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Veröffentlicht am 15.03.2023

Gelungene Gesellschaftskritik

Drei Kameradinnen
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Shida Bazyars Roman beginnt mit einem Zeitungsartikel, aus dem hervorgeht, dass Saya, eine der drei Protagonistinnen, einen Brand gelegt hat, bei dem mehrere Menschen ums Leben gekommen sind. Dass die ...

Shida Bazyars Roman beginnt mit einem Zeitungsartikel, aus dem hervorgeht, dass Saya, eine der drei Protagonistinnen, einen Brand gelegt hat, bei dem mehrere Menschen ums Leben gekommen sind. Dass die Perspektive des Artikels sehr einseitig ist, fällt auf, obwohl man den Rest der Geschichte noch nicht kennt.
Diese wird rückblickend von Kasih erzählt. Sie gehört zu einem Trio von Freundinnen, die sich seit ihrer Kindheit kennen und zusammen in einer Siedlung am Rande der Stadt aufgewachsen sind, nachdem die Familien nach Deutschland geflohen sind. Im Laufe des Romans beschreibt Kasih den Alltag dieser drei Frauen, der von Unterdrückung, Ungerechtigkeit, Vorurteilen und von Rassismus geprägt ist. Sie erfahren eine doppelte Marginalisierung, da sie als Mädchen bzw. als Frauen täglich Sexismus ausgesetzt sind, sich mehr anstrengen müssen als die Männer und weil ihr Migrationshintergrund ihnen ein ums andere Mal Türen verschließt, die für andere offen stehen.

Ihnen wird ein Platz in der Mitte der Gesellschaft verwehrt. Das drückt sich beispielsweise darin aus, dass in der Schule die Bestnoten den Kindern ohne Migrationshintergrund vorbehalten sind oder dass Kasih trotz eines sehr guten Studienabschlusses keinen Job findet. Kasih fasst es folgendermaßen zusammen: “Dass man sie nach Maßstäben bewertet hatte, die sich von den allgemeinen Maßstäben zu unterscheiden schienen”. Das wohl stärkste Symbol dieser Marginalisierung ist die Buslinie, die die Siedlung, in der die Mädchen aufwachsen, mit der Stadt verbindet. Eines Tages wird diese einfach gestrichen. Die Verdrängung hat ihren Höhepunkt erreicht. Rassismus, und das zeigt der Roman, ist ein institutionelles, ein gesamtgesellschaftliches Problem.

Die Sprache und der Stil des Romans wirken fließend, authentisch und direkt. Kasihs Stimme lenkt die Wahrnehmung des Lesers. Sie spricht ihn direkt an und ist teilweise provozierend, vielleicht sogar anmaßend, aber gerade dadurch gewinnt das Erzählte an Eindringlichkeit. Denn dem Leser wird vor Augen geführt, dass er Teil der Gesellschaft ist, in der die beschriebenen Probleme so tief verankert sind. Er kann sich von der Geschichte nicht loslösen, sich nicht getrennt von ihr betrachten, sondern wird in sie hineingezogen. Dadurch entsteht ein engerer und stärkerer Bezug zur Wirklichkeit.

Man könnte vielleicht behaupten, dass der Roman manchmal zu viele Themen gleichzeitig anzusprechen versucht, doch ich hatte nie das Gefühl, dass dabei der Fokus verloren geht und deshalb hat es mich nicht gestört. Der Roman ist meiner Meinung nach eine gelungene Gesellschaftskritik, der mit seiner Erzählerin eine Stimme gefunden hat, die es verdient hat, gehört zu werden.

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Mahler wird greifbar...

Der letzte Satz
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“Ich hätte noch so viel mehr komponieren können. Es fühlt sich an, als hätte ich gerade erst angefangen, dabei ist es schon wieder zu Ende.”

Robert Seethaler läßt in diesem kurzen Roman Gustav Mahler ...

“Ich hätte noch so viel mehr komponieren können. Es fühlt sich an, als hätte ich gerade erst angefangen, dabei ist es schon wieder zu Ende.”

Robert Seethaler läßt in diesem kurzen Roman Gustav Mahler auf dessen eigenes Leben zurückblicken. Fließend geht die Gegenwart, in der sich der kranke Mahler auf einem Schiff von New York nach Europa befindet, in Erinnerungen über. Es sind Episoden seines Lebens, die in jetzt beschäftigen: Der Tod seiner Tochter Maria, das Kenennlernen mit Alma, seine Arbeit in Wien, die Reisen, Almas Affäre mit Gropius und schließlich seine Krankheiten, sein schwacher Körper, der den bevorstehenden Tod ankündigt.

Robert Seethaler bedarf nie großer Worte und Gesten, um eine Geschichte so zu erzählen, dass sie ihre volle Wirkung entfalten kann. Er verliert sich nicht in Ausschweifungen und auch mit Der letzte Satz gelingt es ihm, den Worten und Sätzen Leben einzuhauchen. Er wird Mahler gerecht und fast scheint es, als wäre da keine unüberbrückbare zeitliche Distanz mehr, die den großen Komponisten vom Leser trennt. Mahler wird greifbar, indem seine Geschichte introspektiv und nachdenklich erzählt wird. Ein empfehlenswertes Buch!

