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Veröffentlicht am 20.08.2021

Von Menschen und Hexen - Schräge, phantasievolle Freundschaftsgeschichte

Das magimoxische Hexenhotel – Auch Hexen brauchen Urlaub
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Bei Klara und ihren Eltern geht alles ziemlich ordentlich und geregelt zu. Doch dann wird das alte Hotel nebenan renoviert und die neuen Besitzer kommen den Mittelbachs irgendwie seltsam vor.
Als Klara ...

Bei Klara und ihren Eltern geht alles ziemlich ordentlich und geregelt zu. Doch dann wird das alte Hotel nebenan renoviert und die neuen Besitzer kommen den Mittelbachs irgendwie seltsam vor.
Als Klara sich das Ganze aus der Nähe anschaut, staunt sie gewaltig: Die neuen Nachbarn sind Hexen und das neue Hotel im Nachbarhaus soll ein Hexenhotel werden. Schnell schließt Klara Freundschaft mit Rosalie, einer kleinen Hexe. Die führt sie in die Welt der Hexen ein und im Gegenzug zeigt Klara Rosalie, wie es sich bei den Menschen lebt. Doch ganz so leicht ist es für Rosalie nicht, sich in der Schule der Menschen angemessen und unauffällig zu verhalten.

Ulrike Rylance schreibt kindgemäß, gut verständlich und mit viel Humor. Die lustigen Sprüche und Reime der Hexen machen viel Spaß, genau wie Lisa Hänschs Illustrationen zur Geschichte. Hauptsächlich schwarz-weiß mit wenigen auffälligen pinken Akzenten fallen die individuellen, ausdrucksstarken Bildern sofort ins Auge.
Die Schrift ist etwas größer gedruckt, Kinder ab acht Jahren dürften keine Schwierigkeiten haben, sich die Geschichte selbstständig zu erlesen. Zum Vorlesen ist das Buch für Kinder ab sechs Jahren geeignet.

Die Figuren sind wirklich etwas Besonderes, allen voran Rosalie, die ganz aus Versehen immer wieder Menschen verhext und sich damit ganz schön in die Bredouille bringt. Mit Klara können sich die menschlichen Leser sicher prima identifizieren. Wer würde nicht gerne einmal selbst Hexen aus nächster Nähe kennenlernen? Im Hexenhotel tummeln sich die merkwürdigsten Figuren: Besen Betram mit seiner eigenwilligen Sprache, seiner Vergesslichkeit und seinem Hang, sofort beleidigt zu sein, eine sprechende Kiste in der Eingangshalle, Fahrstuhlführer Oleg halb Hexe halb Biber oder Rosalies kleiner Bruder Vincent, der völlig unkontrolliert Sachen in Brand steckt. Langweilig wird es bei diesen Bewohnern auf keinen Fall.


Kommt es letztendlich zur Eröffnung des Hexenhotels? Und warum versteht Klara eigentlich Hexensprache?
Ziemlich spannend, was Rosalie und Klara gemeinsam erleben. Eine komische Situation folgt auf die nächste. Da gibt es verzauberte Gartenzwerge oder einen geschrumpften Sportlehrer, der übergangsweise als Ken in einem Barbiehaus wohnt. Mitunter geht es fast ein bisschen makaber zu, denn auch eine umfangreiche Sammlung von Altmännerohren gehört zum Inventar des Hotels. Und Klara erfährt Unglaubliches über eine verschollene, mysteriöse Verwandte von sich.
Reizvoll und sehr interessant ist es, die Menschen einmal aus der Perspektive der Hexen zu sehen, das Hexenhotel soll nämlich ein Erlebnishotel „Menschenwelt“ werden und den Hexen zeigen, wie Menschen leben.
Das Ende ist dann so offen, dass man eigentlich gar nicht anders kann, als der Fortsetzung entgegenzufiebern.
Eine phantasievolle, lustige und turbulente Freundschaftsgeschichte mit originellen Figuren für alle, die gerne mehr über Hexen und ihre Lebensweise erfahren möchten.

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Veröffentlicht am 20.08.2021

Schräg, überdreht, chaotisch, turbulent und sehr witzig

Hilfe, ich habe meiner superschlauen Schwester das Gehirn geklaut!
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Keith ist elf Jahre alt und Erfinder mit Leib und Seele. In seinem „Protokollbuch für Extrem Wichtige Experimente & Erfindungen“ notiert er den Stand aktueller Experimente, wie z.B. dem, ob Zehennägel ...

