren Relevanz sich erst allmählich erschließt. Manch eine/r mag es als Detailverliebtheit bezeichnen, aber was mich immer wieder begeistert ist die Sorgfalt, mit der die Autorin den Charakter der jeweiligen Person ausarbeitet. Jede/r hat eine Vergangenheit, Geheimnisse, eine persönliche Geschichte, die sein/ihr Handeln im banalen Alltag prägen und nachvollziehbar machen. Besonders deutlich wird das im Fall von Crystal und Harry.

Atkinson ist eine ausgezeichnete Autorin und versteht es, ein ernstes Thema mit Fingerspitzengefühl in eine gut durchdachte Handlung einzuarbeiten. Passend dazu die Schilderungen einer Region, die schon bessere Tage gesehen hat, sowie die melancholischen Rückblicke in die Vergangenheit der Akteure. Dazu eine gehörige Prise englisch-trockener Humor, und fertig ist ein großartiger Roman, den ich in einem Rutsch gelesen habe.

Veröffentlicht am 19.04.2021

Indisches Fast Food im besten Sinne

Einfach indisch – Kochen mit 7 Zutaten
0

Indisches Essen? Sehr lecker. Indisch kochen? Sehr aufwendig. Komplexe Zutatenlisten, gespickt mit Gewürzen, deren Beschaffung endlos Zeit in Anspruch nimmt, sowie Kochzeiten, die es fast unmöglich machen, ...

Indisches Essen? Sehr lecker. Indisch kochen? Sehr aufwendig. Komplexe Zutatenlisten, gespickt mit Gewürzen, deren Beschaffung endlos Zeit in Anspruch nimmt, sowie Kochzeiten, die es fast unmöglich machen, auf die Schnelle eine warme Mahlzeit auf den Tisch zu bringen. Aber dies gehört nun glücklicherweise seit Monisha Bharadwajs „Einfach indisch – Kochen mit 7 Zutaten“ der Vergangenheit an, denn die mehrfach ausgezeichnete Kochbuch-Autorin hat ihre Rezepte den Anforderungen der Zeit angepasst und eine Vielzahl von Gerichten kreiert, deren Zubereitung sich weitgehend problemlos in den Alltag integrieren lässt.

Vorausschicken muss man allerdings noch, dass es zusätzlich drei Basis-Zutaten gibt, die zwar in den Auflistungen nicht vorhanden sind, aber häufiger in den Zubereitungsempfehlungen auftauchen, als da wären Sonnenblumenöl, Salz sowie Ingwer-Knoblauch-Paste, für deren Herstellung es eine Anleitung gibt. Auf DIY kann/muss man auch bei dem öfter verwendeten und nicht überall erhältlichen indischen Frischkäse Panir (oder Paneer) zurückgreifen. Hier fehlt leider das Rezept (Vollmilch plus Zitronensaft), ist aber in anderen indischen Kochbüchern oder im Internet zu finden.

Zur Einleitung gibt es eine kleine Gewürzkunde sowie einen Blick in den Vorratsschrank. Die Rezepte sind nach ihren Eigenschaften gegliedert: Frisch, Tröstlich, Schnell, Herzhaft, Süß. Einzig One Pot und Vegan tanzen hier aus der Reihe. Currys und Eintöpfe mit viel Gemüse überwiegen, die Zutatenlisten sind durch die Verknappung auf 7 Komponenten übersichtlich und die Zutaten preiswert(oft Hülsenfrüchte). Die Zubereitung ist gut beschrieben und unkompliziert, erfordert keine besonderen Kenntnisse. Der Zeitaufwand ist übersichtlich, und so steht nach maximal 60 Minuten ein leckeres indisches Essen auf dem Tisch. Indisches Fast Food im besten Sinne. Guten Appetit!

Veröffentlicht am 18.04.2021

Lesenswerter historischer Krimi aus dem besetzten Paris

Die Toten vom Gare d’Austerlitz
0

Am 14. Juni 1940 marschieren die Nationalsozialisten in Paris ein und übernehmen die Kontrolle. Ausgangssperre, massive Eingriffe in das öffentliche Leben, Sanktionen. Fluchtartig verlassen die Einwohner ...

Am 14. Juni 1940 marschieren die Nationalsozialisten in Paris ein und übernehmen die Kontrolle. Ausgangssperre, massive Eingriffe in das öffentliche Leben, Sanktionen. Fluchtartig verlassen die Einwohner die Stadt, nur wenige bleiben zurück. Unter ihnen Eddie Giral, Kommissar der Pariser Polizei, der sich in seinem aktuellen Fall mit den neuen Machthabern in Gestalt des ambitionierten Major Hochstetter auseinandersetzen muss. Auf dem Gelände des Gare d’Austerlitz werden vier Tote in einem Eisenbahnwaggon gefunden, offenbar polnische Flüchtlinge, vergiftet mit Gas. Kurze Zeit später setzt ein weiterer Pole seinem Leben durch einen Sprung aus dem Fenster seinem Leben ein Ende und nimmt seinen kleinen Sohn mit in den Tod. Beiden Fällen gemeinsam ist die Verbindung zu der polnischen Stadt Bydgoszcz, in der die Nazis 1939 unvorstellbare Gräueltaten begangen haben.

Lloyd arbeitet mit zwei Erzählsträngen. Da ist zum einen die 1940er Gegenwart, die sich mit Girals Ermittlungen und seiner Suche nach Antworten auseinandersetzt. Gleichzeitig zeichnet er das authentische Bild einer Metropole, deren Alltag von vielerlei Einschränkungen, Schikanen und Erniedrigungen geprägt ist. In der die Besatzer unmissverständlich zeigen, wer das Sagen hat. Aber Giral hat seinen eigenen Kopf, schert sich wenig um Befehle und bringt sich so immer wieder in die Bredouille. Er scheut kein Risiko, was wohl auch seiner latenten Todessehnsucht geschuldet ist. Das bringt uns zur zweiten Zeitebene im Jahr 1925. Der Erste Weltkrieg ist vorbei, in dem Giral Soldat war. Zwar hat er überlebt, kann sich aber von den peinigenden Erinnerungen nicht befreien. Sie zerstören seine Familie, nehmen ihm alles, was ihm wichtig ist. Aber vielleicht hat er ja doch noch eine Chance zur Wiedergutmachung.

Ein lesenswerter historischer Kriminalroman zwischen Besatzung und Widerstand, gekonnt mit Fakten und Fiktion spielend, atmosphärisch in Szene gesetzt, der einmal mehr den Fokus auf ein dunkles Kapitel der deutschen Geschichte richtet.