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Veröffentlicht am 02.11.2019

Inspirierende Biografie

Rattatatam, mein Herz
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"Rattatatam, mein Herz. Vom Leben mit der Angst" ist das dritte Buch der taz-Kolumnistin Franziska Seyboldt. Darin schildert diese ihr Leben mit einer Angststörung und die damit verbundenen Symptome, sowie ...

"Rattatatam, mein Herz. Vom Leben mit der Angst" ist das dritte Buch der taz-Kolumnistin Franziska Seyboldt. Darin schildert diese ihr Leben mit einer Angststörung und die damit verbundenen Symptome, sowie die die Auswirkungen auf Mitmenschen und den Weg, sich mit dieser Erkrankung anzunehmen.

Franziska Seyboldt weiß, dass sie kein besonders ängstlicher Mensch ist. Sie arbeitet als Redakteurin, schreibt Kolumnen und gehört nicht zu den Menschen, die sich verstecken. Und dennoch wird ihr eines Tages eine generalisierte Angststörung diagnostiziert. Kurz gesagt: die Angst vor der Angst. In ihrem Buch räumt sie mit Klischées auf, welchen sich Leidtragende ständig ausgesetzt sehen und macht anderen Betroffenen Mut, sich mit ihrer Angststörung zu akzeptieren.

Die Autorin schreibt durchweg in der Ich-Form, sie erzählt auf amüsante Weise und ist dennoch immer gnadenlos ehrlich. Seyboldt beschreibt ihre Angststörung in all ihren Facetten und von Beginn an. Ob bei Lesungen vor einem größeren Publikum, dem Besteigen eines Flugzeugs oder der Bewältigung des Alltags – ihre Angst ergreift immer wieder Besitz von ihr. Als eine Kollegin sie mit dem Vorurteil konfrontiert, dass Menschen die unter einer Angststörung leiden, doch grundsätzlich eher schüchtern und voller Ängste seien, stellt Franziska Seyboldt fest, dass das nicht der Fall ist und beschäftigt sich mehr und mehr mit sich selbst.

Als jemand, welcher eigene Erfahrungen mit einer Angststörung machen musste, ist das Buch umso interessanter. Deshalb stand Rattatatam, mein Herz lange schon auf meiner Liste. Hauptsächlich deshalb, weil eine Betroffenen selbst berichtet und das Buch somit viel mehr Authentizität bietet als ein Fachbuch, welches von Menschen geschrieben wird, die sich höchstens mit der Theorie befassen. Jemand der regelmäßig mit Symptomen wie Herzrasen, Atemnot und Schweißausbrüchen, aber auch negativen Gedankenspiralen konfrontiert ist, weiß, wie quälend die sein kann. In unserer Gesellschaft, welche durch Leistung und Perfektionismus geprägt ist, haben psychische Erkrankungen häufig keinen Platz. Dabei handelt es sich doch aber ziemlich deutlich um Ursache und Wirkung.

Nicht aufliegen wollen, bloß keine Schwäche zeigen, immer neue Ausreden erfinden um Verabredungen absagen zu können, sich isolieren wollen und nicht in Ohnmacht fallen. Das sind wohl die häufigsten Gedanken, die man als Betroffener verspürt. Dennoch führt der Weg nur durch die Angst selbst. Der Schlüssel ist auch hier die Akzeptanz. Der Autorin ist mit Rattatatam, mein Herz ein wegweisendes Buch gelungen, das durch Charme, Fachlichkeit und Cleverness glänzt.

Ihre Angst ist in jedem Kapitel allgegenwärtig und versucht sie stets aus der Reserve zu locken. Immer und überall ist sie dabei und versucht Seyboldt das Leben schwer zu machen. Aber wäre Angst denn möglich ohne Mut? Nein! Seyboldt erzählt so poetisch und klug von ihrem Leben mit der Angst, dass ich mich beim Lesen immer gut aufgehoben und verstanden fühlte. Ich habe mich zwar nie dagegen gewehrt, die Diagnose zu akzeptieren, glaube aber, dass das Buch vielen anderen Angstpatienten helfen kann, sich selbst besser zu verstehen und Strategien zu entwickeln, nahezu angstfrei zu leben.

