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Veröffentlicht am 05.08.2019

Innenwelt und Außenwelt

Die Hütte des Schäfers
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Jaxie Clackton ist auf der Flucht. Dabei ist er kein Krimineller, sondern nur ein ängstlicher 15jähriger Junge. Sein Vater liegt tot in der Einfahrt unter seinem Auto. Der Wagenheber hat sich gelöst und ...

Jaxie Clackton ist auf der Flucht. Dabei ist er kein Krimineller, sondern nur ein ängstlicher 15jähriger Junge. Sein Vater liegt tot in der Einfahrt unter seinem Auto. Der Wagenheber hat sich gelöst und jetzt ist er tot, der Vater. Obwohl, diese Bezeichnung verdient er eigentlich nicht. Er ist ein Säufer und Schläger, kein liebender Vater. Als Jaxies inzwischen an Krebs verstorbene Mutter noch lebte, hat er diese regelmäßig verprügelt. Inzwischen muss der Junge die Schläge einstecken. Mehr als einmal hat er dem Vater den Tod gewünscht, aber als er ihn da liegen sieht, befürchtet er nur, dass man ihn verantwortlich machen könnte. Flucht scheint der einzige Ausweg. Und er zieht los, Richtung Salzwüste im Norden. Allein auf sich gestellt, ist jeder Tag eine Herausforderung, ein Kampf ums Überleben in unwirtlicher Landschaft. Bis er auf eine kleine Hütte stößt, bewohnt von dem alten Priester Fintan, der dort Zuflucht und Vergessen gesucht hat. Obwohl anfangs voller Misstrauen, bleibt er.

Wintons Beschreibungen von Außenwelt und Innenwelt beeindrucken. Roh und abweisend. Die Menschen und die Umgebung. Die Landschaft Australiens, die Gewalt und Zerstörung von Menschenhand erfahren musste. Wie auch der Junge und der Priester, die sich beide ebenfalls mit ihrer Geschichte und ihren Verletzungen auseinandersetzen müssen. Die sich annähern, zögerlich zuerst, und damit einen Heilungsprozess einleiten. Auf der Suche nach Erlösung. Außenseiter, beide zerbrechlich. Mit mehr Fragen als Antworten. Eine Geschichte, die den Leser über das Ende hinaus beschäftigt.

Veröffentlicht am 30.07.2019

Ein Roman, der unter die Haut geht

Wenn Engel brennen
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„Wenn Engel brennen“ ist bereits der sechste Roman von Tawni O’Dell (geboren und aufgewachsen in Pennsylvania), aber der erste, der dank des Argument/Ariadne Verlags in deutscher Übersetzung vorliegt. ...

„Wenn Engel brennen“ ist bereits der sechste Roman von Tawni O’Dell (geboren und aufgewachsen in Pennsylvania), aber der erste, der dank des Argument/Ariadne Verlags in deutscher Übersetzung vorliegt. Bleibt zu hoffen, dass die anderen folgen werden, denn für mich ist er ein Highlight meines Lesejahres. O’Dell ist in Pennsylvania geboren und aufgewachsen und verortet auch ihre Romane dort.

Immer wieder brennen in der Bergbauregion Pennsylvanias die Kohleflöze. Das bekannteste Beispiel ist der Kohlebrand von Centralia, der seit 1962 nicht nur die Stadt sondern auch die Region unbewohnbar gemacht hat. Ähnliches ist auch Campell’s Run widerfahren, einem fiktiven Städtchen am Fuße der Appalachen. Die Feuer schwelen unterirdisch weiter, die Natur ist verwüstet, der Ort fast menschenleer. Doch dann wird in einer Minengrube eine Leiche gefunden, der Schädel eingeschlagen, mit Benzin übergossen und verbrannt. Ein Fall für Dove Carnahan, erste Polizeichefin von Buchanan und seit zehn Jahren im Amt, die gemeinsam mit State Trooper Nolan in diesem Fall ermittelt und im Zuge dessen sich auch mit ihrer eigenen Geschichte auseinandersetzen muss. Zwei Familien, zwei Geschichten. Menschen, die nicht nur Opfer sondern auch Täter sind.

Das Brandopfer ist Camio Truly, die aus einer Familie kommt, die jedem Lehrbuch als gelungenes Beispiel für Dysfunktionalität dienen könnte und mit der man sich besser nicht anlegen sollte. An der Spitze die Matriarchin Miranda, die mich sehr an Mags Bennett aus „Justified“ (TV-Serie nach Motiven von Elmore Leonards „Raylan“) erinnert hat. Keinen Widerspruch duldend, regiert sie ihre Redneck-Familie mit harter Hand. Und wehe dem, der ausscheren will. Da fügt man sich doch lieber und bleibt auf Kurs, wenn man nicht wie Camio enden will.

