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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 02.10.2024

Gefühlvoll und bewegend

Die seltsamste aller Zahlen
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Heute muss ich mit meiner Buchvorstellung mal ganz anders anfangen. Bei diesem Buch einfach mit dem Inhalt zu Beginn daher zu kommen, fühlt sich einfach nicht richtig an. Dieses Buch öffnet dein Herz, ...

Heute muss ich mit meiner Buchvorstellung mal ganz anders anfangen. Bei diesem Buch einfach mit dem Inhalt zu Beginn daher zu kommen, fühlt sich einfach nicht richtig an. Dieses Buch öffnet dein Herz, lässt dich an das Gute im Menschen glaubt, richtet den Blick auf die kleinen und großen Probleme, mit denen wir es Tag für Tag zu tun haben, schenkt dir Hoffnung und das Wissen nicht alleine zu sein, ermutigt dich für deine Wünsche einzustehen und deine Identität zu finden. Dass wir all dies durch die Geschichte von Jamie, einem 13 jährigen Jungen aus Irland, erfahren, der im Werkunterricht ein Boot baut, fasst in kleinster Weise mit Worten die Gefühle zusammen, die dieses Buch auslöst.

Eigentlich möchte Jamie ja ein Perpetuum mobile bauen (und kein Boot) um seiner Mutter nahe zu sein. Seine einzige Erinnerung an sie ist eine Video-Aufzeichnung, wie sie an einem Schwimmwettbewerb teilnimmt, da Jamies Mutter bei seiner Geburt gestorben ist. Das Schwimmen seiner Mutter auf Repeat ist für ihn eine nicht müde werdende und für immer andauernde Bewegung, die ein Perpetuum mobile verkörpert. Da ein solches Gerät sowohl im echten Leben, als auch in diesem Buch den Hauptsätzen der Thermodynamik widerspricht, wird es also ein Boot. Was an und für sich schon eine erzählwürdige Geschichte ist, würde nicht der Bau selbst zudem noch so vielen Menschen zusammenbringen, von denen jeder einzelne sein ganz eigenes Päckchen zu tragen hat.

Es geht um Außenseiter und Gemeinschaft, um Zusammenhalten und Loslassen, um Lieben und Leben, um Träume und Erwachen. Ein Buch das ganz zurecht 2023 auf der Longlist für den Booker Prize stand und von von mir (so als Nicht Jury-Mitglied oder sonst irgendwie literarisch sonderlich ausgebildeter Kritiker, sondern einfach nur als sehr, sehr Bücher-liebender Mensch) eine uneingeschränkte Leseempfehlung bekommt! Dieses Buch von Elaine Feeney ist das erste, das ins Deutsche übersetzt wurde, ich hoffe sehr es ist nicht das letzte!

Veröffentlicht am 24.09.2024

Wo ist Heimat?

Luzia
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Luzia wächst bei einer Ziehmutter auf, da ihrer Mutter Mittel und Wege fehlen im Österreich der 20er Jahre als alleinstehende, arbeitende Frau sie selbst großzuziehen. Doch auch dort kann sie nicht ihre ...

Luzia wächst bei einer Ziehmutter auf, da ihrer Mutter Mittel und Wege fehlen im Österreich der 20er Jahre als alleinstehende, arbeitende Frau sie selbst großzuziehen. Doch auch dort kann sie nicht ihre gesamte Kindheit verbringen und wird weiter geschickt auf einen landwirtschaftlichen Hof in die niederösterreichische Bucklige Welt.

Luzias Kindheit ist nicht nur geprägt von schwierigen Lebensbedingungen und gesellschaftlichen Spannungen, sondern vor allem von einer Suche nach einer Heimat, Liebe und Fürsorge. Mit kindlicher Naivität versucht sie die Welt um sich herum zu verstehen und ihren Platz darin zu finden, wo sie doch nirgends willkommen zu sein scheint. Die Geschichte lebt von der atmosphärischen Erzählung und den Bildern, die im Kopf beim Lesen erwachen. Trotz der wenigen Seiten, die das Buch umfasst, ist mir doch mehrfach das Herz in die Hose gerutscht ob der Dinge, die dem Mädchen widerfahren. Mein Mutterherz möchte sie einfach nur in den Arm nehmen.

