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Veröffentlicht am 21.02.2024

Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte

Die Postkarte
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Im Januar 2003 fand Anne Berests Mutter unter den Neujahrswünschen eine verstörende Postkarte mit nichts als den Namen ihrer vier Angehörigen, die in Auschwitz ermordet wurden; ohne Absender, ohne Unterschrift. ...

Im Januar 2003 fand Anne Berests Mutter unter den Neujahrswünschen eine verstörende Postkarte mit nichts als den Namen ihrer vier Angehörigen, die in Auschwitz ermordet wurden; ohne Absender, ohne Unterschrift. Anne fragt nach und die Mutter erzählt ihr die tragische Geschichte der Familie Rabinowicz. Aber erst als ihre kleine Tochter in der Schule Antisemitismus erfährt, beschließt Anne, der Sache wirklich auf den Grund zu gehen. Mithilfe eines Privatdetektivs und eines Kriminologen recherchiert sie in alle erdenklichen Richtungen.

Meine persönlichen Leseeindrücke
Dieses Buch als Roman zu bezeichnen, kann richtig sein, ich empfinde es jedenfalls nicht so, sondern viel mehr begleite ich die Autorin auf ihrer Spurensuche nach der Vergangenheit ihrer Familie - den Rabinovitchs.
Geschickt verbindet die Autorin zwei Zeitebenen der Geschehnisse, eine historische und eine gegenwärtige. Sie erzählt zum einen, in weiten Teilen gestützt auf Protokolle und Berichte ihrer Mutter, die Familiengeschichte, zum anderen von ihren eigenen Erlebnissen und der Auseinandersetzung mit der Frage, was es eigentlich für sie und ihre Tochter bedeutet "Jüdin" zu sein.
Es liegt in der Natur der Sache, dass die Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte viel Leid ans Tageslicht bringt. Zum Schluss muss Anne Berest erkennen, dass diese Vergangenheit Teil ihrer Gegenwart ist - einer Gegenwart, in der auch in Frankreich der Antisemitismus immer wieder aufflammt.
Wahrscheinlich liegt es am Buchumfang, ich mag selten Bücher mit mehr als 300 Seiten, dass mein Interesse an der tragischen Geschichte der Familie Rabinovitch während der Lektüre abgenommen hat, um erst zum Schluss wieder an Fahrt aufzunehmen.

Fazit
Die Postkarte von Anne Berest ist eine Mischung aus Roman und fast journalistischer Erzählung. Das Buch lebt von der Unmittelbarkeit und der direkten, fast kriminalistischen Erforschung und Auseinandersetzung der Autorin mit ihrer Familiengeschichte.

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Veröffentlicht am 06.02.2024

Mattanza - Siziliens jahrhundertealte Tradition des Thunfischfangs

Mattanza
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Auf Katria (Anm. Favignana), dieser wunderschönen, wilden ägadischen Insel im Mittelmeer vor der Westküste Siziliens, wird seit Jahrhunderten die Mattanza als uralte Regel, und als mit dem Fischfang verbundenen ...

Auf Katria (Anm. Favignana), dieser wunderschönen, wilden ägadischen Insel im Mittelmeer vor der Westküste Siziliens, wird seit Jahrhunderten die Mattanza als uralte Regel, und als mit dem Fischfang verbundenen Brauch, für die Unveränderlichkeit der Abläufe, die das Überleben der Insel sichern, praktiziert. Solange wird Katria weiterbestehen, das ist der Glaube und das Gesetz.
Raìs Matteo Martorana führt jedes Jahr den Fang der Thunfischschwärme an und nur sein Nachfolger, so will es der Brauch, kann diese Tradition fortführen. Als sich kein männlicher Nachfolger einstellt, und als letzte Hoffnung ein Mädchen geboren wird, wird die Kleine in die Obhut ihres Großvaters gegeben.
Sie soll als Raìs das wertvollste Gut der Insel, die jahrhundertealte Tradition der Mattanza, weiterführen und sie für die nächste Generation erhalten.
Die neuen Herausforderungen fordern und überfordern nicht nur den Raìs, sondern die ganze Inselgemeinschaft, die mit aller Kraft versucht, sich gegen die Veränderungen zu stemmen.

