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Veröffentlicht am 18.03.2024

Nicht schon wieder! Verliebt in den eigenen Chef

Because of You I Want to Stay
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In Josies Leben läuft es gerade gar nicht rund: Ihr Freund Nathan hat sie verlassen und, da er auch ihr Chef ist, ihr die Kündigung in seinem Labor nahegelegt. Frustriert und zutiefst verletzt begleitet ...

In Josies Leben läuft es gerade gar nicht rund: Ihr Freund Nathan hat sie verlassen und, da er auch ihr Chef ist, ihr die Kündigung in seinem Labor nahegelegt. Frustriert und zutiefst verletzt begleitet sie ihre Freundin Liv nach Martha’s Vineyard, um dort in den Ferien zu jobben und sich über ihren weiteren Lebensweg Gedanken zu machen. Eine neue Liebe kommt in ihren Plänen eigentlich nicht vor, wäre da nicht der charismatische Blake Sullivan, alteingesessener Einheimischer. Und ihr Chef.

Hach und seufz! Sehr schön geschriebene Liebesgeschichte mit super sympathischen Figuren vor der wild-romantischen Kulisse der US-amerikanischen Ostküste. Die Autorin trifft genau den richtigen gefühlvollen Ton, ohne ins Kitschige abzudriften, und spickt das Ganze mit einer glaubwürdigen Prise an Irrungen und Missverständnissen, die gut zur Geschichte passen. Gut herausgearbeitete, vielschichtige Charaktere, die ein Päckchen mit sich herumtragen und denen man daher die Zweifel und manch eine eher krasse Aktion abnimmt. Sie wirken authentisch und vor allem mit Josie habe ich schön mitgelitten. Sie ist hin und hergerissen zwischen ihrem Trennungsschmerz und ihrer Anziehungskraft zu Blake und steht an einem Scheideweg in ihrem Leben. Erschwerend kommt noch die Trennung von ihren Eltern und ihrem Wunsch, es allen recht zu machen. Wunderbar in diesem Zusammenhang ist ihre beste Freundin Liv, die ihr mehr als einmal den Kopf zurechtrückt und sie zum Nachdenken und damit auf den für sie richtigen Weg bringt. Insofern macht Josie durchaus eine Entwicklung durch, sie emanzipiert sich von den Vorstellungen anderer und erkennt, dass es besser ist, das in ihren eigenen Augen Richtige zu tun.

Blake war mir mitunter zu schön, um wahr zu sein, doch auch er ist ein sympathischer Charakter mit Ecken und Kanten und mit Vorbelastung. An sich hätte Josie aufgrund seiner Vorgeschichte eher erkennen müssen, wie manche seiner Handlungen und Worte motiviert sind, aber das Nichterkennen ist wohl ihrer Verletzlichkeit und ihrer Selbstzweifel geschuldet. Da es aus Josies Perspektive in der Ich-Form geschrieben ist, erhält man besonders zu Josies Innenleben intime Einblicke. Sie ist wohltuend unaufgeregt und uneitel und reflektiert sehr viel. Es ist jedenfalls wunderbar zu lesen, wie die beiden sich wie zwei Satelliten umkreisen und sich einmal anziehen, ein anderes Mal wieder abstoßen. Auch die anderen Figuren sind schön beschrieben und interessant, und ich fand zudem die bildhaften Beschreibungen der Umgebung faszinierend und bekam direkt Lust hinzureisen. Der sehr flüssige und eingängige Stil der Autorin macht das Ganze zu einer vergnüglichen und kurzweiligen Lektüre und ist zum Abtauschen gut geeignet. Nebenbei erfährt man auch einiges über die anderen Sullivan-Brüder Flynn und Jacob sowie die Freundinnen Liv und Hannah und ahnt, dass sich auch da jeweils Liebesgeschichten anbahnen.

Fazit: Wunderbare und kurzweilige Forbidden-Love-Geschichte zum Abtauchen und Wohlfühlen mit TOP-Aussichten auf eine Enemy-to-Lovers und eine Friends-to-Lovers Geschichte, die sich gut lesen und bei der sich gut mitleben lässt. Für alle, die ein romantisches Lesevergnügen suchen. Ich freue mich jedenfalls schon auf ein Wiedersehen im wundervollen Martha‘s Vineyard mit lieb gewonnen Figuren.

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Veröffentlicht am 15.01.2024

Von Besatzern und Kriminellen und von Vätern und Söhnen: Eddie Girals 2. Fall

Paris Requiem
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Paris, Herbst 1940: Édouard „Eddie“ Giral, ein aus dem Ersten Weltkrieg traumatisiert zurückgekehrter ehemaliger Soldat, arbeitet im von den Nazis besetzen Paris bei der Polizei als Inspektor. Keine leichte ...

Paris, Herbst 1940: Édouard „Eddie“ Giral, ein aus dem Ersten Weltkrieg traumatisiert zurückgekehrter ehemaliger Soldat, arbeitet im von den Nazis besetzen Paris bei der Polizei als Inspektor. Keine leichte Aufgabe, denn seine Ermittlungen führen ihn nicht nur in die dunkelsten Ecken der französischen Hauptstadt und aufs platte Land, in Jazz-Klubs und in die Oper, sondern auch in die Hauptquartiere der verschiedenen Behörden der deutschen Besatzer. So ist es auch in seinem neuen Fall: Ausgebremst von seiner eigenen Behörde und immer überwacht und verfolgt von der Pariser Unterwelt und den deutschen Geheimdiensten versucht er, den Mord an einem französischen Kleinkriminellen aufzudecken. Dabei stochert er nicht nur in deutschen und französischen Wespennestern herum, sondern bringt die Haute Volée der deutschen und französischen organisierten Kriminalität gegen sich auf.