Veröffentlicht am 02.11.2019

Ein englische Küstenstädtchen

Der Wal und das Ende der Welt
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"Der Wal und das Ende der Welt" ist ein Roman aus dem S.Fischer-Verlag vom Autoren John Ironmonger. Die Geschichte spielt in einem kleinen Küstenstädtchen, an welchem unerwartet eines Tages ein Wal gesehen ...

"Der Wal und das Ende der Welt" ist ein Roman aus dem S.Fischer-Verlag vom Autoren John Ironmonger. Die Geschichte spielt in einem kleinen Küstenstädtchen, an welchem unerwartet eines Tages ein Wal gesehen wird und ein nackter Mann am Ufer strandet. Ab diesem Zeitpunkt ist nichts mehr, wie es war.

St. Piran ist ein kleiner Küstenort in Cornwall mit genau dreihundertsieben Einwohnern. Die meisten von ihnen leben in bescheidenen Verhältnissen, sie arbeiten als Fischer, Dorflehrer, Strandgutsammler oder Farmer. In ihrem beschaulichen Dörfchen geht es meist ruhig und gediegen zu, bis ein junger Mann am Strand angespült wird, dessen Identität zunächst ungeklärt ist.

Es sind sonderbare Tage, an denen Joe Haak, ehemaliger Analyst bei einer Bank in St. Piran strandet und zum ersten Mal der Wal gesehen wird. Die gesamte Gemeinschaft im Ort, aber auch in den umliegenden Gemeinden, der ganzen Welt ist kurzerhand bedroht und hat – mehr oder weniger – mit den Ereignissen um den nackten Mann am Strand und dem Sichten des Wales zu tun. Irgendwie hängt alles zusammen.

Eine so mitreißende und abenteuerliche Geschichte, dass es schwerfällt, sie aus den Händen zu legen. Als Leser fühlt man sich unweigerlich erinnert an Geschichten wie Huckleberry Finn und Die Abenteuer von Tom Sawyer. Die Charaktere, die Bewohner des Dorfes St. Piran brennen sich einem ins Gedächtnis, gehen ans Herz und machen die besondere Atmosphäre der Geschichte erst aus. Sehr liebevoll und authentisch dargestellt, erweckt Ironmonger diese zum Leben.

Es wird schnell deutlich, dass der Autor über in breites Fachwissen verfügt, nicht zuletzt, da er selbst einen Großteil seines Lebens in Cornwall verbrachte. Nicht trocken, sondern sehr differenziert und interessant setzt er sich mit der Frage auseinander, wie ein Ende der Menschheit herbeigeführt und auch verhindert werden kann. Und obwohl es um eine durchaus bedrohliche Situation geht, welcher sich die Dorfbewohner von St. Piran nach und nach ausgesetzt sehen, überzeugt der Protagonist Joe Haak mit Mut und klugem Verstand. Von ihm können wir alle lernen.

Was genau hinter der sich anbahnenden Katastrophe steckt, wer Joe Haak ist und was all das mit dem Auftauchen des Wales zu tun hat, möchte ich an dieser Stelle nicht verraten. Das Buch kann ich jedoch jedem ans Herz legen, der etwas für Mark Twains Geschichten und Abenteuer übrig hat. Mit Der Wal und das Ende der Welt darf der Leser in Fantasie abtauchen und auf viel Spannung und Wendungen hoffen. Der Erzählstil wirkt sehr beruhigend und niemals langweilig.

Beim Lesen wird die Liebe für verschiedene Kontinente, verschiedene Kulturen und das Reisen sichtbar. John Ironmonger ist es gelungen, seine Leidenschaft für die Literatur mit seiner Liebe für das Entdecken der Welt zu verbinden.

Veröffentlicht am 02.11.2019

Drei Frauen, drei Leben

Der Zopf
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Laetitia Colombanis Der Zopf ist ein Roman aus dem S.Fischer-Verlag, erschienen im Herbst 2018. Erzählt wird die Geschichtet dreier voneinander unabhängiger Frauen, deren Lebenswege völlig unterschiedlich ...

Laetitia Colombanis Der Zopf ist ein Roman aus dem S.Fischer-Verlag, erschienen im Herbst 2018. Erzählt wird die Geschichtet dreier voneinander unabhängiger Frauen, deren Lebenswege völlig unterschiedlich sind. Dennoch haben sie eines gemeinsam: den Drang nach Freiheit und Autonomie.