Meine persönlichen Leseeindrücke
Ich bin im Bücherjahr 2024 noch gar nicht angekommen, zu viele (gute) Bücher von 2023 warten noch darauf gelesen zu werden. So auch dieser wunderbare Roman Mattanza von Germana Fabiano.
Der vorliegende Roman entstammt der Trilogie „Concerto Siciliano“ (Anm. Sizilianisches Konzert), und „L’ultimo Raìs – Mattanza“ ist der 2. Band daraus. Es ist die Erzählung von Eleonora, abgekürzt einfach Nora gerufen, die mit ihrer Geburt 1960 beginnt. 52 Jahre lang verfolge ich ihr Leben, der Tradition verschrieben, von ihren großen Erfolgen als Raìs und den widrigen Umständen, die ein bitteres Ende erkennen lassen. Denn es kommen nicht nur die japanischen Schleppkähne, die die Meere in industriellen Ausmaßen leerfischen, sondern die Besitzer wollen die Fischfabrik und die Fischerboote verkaufen und der Flüchtlingsansturm aus Nordafrika beginnt.
Das bedeutet den Untergang der seit Jahrhunderten bestehenden Lebensform und Kultur auf der Insel, und die Dorfgemeinschaft, angeführt vom Raìs, setzt sich zur Wehr.
Wer Sizilien kennt und die großen sizilianischen Schriftsteller schätzt, wird in der Erzählung das berühmt berüchtigte unsichtbare Verhaltensmuster der Inselbewohner erkennen, das mich so sehr an Leonardo Sciascia erinnert. Auf die Frage wie viel Tradition wert ist, wie weit man gehen darf, um diese zu erhalten und ob man dem Schicksal ein Schnippchen schlagen kann, gibt es keine klare Antwort. Das Buch endet 2012, wie es weitergehen kann, bleibt offen.
Wieder sehr gelungene ist die Übersetzung, die den besonderen sizilianischen Charakter beeindruckend ins Deutsche überträgt. Barbara Neeb und Katharina Schmidt stehen schon seit langem für mich als Garantinnen exzellenter Literatur.

Fazit
Mattanza aus der Trilogie „Concerto siciliano” ist ein eindrucksvolles Zeitzeugnis der jahrhundertealten Tradition des Thunfischfangs, die einst Siziliens Stolz der Ägadischen Insel Favignana war.

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Veröffentlicht am 01.02.2024

Eindrucksvolle und berührende Geschichte von Spätaussiedlern aus Russland

Bis wir Wald werden
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Ein Hochhaus mit 16 Stockwerken à 5 Wohnungen am Stadtrand, in der Nähe einer Autobahnausfahrt, dahinter ein Wald; hier wohnt Nanushka mit ihrer Familie und Freunden in bescheidenen Verhältnissen.

Babulya, ...

Ein Hochhaus mit 16 Stockwerken à 5 Wohnungen am Stadtrand, in der Nähe einer Autobahnausfahrt, dahinter ein Wald; hier wohnt Nanushka mit ihrer Familie und Freunden in bescheidenen Verhältnissen.

Babulya, ihre Urgroßmutter, hatte sie einst von Sibirien nach Deutschland getragen, um ihr in der neuen alten Heimat ein besseres Leben zu ermöglichen. Während das unter der Aufsicht der Urgroßmutter Mädchen aufwächst, wird diese das emotionale Zentrum der Hausgesellschaft.

Jetzt ist Babulya so alt, dass sie kaum noch ihr Bett verlässt. Nanushka kümmert sich liebevoll um sie, ist sie doch ihre wichtigste Bezugsperson und ihre emotionale Anbindung an ihr Geburtsland. Erinnerungen an Babulyas Leben in Sibirien verbinden sich mit der Gegenwart und Nanushka tritt Babulyas Erbe an.



Meine persönlichen Leseeindrücke

„Bis wir Wald werden“ ist ein besonderes Buch, das mit einem besonderen Ton besticht, und das über das Leben der Russlanddeutschen (oder auch Spätaussiedlern) in Deutschland erzählt, aus erster Hand der Autorin sozusagen. Birgit Mattausch hat als Pastorin viele Jahre diese besondere Minderheit begleitet und erzählt in ihrem Debütroman über das Leben in Deutschland und die Erinnerungen der älteren Generation an Sibirien.