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Veröffentlicht am 12.03.2023

Eine besondere Empfehlung für alle musikalischen Leser*innen

Straßenmusik
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Auf dem Weg nach Amsterdam begegnen sie sich zum ersten Mal für einen kurzen Augenblick im Zug: Jonas und Chiara. Jonas wurde gerade von seinen eigenen Bandkollegen aus der Band rausgeworfen. Jetzt, wo ...

Auf dem Weg nach Amsterdam begegnen sie sich zum ersten Mal für einen kurzen Augenblick im Zug: Jonas und Chiara. Jonas wurde gerade von seinen eigenen Bandkollegen aus der Band rausgeworfen. Jetzt, wo “Wunderwerk” einen Plattenvertrag hat und die Aussicht auf Erfolg besteht, wollen sie lieber einen anderen Bassisten. Chiara wartet derweil auf eine Antwort von der Uni in Graz. Sie hat sich für ein Psychologiestudium beworben.

In einer Bar in Amsterdam lässt Chiara dann ihre Gitarre liegen. Jonas findet sie und will sie am nächsten Tag wieder zur Bar bringen. Doch dann überkommt ihn die Lust, selbst zu spielen. Zufällig sieht ihn Chiara.

Im Folgenden verschränken sich Chiaras und Jonas Wege. Sie fangen an, gemeinsam auf den Straßen von Amsterdam Musik zu machen. Und auch, als sie beide wieder Zuhause sind, hält ihre Freundschaft an.

Der Roman beschreibt einen Moment im Leben seiner Protagonisten, in dem beide an einem Wendepunkt in ihrem Leben stehen. Sie müssen Entscheidungen treffen, sich ihrer eigenen Vorstellungen und Wünsche bewusst werden. Es ist eine Art Selbstfindung, die durch die Musik begleitet wird.

Dieses Verlorensein spiegelt sich sehr in dem Verhalten der Charaktere wider. Besonders bei Chiara. Deshalb fand ich es auch schwer, als Leserin einen Bezug zu ihr aufzubauen und ihre Stimmungsschwankungen, Wutausbrüche, etc. nachzuvollziehen. Jonas habe ich reflektierter empfunden und deshalb tritt er auch als nahbarere Figur in Erscheinung.

“Straßenmusik” liest sich flott. Nur manchmal hakt es ein wenig, nämlich immer dann, wenn die Dialoge etwas plump sind oder die Handlung etwas konstruiert und gelenkt wirkt.

Trotz dieser Mängel lauscht man dem Sound des Romans ganz gerne. Besonders im ersten Teil. Deshalb: Eine Empfehlung, besonders für alle musikalischen Leser*innen.

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Veröffentlicht am 03.03.2023

Ausschweifender als andere Romane des Autors

Harlem Shuffle
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Der neue Roman des zweifachen Pulitzerpreisträgers Colson Whitehead spielt in Harlem in den Sechzigerjahren. Der Protagonist Ray Carney ist im Möbelankauf und -verkauf tätig. Sein Weg zum eigenen Geschäft ...

Der neue Roman des zweifachen Pulitzerpreisträgers Colson Whitehead spielt in Harlem in den Sechzigerjahren. Der Protagonist Ray Carney ist im Möbelankauf und -verkauf tätig. Sein Weg zum eigenen Geschäft war steinig. Er musste sich hochkämpfen und eine Kindheit hinter sich lassen, die vom Alkoholismus und der Abwesenheit seiner Eltern geprägt war. Nun ist er selbst Vater einer Tochter und erwartet mit seiner Frau ein weiteres Kind. Er träumt davon, seiner Familie ein noch besseres Leben bieten zu können, insbesondere eine schönere Wohnung.

Als Ray durch seinen Cousin Freddie in einen Raubüberfall auf ein Hotel verstrickt wird, bekommt Rays so mühselig aufgebaute Fassade Risse und er rutscht immer tiefer in die kriminelle Welt Harlems hinein, in der Drogen, Gangs, korrupte Polizisten, Schutzgelder, Drohungen und Rache an der Tagesordnung sind.

Vor dem Hintergrund der Rassenunruhen entfaltet Whitehead eine Geschichte, die Soziographie und Zeitgeschichte in einem ist. Er stellt Harlem als einen abgeschotteten Raum dar, der seine Bewohner in ganz bestimmten Strukturen festhält. Ein sozialer Aufstieg scheint fast unmöglich und deshalb ist die Kriminalität allgegenwärtig. Ray Carney steht stellvertretend für den Versuch des Aufstiegs, für den Willen, den ihm zugewiesenen Platz in der Gesellschaft nicht zu akzeptieren und für das Unvermögen, sich vollständig von der Kriminalität abzugrenzen. Denn ein Aufstieg mit legalen Mitteln ist nicht vorgesehen.