Keith ist elf Jahre alt und Erfinder mit Leib und Seele. In seinem „Protokollbuch für Extrem Wichtige Experimente & Erfindungen“ notiert er den Stand aktueller Experimente, wie z.B. dem, ob Zehennägel weiterwachsen, wenn sie nicht mehr an Zehen dran sind. Der Junge träumt davon, die Erfindermesse in Paris zu besuchen. Doch erstens hat er kein Geld und zweitens würden seine Eltern das nie erlauben. Die kümmern sich nämlich nur um seine hochbegabte Schwester Min, die einen Wettbewerb nach dem anderen gewinnt. Wenn Keith nur so intelligent wäre wie Min, käme er sicher leichter an Preisgeld und könnte die Fahrt nach Paris selbst bezahlen. Also beschließt Keith kurzerhand, genau wie Min ebenfalls ein Genie zu werden.

Autorin Jo Simmons schreibt kindgemäß, gut verständlich, flüssig und humorvoll in der dritten Person.
Nathan Reeds originelle, lustige Schwarz-Weiß-Illustrationen passen prima zur Geschichte. Sie haben eine ganz eigenen comicartigen Stil. Wenn man genau hinsieht, erkennt man viele witzige Details in den Bildern.
Die Text ist normal groß gedruckt, einige Wörter im Fließtext werden durch größere Schriftgröße oder Fettdruck hervorgehoben. Die Kapitel haben eine recht übersichtliche Länge. Mädchen und Jungen ab neun Jahren werden den Text ohne Mühe selbstständig erfassen können, jüngere Kinder lassen sich das Buch sicher gerne vorlesen.

Jo Simmons hat wie gewohnt sehr unterhaltsame Figuren erfunden. Keith ist einfallsreich, spontan, ziemlich naiv, manchmal ganz schön derb, aber liebenswert-sympathisch. Dass er von seinen Eltern nicht so beachtet wird, wie er sollte, ist bedauerlich, aber Keith weiß sich zu helfen. Er macht einfach „keithmäßig“ sein Ding und geht die Probleme cool und lässig an. Sein Opa Keith Senior, der mindestens genauso unkonventionell ist wie sein Enkel und mit seinem Papagei in einem Lastkahn lebt, unterstützt und stärkt Keith. Und die hochbegabte Schwester Min, die stets so perfekt und diszipliniert wirkt, kann auch durchaus anders und überrascht mit einer unvorhersehbaren Wandlung. Erstaunlicherweise gibt es Sachen, die Min noch von Keith lernen kann.
Dass Keith schon aus Jos Simmons Buch „Hilfe, meine Eltern haben meinen Geburtstag gestrichen“ bekannt ist, gefällt mir. In diesem Buch spielte er allerdings nur eine Nebenrolle. Die Bücher der Autorin sind durch ihre Figuren verbunden, hängen somit zusammen, sind aber doch unabhängig voneinander zu lesen.

Was Keith alles tut, um an Geld zu kommen, ist großes Slapstick-Komödien-Kino. Turbulent, chaotisch, schräg, völlig überdreht und absurd, aber dabei extrem komisch. Manchmal, gerade am Ende, für mich ein bisschen zuviel des Guten, aber so ist Keith halt. Keith verbiegt sich nicht, übertreibt es oft, kann echt nerven und gerade deshalb kommt er so gut an. Keith zeigt, dass man kein Superhirn sein muss, um Sympathien zu gewinnen. Genialität hat viele Gesichter. Wer keithmäßig locker und gelassen bleibt, hat jedenfalls mehr Spaß im Leben als eine verbissene Intelligenzbestie, für die nur Erfolg zählt. Für alle Jungen und Mädchen, die es witzig, einfallsreich, verrückt und nicht langweilig mögen, garantiert ein großer Lesespaß.

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Veröffentlicht am 18.08.2021

Eine große Liebe in unruhigen Zeiten - Zeitgeschichte spannend und mitreißend erzählt

Die Heimkehr der Störche (Die Gutsherrin-Saga 2)
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Nach ihrer dramatischen Flucht aus Ostpreußen lebt Dora Twardy 1952 nun mit ihrer Familie auf einem Hof in der Lüneburger Heide. Doch wohl fühlt sie sich dort nicht. Mit der Bäuerin und Besitzerin des ...