Nanushka kommt als Baby nach Deutschland. Ihre Urgroßmutter hat sie buchstäblich den langen Weg aus der Sibirien getragen, um ihr ein neues Leben zu schenken. So wächst das Mädchen mit ihren Cousinen in der neuen, fremden Heimat auf, denn was nun Heimat ist, scheint sich zu einem kompliziertes Verhältnis zu entwickeln. Die Frage nach der Identität der Spätaussiedler, wie sie zur deutschen Gesellschaft stehen und passen und was die eigene Familiengeschichte ist, wird behutsam und feinfühlend dargelegt.

Immer wieder werden pointierte Alltagsepisoden von Nanushka und ihren Freunden mit Rückblicken der Urgroßmutter an ihr Leben in der Sowjetunion unterbrochen. Besonders die Traumausschnitte, in denen Babulya ihrem geliebten Mann, dem Bären, im Wald begegnet, der verschleppt wurde und nicht mehr zurückkehrte, wird sehr berührend erzählt. In Deutschland ist Babulyas Reich eine Miniküche in einer Wohnung dieses Architekturmonsters, abgeschirmt von der Realität der neuen Heimat, verstrickt mit Erinnerungen und vielen Weisheiten.

Doch das Buch ist auch eine Hommage an Babulya, die für eine Generation von Frauen steht, die in der Sowjetunion keine Zukunft sahen und die Aussiedlung nach Deutschland als einzige Chance für ein gesichertes Leben für sich und die kommenden Generationen.


Fazit

„Bis wir Wald werden“ erzählt von Russlanddeutschen, die nach Deutschland kamen um sich hier in der Heimat eine neue Existenz aufzubauen. Es ist die Geschichte von Nanuschka und ihrer Urgroßmutter Babulya, aus ungewohnter Perspektive.

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Veröffentlicht am 23.01.2024

Eine ausgefallene Geschichte einer exzentrischen alten Dame

Das Philosophenschiff
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1922: 10 Personen befinden sich auf einem Luxusschiff, das von St. Petersburg über den Finnischen Busen nach Westen fahren wird. Die Passagieren sind Intellektuelle, Philosophen, Wissenschaftler und Künstler, ...

1922: 10 Personen befinden sich auf einem Luxusschiff, das von St. Petersburg über den Finnischen Busen nach Westen fahren wird. Die Passagieren sind Intellektuelle, Philosophen, Wissenschaftler und Künstler, die auf Anordnung der jungen russischen Regierung ausgewiesen wurden. Sie könnten dort der Revolution gefährlich werden; wie ist nicht ganz klar, aber dennoch könnte eine Gefahr von ihnen ausgehen. Unter ihnen befindet sich als einzige Jugendliche die 14jährige Anouk mit ihren Eltern.
Zu Ehren des 100. Geburtstages von Frau Prof. Anouk Perleman-Jacob wird im Mai 2008 in Wien ein Abendessen veranstaltet, zu dem auch Michael Köhlmeier eingeladen ist, auf ausdrücklichen Wunsch der Jubilarin. Sie hat ihn sich ausgesucht, damit einer über ihre Erinnerungen schreibt, dem man nicht glaubt.