“Wie die meisten Bewohner von Harlem war Carney mit Glasscherben auf dem Spielplatz, der allgegenwärtigen Straßenbrutalität bei jedem Gang vor die Tür und dem Krachen von Schüssen groß geworden.”

Whitehead fängt das Leben der Menschen, die Atmosphäre Harlems in den Sechzigerjahren und die Veränderungen, die innerhalb der Gesellschaft stattfinden, ein. Es ist die Vielschichtigkeit der Geschichte und die Glaubwürdigkeit der Charaktere, die den Roman auszeichnen.

Im Vergleich zu seinen beiden berühmten Romanen “Underground Railroad” und “Die Nickel Boys” nimmt sich Whitehead in “Harlem Shuffle” mehr Zeit. Er geht auf die Hintergründe von Figuren ein, die teilweise nur ein Mal auftauchen, hat keine Angst vor langen Szenen und erzählt auf eine Weise, die weniger klar und zielgerichtet ist, als man es von seinen beiden Bestsellern gewöhnt ist.
“Harlem Shuffle” ist anders, ist ausschweifender. Aber wenn man sich dem langsamen Erzähltempo öffnet und wenn man bereit ist, sich in einem Geflecht an Figuren zurechtzufinden, dann ist auch dieser Roman lesenswert.

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Veröffentlicht am 03.03.2023

Unterhaltsam

Louma
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Als Louma stirbt, lässt sie vier Kinder von zwei Ehemännern zurück. Toni, Fabi, Fritte und Nano sind plötzlich Halbwaisen und es stellt sich die Frage, wer sich um sie kümmern soll. Mo, Loumas zweiter ...

Als Louma stirbt, lässt sie vier Kinder von zwei Ehemännern zurück. Toni, Fabi, Fritte und Nano sind plötzlich Halbwaisen und es stellt sich die Frage, wer sich um sie kümmern soll. Mo, Loumas zweiter Ehemann, mit dem sie in den letzten Jahren zusammengelebt hat? Oder soll Tristan, Loumas Ex-Mann, Toni und Fabi zu sich nehmen und die Halbgeschwister voneinander trennen?

Als Fritte den Vorschlag macht, Tristan könnte zu ihnen ziehen, verändert sich das Leben aller. Tristan und Mo unterscheiden sich nicht nur charakterlich, sondern haben auch gegensätzliche Einstellungen zum Leben. Während in Tristans Lebenskonzept, in dem die Arbeit im Mittelpunkt steht, kein Platz für Kinder zu sein scheint, hängt Mo an allen vier Kindern und fühlt sich als deren Vater.

Mos und Tristans Aufeinandertreffen und ihre anfängliche Beziehung zueinander ist von Vorurteilen geprägt. Während Mo Tristan für einen Snob und einen Rabenvater hält, ist Mo in Tristans Augen ein Verlierer. Doch diese Be- und Verurteilungen, die zwischen ihnen stehen, müssen sie überbrücken, um miteinander leben und sich gemeinsam um die Kinder kümmern zu können. Der Roman stellt diesen Prozess der Annäherung gekonnt dar und hält die Hochs und Tiefs, die die Beziehung der beiden Männer auszeichnen, fest.

Im Zentrum dieses Romans steht der Verlust eines Menschen, der eine Familie zusammengehalten hat, ebenso wie der Umgang der einzelnen Familienmitglieder mit diesem Verlust und ihrer Trauer. Es geht dabei um Schuldgefühle, Vorwürfe, die Bewältigung von Vergangenem, Vertrauen, Verantwortung und Verständnis.

“Ohne Lou waren Sie den Fliehkräften schutzlos ausgeliefert. Im Planetensystem ihrer Familie war Lou die Sonne gewesen. Er war, genau wie die Kinder, einer der Planeten, die von ihrer Anziehungskraft zusammengehalten wurden. Die Sonne war verschwunden. Es gab kein Zentrum mehr. Keine Mitte. Keine Anziehungskraft. Die Planeten schossen einfach nur haltlos in die Dunkelheit hinaus, bis sie irgendwo mit der Realität kollidieren würden.”

Christian Schnalke zeichnet seine Charaktere mit viel Feingefühl. Sie wirken nicht überzogen, sondern stets natürlich in ihrem Denken, Handeln und in ihrer Bewältigung der Trauer. Während des Romans müssen sie außerdem nicht nur ihren Platz in der eigenen Familie finden, sondern lernen auch sich selbst besser kennen und entwickeln sich in ungeahnte Richtungen.

Der Schicksalsschlag, der der Familie eine neue Form gibt und sie auf eine interessante Weise miteinander verflicht, ergibt eine Geschichte, die mal leicht und mal schwer ist, aber stets unterhaltsam und deshalb empfehlenswert.

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