Die Inderin Smita lebt mit ihrer Tochter Lalita und ihrem Mann in einem kleinen Dorf, in welchem sie, wie schon ihre Mutter und Großmutter, die Exkremente ihrer Nachbarn entsorgen muss. Sie ist eine Dalit, eine Unberührbare und gehört somit keiner Kaste an. Die Familie ist arm, ernährt sich von gebratenen Ratten und die Menschen schauen auf sie herab.

Lalita würde das gleiche Schicksal ereilen wie das ihrer Mutter. Um ihrer Tochter diese würdelose Arbeit, dieses elende Leben zu ersparen, möchte Smita, dass Lalita die Schule besucht um später ein besseres Leben führen zu können. Smita gelingt es, ihren Mann davon zu überzeugen und den Dorflehrer mit Geld zu bestechen und so hat Lalita bald ihren ersten Schultag.

Nachdem sie dort aufgefordert wird, den Klassenraum zu kehren und sie dies verneint, wird sie vom Dorflehrer verprügelt und beleidigt. Als das Mädchen weinend und gedemütigt nach Hause kommt, fasst Smita deshalb den Entschluss, das Dorf endgültig zu verlassen, um ein neues, besseres Leben zu beginnen. Ihr Mann aber stellt sich quer und so packt Smita das Nötigste zusammen, schnappt sich ihre Tochter und ergreift die Flucht.

Sarah ist vierzig Jahre alt und lebt im kanadischen Montreal. Sie arbeitet als erfolgreiche Rechtsanwältin, ist immer perfekt gestylt und lebt für ihre Arbeit. Für ihre Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, bleibt deshalb wenig Zeit. Das Glück in der Liebe ist Sarah bisher verwehrt geblieben. Die Väter der Kinder sehen diese regelmäßig, die Ehen zu Sara aber sind in beiden Fällen gescheitert.

In der Firma ist Sarah hoch angesehen, sie gilt als herausragende Anwältin und hat sich ihre Position hart erarbeitet. So genießt sie eine sichere, gut bezahlte Anstellung und spürt den tiefen Respekt der ihr gebührt. Bis zu dem Tag, an dem Sarah sich einer niederschmetternden Diagnose stellen muss und fortan versucht, ihre Krankheit zu verheimlichen. Nach und nach bekommt die Fassade jedoch Risse und Sarah muss erfahren, dass sie als kranker Mensch, in der Firma keinen Wert hat.

Giulia ist zwanzig Jahre alt und lebt mit ihren Eltern in Sizilien. Ihr Vater leitet dort eine erfolgreiche Firma, welche Echthaar-Perücken herstellt. Giulia möchte in die Fußstapfen ihres Vaters treten und beginnt selbst dort tätig zu sein. Sie mag die Frauen, die mit ihr dort arbeiten und mag die Aufgaben, die ihr dort zuteil werden. Als ihr Vater eines Tages stirbt und klar wird, dass die Firma vor dem Ruin steht, ist es an der jungen Frau die Firma zu retten. Völlig verzweifelt sucht Giulia nach einer Lösung. Ihre Mutter möchte deshalb, dass sie den wohlhabenden Nachbarsjungen Gino heiratet. Aber Giulia hat nur Augen für einen jungen Inder, mit dem sie sich seit einer Weile trifft.

Die Französin Laetitia Colombani schreibt eindringlich und berührend von den Schicksalen dreier Frauen, die sich ganz unterschiedlichen Herausforderungen stellen müssen. In immer wechselnden Kapiteln gibt sie Smita, Sarah und Giulia Raum für ihre Geschichte und verflechtet die Leben der Frauen gekonnt miteinander. Das Buch fesselt durch seine wechselnden Settings und faszinierenden Figuren.

Die Passagen sind spannungsreich geschrieben und angenehm kurz, sodass sie beim Lesen viel Abwechslung bieten. Gegen Ende der Geschichte fügen sich die Schicksale der drei Frauen nach und nach zusammen, auch wenn sich die Charaktere wohl nie begegnen werden. Das Cover besticht neben dem treffenden Titel und das dazu passende Motiv durch seine harmonierende Farbauswahl.