Nach ihrer dramatischen Flucht aus Ostpreußen lebt Dora Twardy 1952 nun mit ihrer Familie auf einem Hof in der Lüneburger Heide. Doch wohl fühlt sie sich dort nicht. Mit der Bäuerin und Besitzerin des Hofes Frau Stübeck gerät sie regelmäßig in Konflikt. Dora bewirbt sich an verschiedenen Hochschulen für ein Studium der Tiermedizin. Lediglich die Ost-Berliner Humboldt-Universität lädt sie zum Vorstellungsgespräch ein. Dora entscheidet sich, mit Pflegetochter Clara nach Berlin zu ziehen. Dort erfährt die junge Frau, dass ihre große Liebe, der Fotograf Curt von Thorau, im Staatsgefängnis inhaftiert ist. Sie setzt alles daran, ihn besuchen zu dürfen. Doch der Preis dafür ist enorm hoch. Währenddessen wächst in der DDR die Unzufriedenheit im Volk. Es kommt zum Arbeiteraufstand, der auch für Dora gravierende Folgen hat.

Autorin Theresia Graw schreibt flüssig und klar. Ihr angenehmer und unkomplizierter Schreibstil ermöglichte es mir sofort, direkt in die Geschichte „einzutauchen“. Das ansprechende, melancholische Cover erinnert stark an das Titelbild des ersten Romans „So weit die Störche ziehen“. Erneut ist die Rückansicht einer Frau zu sehen, die diesmal gemeinsam mit einem Kind auf eine weite Landschaft blickt. Auf Anhieb ist zu erkennen, dass die beiden Romane zusammengehören.

Dora Twardy ist eine beeindruckende, starke Frau. Sie glaubt an Gerechtigkeit, gibt nicht auf, kämpft für das, was ihr wichtig ist. Vor allem anfangs wirkt sie ein wenig naiv, so ist sie fest davon überzeugt, dass sie in Ost-Berlin unbeschadet leben kann und dass die „Menschen in der DDR gleich und gerecht behandelt werden“.
Mit besonderem Ehrgeiz und viel Disziplin geht Dora ihr Studium an: „Es war keine Option, hier alles aufzugeben und reumütig nach Wielenstadt zurückzukehren, wenn sie ihren Traum erreichen und Tierärztin werden wollte. Sie musste weiter die Zähne zusammenbeißen und alle Widrigkeiten, die ihr in den Weg gelegt wurden, hinnehmen. Nur so konnte sie ihr Studium beenden. Und nur so hatte sie vielleicht noch eine Chance, Curt wiederzusehen.“
Zu Beginn begreift Dora noch nicht, wie stark die Menschen in der DDR vom Staat beeinflusst und kontrolliert werden. Sie als Tochter eines ostpreußischen Großgrundbesitzers steht durch ihre Herkunft erst recht unter besonders strenger Beobachtung.
Für ihre großen Liebe Curt ist Dora bereit alles zu tun. Was die enge Beziehung, die tiefe Verbindung der beiden ausmacht, wird in diesem Roman nicht direkt deutlich, die außergewöhnliche, starke Beziehung der beiden stand im Vorgängerband mehr im Fokus.
Gerade in der DDR muss sich Dora gegen staatstreue Genossen zur Wehr setzen, die ihr das Leben schwer machen. Aber sie trifft auch immer wieder auf Menschen, die ihre Qualitäten sofort erkennen, auf die sie sich verlassen kann und die sie unterstützen. Da auch die historischen Ereignisse eine wichtige Hauptrolle im Buch einnehmen, sind die Charaktere zwangsläufig nicht durchgehend vielschichtig gezeichnet. Manche Figuren sind nämlich nicht hauptsächlich durch ihre Persönlichkeit definiert, sondern durch das, was ihnen passiert oder durch ihre Aufgabe im „System“.

