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Veröffentlicht am 26.08.2021

Ein wunderlicher Mann in einem wundervollen Buch

Das Archiv der Gefühle
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Es ist ein wunderlicher Mann ohne Namen, die Hauptfigur in »Das Archiv der Gefühle« von Peter Stamm. Einer, der mich in sein Denken mitnimmt, der sich mir durch seine Selbstreflektion vorstellt. Er beschreibt ...

Es ist ein wunderlicher Mann ohne Namen, die Hauptfigur in »Das Archiv der Gefühle« von Peter Stamm. Einer, der mich in sein Denken mitnimmt, der sich mir durch seine Selbstreflektion vorstellt. Er beschreibt sein Jetzt und erzählt parallel doch seine Lebensgeschichte chronologisch. Meist in Erinnerungen, manchmal allerdings auch nur in Phantasien. Außerdem ist von Beginn an Franziska dabei, in seinem Kopf, mit der er sich unterhält. Es sind die einzigen Dialoge, die er führt. Franziska, die Frau seines Lebens, die ihm einst sagte, dass sie ihn nicht liebe. Schon der Text auf dem Schutzumschlag verrät, dass Franziska wieder auftauchen wird.

Der Mann ist jenseits dessen, was unsere Gesellschaft als normal erachten würde, wenn sie sein Leben denn mitbekäme, was er zu verhindern sucht. Nicht der Gesellschaft wegen, sondern seinetwegen. Schon als Kind war er gerne alleine, mochte die Wiederholung lieber als Veränderung, stellte sich Freundschaften lieber vor statt sie zu leben. Nur Franziska war immer da.
Er ist Archivar und er ist ohne Anstellung, seit seine Stelle im Pressehaus abgebaut wurde. Ohne Arbeit ist er nicht, denn er hat das Archiv mitgenommen. Dass er ein Archiv in seinem Haus eingerichtet hat, ist die Krönung seiner Beschreibung. Jemand, der um der Ordnung willen ordnet, nicht um des Zwecks willen, denn sein Archiv wird von niemandem mehr genutzt, nicht mal von ihm selbst. Eingerichtet in seiner eigenen Welt. Im Haus seiner Eltern, das er übernahm als seine Mutter starb, und in dem er im Kinderzimmer schläft. Wie früher. Ein Mann, der möchte, dass die Zeit nicht vergeht. Der zwar hinnimmt, dass Dinge verfallen, der aber einen Verlust nicht erträgt. Auch deshalb hat er Franziska immer bei sich.

»Das Archiv der Gefühle« ist ein großartiges Buch. Der Protagonist denkt Sätze, trifft Aussagen, mit denen man sich auseinandersetzen mag. Als er sein Archiv beschreibt, seine Lust an der hierarchischen Einordnung, bemerkt er: »Wenn alles wie im Internet gleichwertig ist, hat nichts mehr einen Wert.« An einer anderen Stelle denkt er darüber nach, warum er sich nie bei Freunden meldet, auch nicht wenn diese nach ihm Fragen. Er stellt fest, dass es ihn noch nie interessiert habe, Meinungen auszutauschen, und er kommt zu dem Schluss: »Meinungen haben nichts mit Fakten zu tun, nur mit Gefühlen, und meine Gefühle gehen niemanden etwas an.« Da denkt man gerne mal drüber nach. Das Einzige, worüber man nicht nachzudenken braucht, ist das komplett nichtssagende und sich auf nichts in der Geschichte beziehende Buchcover.

Autor Peter Stamm ist Schweizer und 58 Jahre alt. Er studierte zunächst Anglistik an der Universität Zürich, wechselte sein Studienfach dann aber auf Psychologie mit Psychopathologie und Informatik als Nebenfach. Daneben war er als Praktikant an verschiedenen psychiatrischen Kliniken tätig. Die Wahl des Studiums erklärte er damit, dass er mehr über den Menschen als Gegenstand der Literatur erfahren wollte.

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Veröffentlicht am 14.05.2021

Erzählung einer Reise und philosophisches Werk

Der Schneeleopard
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“Der Schneeleopard” ist die Erzählung einer Reise und gleichzeitig ein philosophisches Werk. Ein Buch, das Zeit fordert, gegebenenfalls Toleranz, und Langsamkeit braucht.