Der Zopf erzählt von drei starken Frauen, die an individuellen Wendepunkten in ihrem Leben stehen. Kraftvoll, emphatisch und mitreißend gelingt Colombani ein überragendes Buch.

Veröffentlicht am 02.11.2019

Menschliche Abgründe

Bonjour tristesse
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"Bonjour tristesse" ist ein Roman der französischen Schriftstellerin Françoise Sagan aus dem Jahr 1954. Seither wurde der weltweit erfolgreiche Klassiker unzählige Male neu aufgelegt. In diesem Fall vom ...

"Bonjour tristesse" ist ein Roman der französischen Schriftstellerin Françoise Sagan aus dem Jahr 1954. Seither wurde der weltweit erfolgreiche Klassiker unzählige Male neu aufgelegt. In diesem Fall vom Ullstein-Verlag im Sommer 2017. Die Protagonistin des Buches ist eine Siebzehnjährige, welche durch Manipulation und Scharfsinnigkeit die Beziehung ihres Vaters zu beenden versucht.

Cécile verbringt den Sommer gemeinsam mit ihrem Vater und dessen junger, einfältiger Freundin Elsa an der Côte d’Azur. Durch ihre jugendliche Leichtigkeit gelingt es Cécile, ihren Vater um den Finger zu wickeln und den Urlaub nach ihrem Geschmack zu gestalten. So verbringt sie die Tage hauptsächlich mit einem Jungen, der sich in sie verliebt hat. Aber dann taucht Anne auf: eine Freundin ihrer verstorbenen Mutter, klug und gewissenhaft. Nachdem Céciles Vater sich von Elsa trennt und Anne an seiner Seite will, droht diese durch scharfe Erziehungsmaßnahmen Céciles entspanntes Leben zu zerstören. Als ihr Vater Raymond und Anne heiraten wollen, schmiedet Cécile einen folgenschweren Plan.

Ohne Umschweife ist man gleich nach Beginn des Lesens sofort im Geschehen und fortan mit den Befindlichkeiten des Hauptcharakters konfrontiert. Die siebzehnjährige Cécile genießt das leichte Leben an der Seite ihres Vaters, in welchem auf Regeln und Konsequenzen weitestgehend verzichtet wird. Céciles Vater Raymond mag jüngere Frauen, weshalb die naive, schöne Elsa in sein Beuteschema passt. Cécile pflegt zu ihrem Vater einen engen und guten Kontakt, sodass sie deren Lebensstil zu akzeptieren versucht.

Anne kennt sie aus früheren Tagen und weiß um deren Intellekt und Pflichtbewusstsein. Von ihrem Geist und ihrer Fürsorge beeindruckt, trennt sich Raymond schließlich von seiner jungen Geliebten Elsa und widmet sich voll und ganz Anne. Beide werden ein Paar. Ab dem Moment sieht sich Cécile ihrer Freizügigkeit und Launenhaftigkeit beraubt. Vorbei ist es mit dem freien Willen und dem Faulenzen. Anne erwartet von Cécile, dass diese sich ihrem Werdegang hingibt, lernt und ihren Pflichten nachkommt.

Sicherlich muss beim Lesen und verstehen der Geschichte die Zeit berücksichtigt werden, in welcher diese spielt. Die Autorin schrieb den Roman 1953 in einem Pariser Bistro im Stadtteil Saint Germain innerhalb weniger Wochen. Ungeachtet dessen, dass die Story in den Fünfzigern spielt, stimme ich den kritischen Stimmen zum Buch nicht ganz zu. Cécile ist mit ihren siebzehn Jahren noch minderjährig und teils unreif, was sich an ihrer launenhaften, egoistischen Art und ihren manipulativen, teils ambivalenten Gedanken zeigt. Nichts desto trotz darf aber nicht unerwähnt bleiben, dass Anne das Leben von Cécile und ihrem Vater auf den Kopf stellt.

Plötzlich hat Raymond nicht mehr viel zu sagen und hält sich dementsprechend in der Erziehung seiner Tochter zurück. Diese übernimmt Anne allein. Cécile wird der Umgang mit ihrem Freund madig gemacht, sie wird zum ständigen Lernen verdonnert und ihr wird unverblümt deutlich gemacht, dass sie, um im Leben voran zu kommen auf ihren bisherigen Freiheitsdrang verzichten müsse. Des Weiteren zweifelt sie an dem Glück ihres Vaters. Dies genügt aus meiner Sicht zumindest, um nachvollziehen zu können, dass sich Cécile einer ausweglosen Situation ausgesetzt sieht. Wie sie am Ende handelt, darüber kann diskutiert werden.