Meine persönlichen Leseeindrücke
Hier ist es also, das Werk des windigen Autors Michael Köhlmeier, der Dinge erfindet, die wahr sein könnten. Auch ich gehe ihm auf den Leim und google doch tatsächlich ob es Anouk Perleman-Jacob wirklich gab! „Jetzt hat er mich,“ denke ich,“ führt mich geschickt hinters Licht und schummelt sich eine Wahrheit zusammen, die ich ihm nicht nur abkaufe, sondern mit Genuss lese.“
Der eher kurze Roman ist geschickt aufgebaut. Da gibt es zum einen die Rahmenhandlung, in der Anouk Perleman-Jacob auf den Schriftsteller trifft, ihn in ihr Haus einlädt und dazu überredet, ein Buch über eine Geschichte aus ihrer Kindheit zu schreiben. Zum anderen gibt es die Erinnerungen an ihre jungen Jahre und die Fahrt mit dem Philosophenschiff, prall gefüllt mit hochinteressantem geschichtlichen Wissen und Sprichwörtern und russischer Weisheiten, die ich mir alle aufgeschrieben habe, weil ich sie bestimmt einmal gebrauchen kann.
Sprachlich flott und salopp erzählt Köhlmeier über die Treffen mit der Stararchitektin, dieser Hundertjährige, der man wenig vormachen kann und die es faustdick hinter den Ohren hat. Nüchtern und prägnant erzählt sie über den bolschewistischen Terror und den Wirrungen ihrer Kinder- und Jugendjahre, benennt Akteure, Sieger und Besiegte, Freunde, Überlebende und Getötete.
Und wie schon bei „Frankie“ bin ich überrascht vom Ende, das genauso ist, wie es Anouk Perleman-Jacob vom Schriftsteller verlangt hatte:
„Aber vergessen Sie nicht, wer Sie sind: Sie sind der, dem man glaubt, wenn er lügt, und nicht glaubt, wenn er die Wahrheit sagt.“

Fazit
Das Philosophenschiff von Michael Köhlmeier ist eine ausgefallene Geschichte einer exzentrischen alten Dame, die dem russischen Revolutionsterror entfliehen musste, um niemals mehr zurückzukehren, wo ihre Eltern einst ein geachtetes Leben führten.

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Veröffentlicht am 30.11.2023

Lübecker Geschichten

Unsereins
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Unsereins erzählt die Geschichte der protestantisch, konservativ, kaisertreuen Lübecker Familie: die Lindhorsts. 1890 beginnt die Geschichte mit der Geburt der Nachzüglerin Marthe. Von diesem Ereignis ...

Unsereins erzählt die Geschichte der protestantisch, konservativ, kaisertreuen Lübecker Familie: die Lindhorsts. 1890 beginnt die Geschichte mit der Geburt der Nachzüglerin Marthe. Von diesem Ereignis ausgehend erzählt Inger-Maria Mahlke ein facettenreiches, detailliertes Werk vom Aufstieg und Fall des weitläufigen Patrizierhauses. Als sich die Familie langsam wieder finanziell erholt, erscheint ein Bestsellerroman, verfasst vom Sohn eines verstorbenen Lübecker Senators, der den respektablen Lindhorsts klarmacht, dass sie für ihr Umfeld auch nach zwei Generationen noch immer «die Jüdischen» sind.
Meine persönlichen Leseeindrücke zu „Unsereins“
Inger-Maria Mahlke kann Schreiben, das steht außer Frage. Sie taucht ausführlich und feinfühlig in das Leben der Familie Lindenhorst ein, und verbindet damit Ereignisse und Menschen, deren sie sich ausladend annimmt. Obwohl es mich selten stört wenn es fordernd wird, hier wird es mir dann doch zu viel. Ohne Personenverzeichnis am Anfang des Buches wäre ein gutes Durchkommen schwierig geworden.
Mahlkes Sinn fürs Detail wirkt dann irgendwann einfach nur mehr ermüdend. Zu ausufernd sind ihre Einblicke in das Leben jeder einzelnen Romanfigur. Wenngleich es historisch und gesellschaftlich lohnende Einblicke in Lübecks Leben um die Jahrhundertwende gibt, so sind dennoch knapp 500 Seiten zu viel bemessen. Einige Figuren hätte die Autorin streichen können, ihr Dasein kann man wohlwollend dem Tratsch zuschreiben. Der Handlung hätte dies zweifelsfrei gut getan, sie wäre greifbarer und sinnhafter geworden. Und somit hat Mahlke mit ihrem Buch, das durchaus ein buddenbrooksches Flair hat, für mich nicht klar ausdrücken können, was sie eigentlich sagen wollte.
Fazit
„Unsereins“ von Inger-Maria Mahlke erzählt die Geschichte der Lübecker Patrizierfamilie Lindhorst, und vieler anderer Nebenfiguren. Der Schreibstil passt, doch ist die Erzählung, die durchaus mit einer Buddenbrooks Atmosphäre aufwartet, durch ausufernde Details ermüdend.
N.B. Meine Buchbeschreibung ist an die Rezension von Sternguckerin (Lovelybooks) angelehnt.

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