Das hört sich nach einem Kriminalroman an, ist aber weit mehr als das. O’Dell ist hier eine präzise Milieustudie gelungen. Über toxische Familienverhältnisse, über Menschen, von der Politik vergessen, nachdem ihre Lebensgrundlage zerstört wurde. Sie punktet mit sympathischen Charakteren, die sich nicht immer an die Vorschriften halten. Mit trockenem Humor. Mit einer Protagonistin, die sich des Alltagssexismus bewusst ist und diesen souverän händelt.

Ein Roman, der unter die Haut geht. Lest ihn, ihr werdet es nicht bereuen.

Veröffentlicht am 18.07.2019

Gnadenlos eindringlich

Wonder Valley
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Vor vielen Jahren habe ich Robert Altmans mehrfach preisgekrönten Film „Short Cuts“ gesehen, und bin seither ein Fan von Episodenerzählungen, sowohl filmisch als auch literarisch. Aber nur sehr selten ...

Vor vielen Jahren habe ich Robert Altmans mehrfach preisgekrönten Film „Short Cuts“ gesehen, und bin seither ein Fan von Episodenerzählungen, sowohl filmisch als auch literarisch. Aber nur sehr selten findet man einen Episodenroman, der so gut durchkomponiert ist wie „Wonder Valley“, in dem nach und nach jedes Steinchen an seinen Platz fällt und dem Leser schlussendlich ein Mosaik von unglaublicher Tiefe bietet.

Stadt der Engel, 2010. Ein Mann joggt in der morgendlichen Rushhour die Freeways entlang. Nackt, im Schlepptau Polizeiautos und einen Hubschrauber. Ein Anwalt auf dem Weg zur Arbeit steigt aus seinem Auto und läuft ihm hinterher. Ein anderer ist auf dem Weg Richtung Pazifik, seine Mutter auf der Rückbank, und schwitzt in dem geklauten Fahrzeug Blut und Wasser.

Alle unterwegs, alle auf der Flucht, alle auf der Suche. Pochoda switcht zwischen 2010 und 2006 hin und her, arbeitet mit dem Blick zurück, um die Handlungen ihrer Protagonisten in der Gegenwart zu erklären. Sie richtet ihren Fokus auf die Einzelschicksale, zeichnet so aber auch ein schonungsloses Bild der amerikanischen Gesellschaft. Es ist der Blick fürs Detail, der diesen Roman auszeichnet, ganz gleich, ob es um die Personen, ihre Geschichte oder ihre Lebensumstände geht. In der Vergangenheit und der Gegenwart. Das ist behutsam, aber dennoch eindringlich, oft gnadenlos, aber immer präzise. Der verlassene Trailerpark und die Aussteigerfarm in der Mojave Wüste, das Elendsviertel Skid Row und der Glamour in den Vororten von Los Angeles. Ren, Tony, Britt, Blake, und Sam, James. Fünf verschiedene Schicksale, die sich berühren, auseinanderdriften, wieder zusammenkommen, untrennbar miteinander verbunden sind. Alle auf der Flucht. Alle voller Sehnsucht. Alle auf der Suche nach dem einen Ort, an dem sie sein sollten, weil sie dort nicht hingehören, wo sie gerade sind.

„Wonder Valley“ ist außergewöhnlich, ein „diamond in the rough“ der zahllosen Neuerscheinungen, die den Buchmarkt überschwemmen. Unbedingt lesen!

Veröffentlicht am 17.07.2019

Reise ins Dunkel

Keine Kompromisse
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Zieht ein Mann durchs Land, kommt in eine Kleinstadt, und „hell breaks loose“. Der Mann, der den Ärger offenbar immer wieder magisch anzieht ist Jack Reacher, moderner Odysseus und Protagonist der Thriller-Reihe ...

Zieht ein Mann durchs Land, kommt in eine Kleinstadt, und „hell breaks loose“. Der Mann, der den Ärger offenbar immer wieder magisch anzieht ist Jack Reacher, moderner Odysseus und Protagonist der Thriller-Reihe von Lee Child, dessen Irrfahrten wir seit mittlerweile zwanzig Bänden begleiten. „Keine Kompromisse“, so nicht nur der Titel des neuesten Bandes sondern auch Reachers Credo.