Sprachlich ist Bonjour tristesse ein Genuss. Ich habe das Buch in einem Rutsch durchgelesen und die Formulierungen nur so aufgesaugt. Sagan gelingt es, einen menschlichen Konflikt simpel und dennoch kraftvoll und instinktiv zu schildern und dabei gekonnt auf psychologische Muster zurückzugreifen. Am Ende gibt es aus meiner Sicht – entgegen vieler Meinungen anderer Kritiker – keinen Schuldigen.

Kein böses Buch, sondern ein zutiefst menschliches.

Veröffentlicht am 02.11.2019

Grandiose Slimani

All das zu verlieren
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All das zu verlieren ist ein Roman der französisch-marokkanischen Schriftstellerin Leïla Slimani, der im Frühjahr 2019 im Luchterhand Verlag, welcher dem Hause Randomhouse zugehörig ist, erschien. Slimani ...

All das zu verlieren ist ein Roman der französisch-marokkanischen Schriftstellerin Leïla Slimani, der im Frühjahr 2019 im Luchterhand Verlag, welcher dem Hause Randomhouse zugehörig ist, erschien. Slimani schildert in der Geschichte die nagende Unzufriedenheit ihrer Protagonistin, die trotz Familienleben, erfolgreichem Job und schönem Heim nicht glücklich ist.

Adéle führt ein idyllisches Leben mit ihrem Mann Richard und ihrem gemeinsamen Sohn. Richard ist wohlhabender Chirurg und Adéle arbeitet als Journalistin. Mitten in Paris bewohnt die kleine Familie eine schicke Wohnung, sodass man glauben könnte, Adéle hätte alles, was eine Mutter und Ehefrau glücklich machen sollte.

Die junge Frau aber bricht immer wieder aus dem schönen Leben aus und gibt sich wildfremden Männern hin, die sie in Bars und Kneipen trifft. Auch vor Kollegen ihres Ehemannes schreckt sie nicht zurück. Ihr Doppelleben kann sie lange Zeit geheim halten und sogar ihre beste Freundin Lauren deckt Adéles Affären. Irgendwann jedoch bröckelt die Fassade und ein schwerer Verkehrsunfall ihres Mannes ändert alles.

Leïla Slimani beschreibt das Verhalten ihrer Protagonistin Adéle schonungslos offen und bringt so deren Zerrissenheit auf den Punkt. Die junge Frau provoziert und polarisiert durch ihre sexuellen Ausschweifungen und wirkt dennoch sehr menschlich. Die Frage, wie eine Frau ihrem Mann und ihrem Sohn das antun kann, schwingt beim Lesen immer mit und dennoch will möchte man Adéle mögen. Das macht die Einzigartigkeit von Slimanis Büchern aus: sie gibt immer Raum zum Nachdenken, lässt Interpretationen zu und ringt ihren Lesern Verständnis und Akzeptanz für ihre Figuren ab.

Die kurzen Kapitel spiegeln den fragwürdigen Lebenswandel von Adéle hinreichend wieder. Neben den gegenwärtigen Geschehnissen sind es zudem Rückblenden, durch welche die Geschichte lebt. Als Leser erfährt man vieles über die Kindheit von Adéle und lernt die Familien beider Ehepartner kennen, sodass sich manches Puzzleteil zusammenzufügen scheint. Der Erzählstil ist griffig und derb, die Beschreibungen und Handlungen Adéles haben mich manches Mal schockiert zurück gelassen.

Mich konnte Leïla Slimani wieder einmal vollends überzeugen. Sie schafft ein beschauliches Setting, ein nach außen hin perfektes Familienleben und zeigt auch dieses Mal menschliche Abgründe auf. Ich mag ihre direkte, ungeschönte Ausdrucksweise und den tiefen Blick in die Seele ihrer Figuren. Auch All das zu verlieren bleibt im Gedächtnis und wirkt noch lange nach.