Was Dora 1952 bis 1954 in der DDR, an der Universität, während der Arbeiteraufstände und nach der Fußball-WM erlebt, das ist ohne Frage dramatisch, spannend, packend, oft regelrecht aufwühlend. Vor allem das Schicksal von Doras Bruder Erich, der stellvertretend für so viele Bürger der DDR steht, ging mir sehr nahe. Autorin Theresia Graw macht Zeitgeschichte unmittelbar begreiflich, emotional erfahrbar, für mich wirklich lebendig. Sie zeigt anschaulich am Beispiel ihrer Protagonisten, wie sich die Unzufriedenheit in der Bevölkerung angesichts der Mangelwirtschaft immer mehr steigerte, warum es zum Arbeiteraufstand kommen musste und was die Ereignisse für die Menschen konkret bedeuteten.
Auch wenn das Ende vielleicht ein bisschen dick aufgetragen sein mag, passt es dennoch zum Buch. Denn zu einem bewegten Leben wie Doras gehört eben ein außergewöhnliches Finale und kein 08/15 Ende. „Die Heimkehr der Störche“ ist ein gelungener Schmöker, ein großes Lesevergnügen, das ich allen Fans des Genres nur ans Herz legen kann. Es empfiehlt sich allerdings, zunächst den mindestens genauso lesenswerten Vorgänger zu lesen, um alle Aspekte der Handlung komplett nachvollziehen zu können.

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Veröffentlicht am 14.08.2021

Wie konnten drei Leuchtturmwärter spurlos verschwinden? Atmosphärisches und intensives Leseerlebnis

Die Leuchtturmwärter
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„Auf einen Landmenschen wirkt das Meer ziemlich beständig, aber Jory weiß, dass es das nicht ist: Es ist launisch und unberechenbar, und wenn man nicht aufpasst, erwischt es einen.“

1972 verschwinden ...

„Auf einen Landmenschen wirkt das Meer ziemlich beständig, aber Jory weiß, dass es das nicht ist: Es ist launisch und unberechenbar, und wenn man nicht aufpasst, erwischt es einen.“

1972 verschwinden drei Leuchtturmwärter vom Maiden Rock-Leuchtturm vor der Küste Cornwalls spurlos. Sie lassen ihre drei Frauen Helen, Jennifer und Michelle zurück. Zwei Jahrzehnte später möchte der Autor Dan Sharp herausfinden, was mit den Männer wirklich geschah. Er spricht mit den Frauen, die alle ihre persönlichen, gut gehüteten Geheimnisse haben. Ob die Wahrheit endlich ans Licht kommt?

Emma Stonex schreibt klar, verständlich und stilistisch „schön“. Viele der treffenden, bemerkenswerten Sätze musste ich immer wieder lesen, so beeindruckt haben sie mich. Die Autorin setzt bewusst, gekonnt und abwechslungsreich ganz verschiedene sprachliche Stilmittel ein. Wenn Helen beispielsweise Dan Sharp ein Interview gibt, gibt Stonex nur das wieder, was Helen denkt, was in ihr vorgeht, was sie sagt. Was Dan Sharp zum Gespräch beiträgt, wird nicht erwähnt. Ein Dialog wird also einseitig betrachtet zum Monolog. Stonex kreiert dadurch eine besondere Atmosphäre. Die ganz eigene Stimmung, die Einsamkeit auf dem Leuchtturm, fängt sie präzise und treffend ein. Stonex erzählt nicht chronologisch. Die Erlebnisse und Gedanken der Frauen 1992 werden genauso ausführlich geschildert wie die Rückblenden aus der Zeit vor dem Verschwinden der Leuchtturmwärter. Nach und nach erhalten die Leser Bruchstücke einer Geschichte, die sich immer klarer zusammenfügt.