Die Geschichte eignet sich wunderbar für einen melancholischen Nachmittag auf der Couch. Der kurze Ausflug in das historische Österreich lädt ein über Identität und Herkunft nachzudenken und übt zudem auch Gesellschaftskritik (Ausgrenzung, fehlende Kommunikation zwischen verschiedenen politischen Lagern, politisch motivierte Gewalt). Meine einzige Kritik an diesem Buch ist die Verwendung des Zig***er-Begriffes in der direkten Rede für eine Gruppe fahrender Leute und Menschen ohne Obdach, ohne dies in einem Nachwort korrekt historisch einzuordnen.

Veröffentlicht am 07.09.2024

Tolle Sprache und Erzählweise

Mit Blick aufs Meer
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Der Blick aufs Meer, das ist wohl allen Bewohnern in dieser Kleinstadt an der Ostküste der USA gemein. Eine von ihnen ist Olive Kitteridge, eine pensionierte Mathematik-Lehrerin, die weder besonders beliebt ...

Der Blick aufs Meer, das ist wohl allen Bewohnern in dieser Kleinstadt an der Ostküste der USA gemein. Eine von ihnen ist Olive Kitteridge, eine pensionierte Mathematik-Lehrerin, die weder besonders beliebt ist, noch sonst irgendwie bereichernd im Umgang. Ganz anders Henry, ihr Mann. Er ist höflich und gütig und liebt Olive trotz ihres muffeligen Charakters innig. Das Buch erzählt aber nicht nur die Geschichte dieser beiden, sondern auch episodenhaft aus dem Leben der anderen Einwohner. Wie durch einen Blich durchs Fenster erhaschen wir einen Blick in das Leben der anderen ohne jeweils tief darin einzutauchen. Ganz besonders ist dabei die Sprache und Erzählweise der Geschichte. Sie trägt uns erst mit stimmungsvollen und atmosphärischen Beschreibungen in die Situation, sanft lässt du dich treiben und dann in einem Halbsatz bäääm Aufprall auf dem harten Boden der Realität und dann geht es nahtlos weiter, als ob nie was geschehen wäre (Beispiel: Mrs Granger, die eine tolle und pflichtbewusste Mitarbeiterin war, immer pünktlich und ordentlich, bis sie dann plötzlich eines Nachts verstorben ist. I‘m Sorry Mrs Granger! Damit ist dein Auftritt hier jetzt auch beendet…).
Man kann Olive daher jetzt sympathisch finden, oder nicht (wahrscheinlich eher nicht), Kurzgeschichten mögen oder nicht, aber die intelligente Verwendung der Sprache, finde ich, muss man einfach lieben.
Zurecht ein Backlist Buch!

Veröffentlicht am 03.09.2024

Fantastischer Ausflug ins Burgenland

Nincshof
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Nincshof am Rande des Burgenlandes soll vergessen werden, so will es zumindest der Bürgermeister und ein paar wenige Einwohner, die sich die Oblivisten nennen. Nur leider ist die Region sehr beliebt bei ...

Nincshof am Rande des Burgenlandes soll vergessen werden, so will es zumindest der Bürgermeister und ein paar wenige Einwohner, die sich die Oblivisten nennen. Nur leider ist die Region sehr beliebt bei Touristen und dann ziehen auch noch Silvano und Isa nach Nincshof, die mit ihren Irrziegen (nein, die gibts nicht im echten Leben, hab ich für euch schon gegoogelt) genau das Gegenteil vom Vergessen-werden bewirken, schließlich ist so eine trächtige Irrziege eine echte Sensation.