Mit dem Tierfotografen Vincent ...

“Der Schneeleopard” ist die Erzählung einer Reise und gleichzeitig ein philosophisches Werk. Ein Buch, das Zeit fordert, gegebenenfalls Toleranz, und Langsamkeit braucht.

Mit dem Tierfotografen Vincent Murnier, dessen Lebensgefährtin und einem Assistenten begibt sich Schriftsteller Sylvain Tesson auf eine Expedition durch die Hochebenen Tibets. Ein extremes Unternehmen, sich bei Temperaturen von bis zu -40 Grad nachts in zugige Hütten oder Zelte, tagsüber für Stunden auf die Lauer zu legen. Immer auf die nächste Begegnung mit Yaks, Wölfen, Antilopen und letztlich dem Schneeleopard hoffend. Er beschreibt, wie sich ihm das Land darstellt. Im Angesicht der rauen und klaren, der mal noch ursprünglichen und mal von Menschen gezeichneten Natur; im Eindruck der Begegnung mit Tieren und dem Umgang Muniers mit ihnen, entwickelt Tesson dabei immer wieder Gedanken über sein aktuelles Erleben hinaus. Das verleiht dem Buch eine zusätzliche Ebene.

Die Kapitel sind kurz, umfassen jeweils nur drei bis sechs Seiten. Die Tour wird chronologisch beschrieben. Der Aufteilung der Kapitel liegen aber eher Begegnungen und Erkenntnisse zu Grunde, als Tage oder Reiseabschnitte. Immer wieder sieht Tesson in den Tieren oder der Landschaft Ausdrücke der Natur, der Ursprünglichkeit oder gar verschiedener Formen von Spiritualität, Göttlichkeit, deren Kraft und Faszination er mit seinem eigenen Dasein oder unserer westlichen Zivilisation in Verbindung bringt, abgleicht.

Das ist alles nicht leicht. Tesson ist mir nicht sympathisch. Seine Gedanken kritisieren mein Leben in mitteleuropäischer Zivilisation. Von ihm beschriebene Spiritualität, die über die Philosophie der Weltreligionen hinausgeht, ist mir zu beliebig. Seinen Schreibstil empfinde ich als schwierig, er ist mit Sprachbildern überhäuft, ab und an kitschig. Als eine “gelbe Klinge die Nacht empor hob und die Sonne ihre Flecken auf eine mit Gras gesprenkelte Steindecke bröselte” war ich so genervt, dass ich das Weiterlesen infrage stellte. Solche gewollt dichterischen Formulierungen mögen manche als Kunst an sich werten. Ich empfinde sie als das Gegenteil der Klarheit, welche mir der Anblick des Schutzumschlags dieses schmalen, hübschen Buchs mit Lesebändchen beim Kauf suggerierte.

Ich bin dennoch drangeblieben. Weil Tesson neugierig auf Tibet macht. Weil mich aus dem Gebirge seiner Sprachbilder immer wieder welche anpieksen. Weil er Tiere beschreibt, von denen ich zuvor nie hörte. Vor allem, weil er mich zum denken animiert.

Dieses Buch fordert mich. Tesson nimmt mich mit in eine fremde Welt; sowohl was die beschriebene, tatsächliche Welt angeht, als auch bezüglich seiner Gedankenwelt. Ich darf mitfühlen, mitdenken. Ich darf richtig oder falsch finden, schön oder hässlich, schlau oder albern. Das ist letztlich für einen Leser eine Auseinandersetzung mit einem selbst. Wer sowas mag, für den lohnt sich dieses Buch.

Möglicherweise ist Tessons Schneeleopard sogar eins dieser Werke, die man in größeren Abständen immer wieder mal zur Hand nimmt. Ein Buch, das man zufällig aufschlägt, um eins der kurzen Kapitel zu lesen. Womöglich sprechen einen dann andere Sprachbilder an. Womöglich stellen sich einem dann die Gedanken anders dar, weil man sich selbst verändert hat.

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Veröffentlicht am 28.04.2021

Ein bemerkenswertes Buch, so reduziert, so anders.

Die Beichte einer Nacht
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"In einer Nervenklinik vertraut Heleen des Nachts einer Nachtschwester ihre Lebensgeschichte an." So beginnt der Klappentext des Romans "Die Beichte einer Nacht" von Marianne Philips. Diese Beschreibung ...