Wer waren die verschwundenen Männer Arthur, Bill und Vincent wirklich?
Die Leser erleben die Männer selbst in Szenen vor ihrem Verschwinden und schließen aus den Erzählungen der Frauen, was diese Männer umtreibt und bewegt.
Bill beispielsweise hat ein schwieriges Verhältnis zum Meer: „Ich kann das Meer nicht leiden, und das Meer kann mich nicht leiden.
Arthur scheint mit dem Meer und dem Leuchtturm auf unsichtbare Weise verbunden zu sein. Den Tag, an dem Leuchttürme keine Wärter mehr braucht wird, fürchtet er: „Bald und ich denke nicht gerne darüber nach, wie bald, wird eine Maschine meine Arbeit erledigen. Diese Maschine wird den Turm nicht so brauchen wie ich, sie wird ihn nicht. Mit der Technik kann das Licht eingeschaltet und die Nebelkanone abgefeuert werde, aber Technik kann sich nicht um die Leuchttürme kümmern, und das brauchen sie, jemand muss sich um ihre Substanz kümmern, um ihre Seele.“
Vince hat eine schwere Kindheit, ist in verschiedenen Pflegefamilien aufgewachsen, er gerät dabei auf die schiefe Bahn und landet im Gefängnis. Durch die Arbeit als Leuchtturmwärter versucht er seiner Vergangenheit zu entfliehen. Doch das ist nahezu unmöglich, wie seine Freundin Michelle erklärt: „Vinny wusste, dass seine Vergangenheit ihn zu Fall bringen würde. Er dachte, egal, was er tat und wie schnell er es tat, die Vergangenheit würde schon da sein und auf ihn warten.“
Mindestens genauso wichtig für die Geschichte sind die Frauen, die zurückbleiben. Helen, Arthurs Frau, fasst es Dan Sharp gegenüber so zusammen: „Die Wahrheit ist, dass Frauen wichtiger füreinander sind. Wichtiger als die Männer, und das werden sie nicht hören wollen, weil es in diesem Buch genau wie in Ihren anderen Büchern um Männer geht oder?“
Helen möchte ihren Verlust gemeinsam mit Jenny, Bills Frau, verarbeiten: „Ich glaube, dass Menschen so etwas miteinander teilen müssen. Wenn so etwas Schlimmes passiert, kann man es nicht allein durchstehen.“ Aber Jenny distanziert sich trotz des gemeinsamen Leids von Helen. Mit Michelle scheint Helen sich besser zu verstehen.
Nach und nach wird offensichtlicher, welche Päckchen die Frauen zu tragen haben, welche erschütternden Geheimnisse sie zu verarbeiten haben und warum sich die Frauen verhalten, wie sie sich verhalten. Die Autorin zeigt anschaulich, wie unterschiedlich Menschen auf das vermeintlich selbe Ereignis, auf den großen Verlust reagieren. Gleichzeitig wird klar, dass jede der klar und überzeugend ausgearbeiteten, tiefgründigen Figuren ihre eigene Wahrheit hat und die ganze Lektüre über musste ich rätseln, wie nun alles tatsächlich zusammenhängt.

Wahrheit und Wirklichkeit haben mehrere Seiten. Emma Stonex arbeitet den Fall der verschwunden Leuchtturmwärter detailliert aus verschiedenen Perspektiven auf, streift dabei unterschiedliches Genres. Am Ende entwirrt sie - zumindest weitgehend- ein komplexes Geflecht und stellt sechs sehr interessante Figuren und ihre Situation eingehend dar. Imponiert hat mir die Atmosphäre des Romans. Beim Lesen wird fast spürbar deutlich, vor welche Herausforderungen einen das Leben auf dem Leuchtturm stellt, wie dabei manchmal die Grenzen zwischen Realität und Einbildung verschwimmen und welche Auswirkungen dieses Leben auf Beziehungen haben kann. Auch wenn das Ende für manchen Geschmack möglicherweise nicht ganz zur Stimmung und Aussage des Romans passen mag, hat mich der vielschichtige, intensive, dramatische und spannende Roman über Verlust gefesselt und nachhaltig beeindruckt. Ich würde gerne mehr von der Autorin lesen.

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Veröffentlicht am 09.08.2021

Stehenbleiben oder weitergehen, aussteigen oder bleiben? Viele individuelle Lebensentscheidungen in einem packenden Roman

Dreieinhalb Stunden
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„Alle, die jetzt gingen, verloren ihr Zuhause.
Alle, die weiterfuhren, ihre Freiheit.“

Am 13. August 1961 verlässt morgens um kurz nach 8:00 Uhr ein Interzonenzug, den Münchner Hauptbahnhof mit dem Ziel ...

„Alle, die jetzt gingen, verloren ihr Zuhause.
Alle, die weiterfuhren, ihre Freiheit.“

Am 13. August 1961 verlässt morgens um kurz nach 8:00 Uhr ein Interzonenzug, den Münchner Hauptbahnhof mit dem Ziel Ost-Berlin. Im Zug sitzen ganz unterschiedliche Menschen, u.a. eine vierköpfige Familie, eine Musikband oder ein älteres Ehepaar. Diese Zugfahrt werden die Passagiere wohl nie vergessen. Denn während der Fahrt wird bekannt, dass die Regierung der DDR eine Mauer an der Grenze zur BRD bauen wird. Danach wird das Reisen in den Westen nicht mehr so ohne Weiteres möglich sein. Das bringt einige Reisende ins Grübeln: Sollen sie den Zug verlassen, um in Westdeutschland neu anzufangen? Es bleiben ihnen ungefähr „3 1/2 Stunden“, um eine lebensverändernde Entscheidung zu treffen.