Das klingt alles sehr abgefahren, ist aber eigentlich gar nicht so weit hergeholt. Die Oblivisten wollen fernab einer immer fordernderen und überfordernden Welt in Ruhe und Frieden leben, so wie es der Legende nach einst gewesen ist, als Nincshof im Schilf des Neusiedler Sees versteckt existierte. Mit einem sarkastischen Sprachwitz, wie es wohl nur die Österreicherinnen hinbekommen (oh, wie ich ich sie dafür beneide), erzählt diese Geschichte von einer Dorfgemeinschaft, von Widerstand und Ankommen. Schwere Themen leicht verpackt in einer mitreißenden Geschichte, sodass du dich sofort und unwiederbringlich in die Burgenländer verliebst, wenn nicht schon geschehen, Danke an dieser Stelle an Martina Parker und die grünen Daumen! Für mich ein Highlight!

Gefällt dir Was man von hier aus sehen kann und die bereits angesprochene Regio-Krimi-Reihe um den Klub der grünen Daumen? Dann liegst du mit Nincshof goldrichtig!

Veröffentlicht am 29.08.2024

Eindrücklich und aufwühlend

Pink Elephant
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Sommer 2006, die Freundschaft von Vincent, Ali und Tarek wird auf eine harte Probe gestellt, als Ali aus einem Fenster im 4. Stock fällt, Tarek von der Bildfläche verschwindet und Vincent von Schuldgefühlen ...

Sommer 2006, die Freundschaft von Vincent, Ali und Tarek wird auf eine harte Probe gestellt, als Ali aus einem Fenster im 4. Stock fällt, Tarek von der Bildfläche verschwindet und Vincent von Schuldgefühlen geplagt wird.
Die Geschichte wie sich die drei Jungs kennengelernt haben bis dahin wie es zu Alis Unfall kam, wird in Rückblenden aus Vincents Sicht erzählt, sodass wir erst ganz zum Schluss erfahren, was genau eigentlich passiert ist. Vincent lässt uns nämlich, ganz Teenie, nur scheibchenweise hinter die Fassade blicken. Und mit jeder Seite, mit jedem Tag näher an den Unfall und mit jeder Zigarette mehr, offenbart sich eine Macht- und Ausweglosigkeit der sich die Freunde gegenüber sehen. Der Kloß im Hals wird immer größer, bis dir auf der letzten Seite fast die Luft weg bleibt. Du möchtest die Erwachsenen anschreien, Vincent in den Arm nehmen, das Buch gegen die Wand werfen und rausbrüllen ob denn hier irgendwer noch überhaupt irgendwas merkt. Und dann denkst du dir, dass diese Geschichte ja nur stellvertretend für die tagtäglichen Widrigkeiten steht, denen Teenager (allen voran solche mit aus dem Ausland stammenden Elternteilen) in sozialen Brennpunkten ausgesetzt sind und du fühlst dich genauso hilflos wie Vincent und die Wut in dir brodelt unaufhörlich weiter.
Ihr merkt, das Buch hat mich emotional sehr aufgewühlt. Dass wir zwar Vincents Sichtweise haben, aber keinesfalls in seiner Haut stecken, wir überhaupt nicht an ihn herankommen, keine einzige Person in diesem Buch sich irgendjemandem öffnet oder gewillt ist zu helfen und hier ausnahmslos verdrängt und ignoriert wird, ist die große Stärke des Buches. Die Erzählweise, das heißt einige umgangssprachliche Ausdrücke (die ich nicht kenne) und die teils etwas fragmentarische Erzählweise von Vincent machen das Lesen nicht immer einfach, aber die Geschichte authentisch.

Ich bin nach dieser Lektüre wütend und beeindruckt und kann diese Geschichte allen empfehlen, die sich aus ihrer Komfortzone heraus begeben möchten um eine eindrückliche Leseerfahrung machen.