"In einer Nervenklinik vertraut Heleen des Nachts einer Nachtschwester ihre Lebensgeschichte an." So beginnt der Klappentext des Romans "Die Beichte einer Nacht" von Marianne Philips. Diese Beschreibung ist umfassend, der Roman ist ein Monolog. Das klingt nach wenig, ist aber viel, ist ein ganzes Leben. Ein bemerkenswertes Buch, so reduziert, so anders. Ein Buch das man liest, weil einen die besagte Heleen mit jedem Satz ihrer Geschichte mehr zu interessieren beginnt.

Es gibt keinen Erzähler, der aus übergeordneter Perspektive eine Situation beschreibt oder erklärt. Dieses Buch malt einem keine Bilder in den Kopf, entwickelt keine Szenen, in welche die Protagonisten gesetzt werden. Weil Monologe so nicht sind. Wenn unsereins jemandem von einer Begegnung erzählt, beschreiben wir auch nicht die Bilder an den Wänden und den Duft, der in der Luft liegt. Auch die Nachtschwester spricht nicht, in diesem Roman. Sie ist wie weggeschnitten und zunächst mag man zweifeln, ob sie überhaupt tatsächlich existiert. Alles ist Heleen. Jedes Wort ist ihre Aussage. Für mich als Leser ist es, als säße ich in einem dunklen Raum, hörte Heleen reden und sähe nichts.

Doch stickum mag ich in diesem Raum sitzen bleiben und weiter zuhören, weil Heleen viel zu erzählen hat. Und weil sie von Beginn an nicht prahlt. Weil sie keine Memoiren formuliert, sondern weil sie Erinnerungen teilt und dabei Stück für Stück selbst immer mehr Erkenntnis erlangt. Dabei ist sie so offen, wie man sich selbst gegenüber wird, wenn man die Dinge mit Abstand betrachtet und gerade nichts erreichen muss, sie im Gegenteil loswerden, aussprechen will. Beichten will.

Heleen erzählt ihr ganzes Leben. Von den Schwierigkeiten im Elternhaus, als sie noch das Leentje und die Älteste von zehn Geschwistern war. Von ihrer schwierigen Beziehung zu Schwester Lientje, der Jüngsten, für die sie immer wieder Verantwortung übernehmen musste. Sie beschreibt die Momente ihrer Erkenntnis, arm zu sein, und ihrer Erkenntnis, als schön geachtet und begehrt zu werden. Ihr Leben verläuft nicht stringent, wirft sie hin und her. Und schon früh in ihrem Erzählen verknüpft sie ihre schönsten Erinnerungen mit ihrer großen Liebe Hannes und früh wird klar, dass es mit Ihrer Schwester Lientje zu tun hat, dass sie nun in der Nervenklinik ist.

Was letztlich genau passiert ist ein Teil der Spannung dieses Romans. Aber auch die Entwicklung des Lebens der Person Heleen ist spannend und war letztlich der Hauptantrieb, der mich immer weiterlesen ließ. Die Stärke des Buches ist es, am Beispiel Heleens die Abzweige darzustellen, die einen Lebensweg ausmachen, und was der eingeschlagene Weg aus einem macht.

Die Beichte – niederländisch "De biecht" – erschien in den Niederlanden im Jahr 1930 und war der zweite Roman der 1886 in Amsterdam geborenen Marianne Philips. Ihr erstes Werk veröffentlichte sie ein Jahr zuvor, im Alter von 43 Jahren. Philips war Sozialdemokratin und seit 1919 eine der ersten Frauen im Stadtrat der Nord-Holländischen Stadt Bussum. In der Zeit des Nazi-Terrors musste die Jüdin untertauchen, um sich einer Verhaftung und der geplanten Einweisung in das Konzentrationslager Herzogenbusch zu entziehen. Bis 1950 hat Marianne Philips sechs Romane und drei Bände mit Novellen veröffentlicht. Das Hauptthema ihres Werks sei das "Streben nach Reife und der Entwicklung einer individuellen Identität aus einer nicht harmonischen Familie", ist in der niederländischen Wikipedia zu lesen. Dem entspricht das hier besprochene Buch zweifellos.

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