Autor Robert Krause schreibt in 154 Kapiteln jeweils abwechselnd aus der Sicht seiner vom Mauerbau betroffenen Figuren. Die Leseabschnitte sind recht kurz, sachlich, fast nüchtern und verständlich formuliert. In der Überschrift der Kapitel sind durchgehend nicht nur die Namen der Personen, um die es gerade geht, vermerkt, sondern auch der Ort, wo sich diese gerade befinden und die aktuelle Uhrzeit. Es wird chronologisch erzählt. Die ständigen Perspektivwechsel und die vielen verschiedenen Figuren machten es mir anfangs schwer, in die Handlung hineinzufinden.

Für die Figuren stellt sich auf der Zugfahrt die Frage, wie es für sie weitergehen soll. Sie werden auf der Fahrt zur Schicksalsgemeinschaft. Da sind z.B. Carla, Sängerin einer Band, die ihren Freund Sascha, der sehr an seiner Heimat hängt, bittet: „Lass mich Deine Heimat sein.“, dazu die beiden Bandmitglieder Siggi und Peter, beide schwul. Gert ist Ingenieur und träumt davon, Flugzeuge zu konstruieren, seine Tochter Elke möchte Gerts Flugzeuge eines Tages fliegen. Gerts Ehefrau Marlis ist überzeugte Kommunistin und Tochter von Paul, der bei der Volkspolizei arbeitet. Marlis und Gert haben neben Tochter Elke noch einen gemeinsamen Sohn, Willi. Anna und Ernst kehren aus München zurück, wo sie die Urne von Annas Bruder abgeholt haben. Ingrid und Rudolf befinden sich mit Ingrids Sohn Hans auf dem Weg nach Ludwigsstadt, um dort zu heiraten. Währenddessen bricht Lokführerin Edith gemeinsam mit Filmemacher Kurt von Probstzella aus, um den Zug von Ludwigstadt mit ihrer Ost-Lok abzuholen und in den Osten zu bringen. Auch sie fragt sich: „Was, wenn das tatsächlich das letzte Mal ist, dass Du rauskommst?“
Anfangs war es eine Herausforderung, bei den zahlreichen Protagonisten den Überblick zu behalten. Die Leser lernen die Figuren nur im Hinblick auf ihre Beweggründe für ihre Entscheidung kennen, eine tiefere, gründliche Charakterisierung findet da natürlich angesichts der Menge an Rollen nicht statt. Robert Krause hat ganz verschiedene Figuren mit individuellen Hintergründen gezeichnet. Seine Figurenkonstellation ist definitiv interessant, lässt das Ereignis des Mauerbaus aus gegensätzlichen Perspektiven und Sichtweisen erleben und macht es dadurch für die Leser nachvollziehbarer und vor allem nachfühlbarer. Er füllt ein historisch wichtiges Datum mit persönlicher Bedeutsamkeit und Betroffenheit von Menschen.

Gehen oder bleiben, aussteigen oder weiterfahren? Wie werden sich die einzelnen Personen entscheiden? Was ist ihnen ihre Heimat wert?
Während immer deutlicher wird, was die Figuren umtreibt, wenn sie über ihre Entscheidung nachdenken, kennt die Zeit kein Pardon und läuft gnadenlos weiter. „Doch Zeit aber vergeht, Aber sie geht niemals wirklich vorbei.“
Außerordentlich spannend und gerade zum Finale hin hochdramatisch die Entwicklungen. Es kommt am Ende zu einigen Überraschungen.
Für mich war der 13. August 1961 bisher ein Datum, Robert Krause hat dieses mit seinem gelungenen Roman „lebendig“ werden lassen. Er stellt dabei natürlich auch seine persönliche Sicht der Dinge dar. Sein Buch, das teilweise auf seiner Familiengeschichte basiert, hat mich erreicht, unterhalten und vor allem zum Finale hin wirklich gepackt. Ich kann es allen, die gerne historische Romane über Zeitgeschichte lesen, weiterempfehlen und bin selbst schon sehr neugierig auf die Verfilmung.

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