Diesmal also Mother’s Rest, irgendwo im Nirgendwo von Oklahoma. Der Name klingt für Reacher nach Idylle, heimelig, weshalb er seine Tour nach Chicago unterbricht. Misstrauisch von den Einheimischen beäugt, schaut er sich um und hat ziemlich schnell das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmt. Die Begegnung mit Michelle Chang, früher beim FBI, jetzt als private Ermittlerin unterwegs, verstärkt diesen Eindruck. Sie ist auf der Suche nach ihrem Partner, aber auch dem Sohn eines Klienten, beide in Mother’s Rest wie vom Erdboden verschluckt. Reacher bietet Chang seine Unterstützung an, aber offenbar gibt es in dem Städtchen einige Leute, die etwas zu verbergen haben und denen die Nachforschungen der beiden gewaltig auf die Nerven gehen. Die Suche nach des Rätsels Lösung gestaltet sich schwierig und führt Chang und Reacher nicht nur in die Abgründe des Darknets sondern auch auf eine Reise quer durch die Vereinigten Staaten. Doch Anfang und Ende liegt in Mother’s Rest.

Spannung, Tempo und Action, das erwarte ich, wenn ich einen neuen Reacher in die Hand nehme. Und wie immer liefert Lee Child dies auch in seinem neuesten Roman zuverlässig. Allerdings weicht der Autor von seinem bekannten Schema ab, verlässt die ausgetretenen Pfade. Anders als in den Vorgängern ist es nicht von Anfang an offensichtlich sondern erfordert Durchhaltevermögen, bis man weiß, worum es geht, der „Unkaputtbare“ ist nach einer bösen Verletzung im Kampf auf die Hilfe seiner Partnerin angewiesen. Und er entwickelt Gefühle. Diese Entwicklungen fand ich absolut passend, entzaubert es doch den Superhelden-Mythos der Hauptfigur und macht aus einer reinen Kampfmaschine einen Menschen.

Sowohl für Wiederholungstäter als auch für Einsteiger geeignet.

Veröffentlicht am 10.07.2019

Ein intelligenter Krimi ohne Action und Verfolgungsjagden

Ein Sohn ist uns gegeben
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Donna Leon ist eine Konstante meines Leserlebens, ihre Brunetti-Romane begleiten mich seit über 25 Jahren. Eine Reihe, die nichts von ihrer Faszination für mich verloren hat. Die Autorin ist, wie auch ...

Donna Leon ist eine Konstante meines Leserlebens, ihre Brunetti-Romane begleiten mich seit über 25 Jahren. Eine Reihe, die nichts von ihrer Faszination für mich verloren hat. Die Autorin ist, wie auch ich, gealtert, und ihre Themenfelder haben sich im Lauf der Zeit verändert. Die Felder der mafiösen Strukturen Italiens, die Korruption, Behördenwillkür, politischen Verflechtungen sind natürlich noch immer präsent, aber sie nehmen nicht mehr so viel Raum ein. Stattdessen richtet sie verstärkt ihr Augenmerk auf die alltäglichen Probleme, die die Venezianer umtreiben. Aber es geht ihr nicht nur um die Vereinnahmung der Lagunenstadt durch Touristen und die sich daraus ergebenden Veränderung des Lebensraums, die Belastungen durch die Kreuzfahrtschiffe, sondern es sind auch immer wieder die individuellen Schicksale, die sie im Blick hat.

Wie das des betagten Kunsthändlers Gonzalo Rodriguez de Tejeda, Freund der Faliers und Paolas Patenonkel, der sein komplettes Vermögen einem jungen Liebhaber vererben möchte – sehr zum Missfallen seiner Familie und der venezianischen Gesellschaft. Brunetti wird von seinem Schwiegervater gebeten, den persönlichen Hintergrund des zukünftigen Erben zu durchleuchten, was ihm einige Bauchschmerzen bereitet. Aber was tut man nicht alles für die Familie. Alles scheint it rechten Dingen zuzugehen, doch dann erliegt Gonzalo einem Herzinfarkt und ein weiterer Todesfall in dessen Umfeld lässt Brunetti aufmerken…

Wie so oft in Donna Leons Romanen ist es nicht die Suche nach dem Täter, die die Handlung bestimmt. Es geht um die Natur des Menschen, um Ethik und persönliche Moral, über die der Commissario vor allem dann sinniert, wenn er nach Feierabend seine Klassiker liest. In diesem Fall ist es Euripides, aber auch eine alte Graphic Novel aus Paolas Studentenzeiten, die ihn über Flucht und Vertreibung nachdenken lässt, ein damals wie heute aktuelles Thema.

Keine Action, keine wilden Verfolgungsjagden, keine atemlose Spannung. Dafür ein intelligenter Kriminalroman, der mich, nachdem ich das Buch zugeklappt habe, höchst zufrieden aber auch nachdenklich zurückgelassen hat. Ich werde dem Commissario auf jeden Fall die Treue halten.