Ein halbes Jahr nach Eddies spektakulärem ersten Fall, die Toten vom Gare d‘Austerlitz, führt ihn sein nicht weniger grausamer zweiter nun in die Pariser Jazz-Klubs. Eddie bekommt es hierbei nicht nur mit halbgaren Klubbesitzern und französischen Kleinkriminellen zu tun, sondern mit dem organisierten Verbrechen. Außerdem darf er sich erneut mit sämtlichen deutschen Behörden, der Gestapo, der Wehrmacht und der Abwehr in Gestalt seines alten Gegenspielers Major Hochstetter herumschlagen. Nicht zuletzt steht er sowohl psychisch als auch physisch immer mit einem Bein am Abgrund. Seine Kriegstraumata sind noch lange nicht überwunden und mit dem Wiederfinden seines Sohnes, dem er zur Flucht verhalf, bekommt sein Leben nun eine sehr viel persönlichere Komponente. Um seinem Sohn keinen Schaden zuzufügen, würde er alles tun. Es macht ihn aber auch erpressbar.

Fidelio, Beethovens einzige Oper, spielt eine Schlüsselrolle in der Geschichte und das Motiv zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Nicht zuletzt ist es ähnlich einer Oper in Ouvertüre und Akten eingeteilt. Obwohl sich die Handlung nur über etwa drei Monate erstreckt, ist die Geschichte sehr kompakt und vollgepackt mit Personen, Handlungssträngen, Nebenschauplätzen und undurchsichtigen Akteuren. Alte Bekannte wie Eddies Chef und Partner in Crime Dax tauchen ebenso auf wie neue Figuren aus Eddies Vergangenheit und Gegenwart. Der Autor bleibt seinem Stil treu und entwirft tiefschürfende Charaktere, bissige Dialoge und ein authentisches, von den Nazis besetztes Paris, das in seiner Bitterkeit und Düsternis kaum zu überbieten ist. Nahtlos übernimmt der Autor seine Komposition aus Buch eins in dieses zweite und es verwundert nicht, dass er seinen Anti-Helden erneut in Abgründe schauen lässt.

Eddie als Figur polarisiert durchaus, er wie auch die anderen Charaktere bestechen durch ihre starken, komplexen Persönlichkeiten und ein jeder muss einen Weg finden zu überleben. Nichts ist nur schwarz oder weiß, niemand ist nur gut oder nur böse und jeder von ihnen hat nachvollziehbare Gründe für das, was er tut. Obwohl man tief eintaucht in die Geschichte und absolut mit Eddie mit leben kann, muss man doch mehr als einmal schlucken und sich fragen, was man wohl an seiner Stelle getan hätte. Er bewegt sich auf einem sehr schmalen Grat zwischen Recht und Gerechtigkeit und Selbstherrlichkeit, indem er beispielsweise auf der einen Seite Menschen hilft, andere jedoch in den Abgrund stößt. Indem er sie verrät, sichert er sein eigenes Überleben in der Hölle der besetzten Stadt, in der die Stimmung kippt und in der die Besatzer ihre Macht nunmehr brutal ausspielen. Sehr gut fand ich die Einführung des zu Anfang etwas zwielichtigen Polizei-Kollegen Boniface, dessen Verhältnis zu Eddie eine Entwicklung durchläuft und den ich als starke Ergänzung zu ihm empfand.

Fazit: Für wen die Totenmesse gelesen wird, mag jeder nach der Lektüre selbst entscheiden. Fakt ist, die Geschichte ist ein sehr spannender Fall, auf gleichbleibend hohem Niveau erzählt, mit komplexen Figuren und ebensolchen Handlungssträngen. Es ist nicht die Zeit für ein Happy End, und Eddie vermag zwar die Zusammenhänge erkennen, die wahren Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen vermag er jedoch nicht. Er löst zwar die ihm aufgebürdeten Aufgaben, zieht jedoch keine Befriedigung daraus. Vor dem Lesen dieses Buch sei auf jeden Fall die Lektüre des ersten Bandes empfohlen, man versteht die Zusammenhänge und Eddies Motive sehr viel besser. Es ist kein klassischer Whodunnit-Krimi, sondern ein Thriller in historisch ebenso düsteren wie verstörenden Zeiten, in der der Gerechtigkeit nicht zu hundert Prozent Genüge getan werden kann.

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Veröffentlicht am 31.12.2023

Glaubenseifer und Glaubenseiferer: eine ungewöhnliche Frau und die Suche nach der Wahrheit

Die Mönchin
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Im Jahr 1405 ist die lateinische Kirche geprägt von Zersplitterung und Zwiespalt. Zwei Päpste erheben Anspruch auf den Stuhl Christi, in den Klöstern herrschen lose Sitten und man streitet erbittert über ...

Im Jahr 1405 ist die lateinische Kirche geprägt von Zersplitterung und Zwiespalt. Zwei Päpste erheben Anspruch auf den Stuhl Christi, in den Klöstern herrschen lose Sitten und man streitet erbittert über diverse Glaubensfragen. Der Gelehrte Albert von Kanten etwa lehnt die gängige Dreifaltigkeitslehre ab und propagiert die Wesensähnlichkeit Jesus Christi mit Gott. Im Kloster Ennswalden soll es ein verschollenes Dokument geben, das die Kirche in ihren Grundfesten erschüttern und den Weg frei machen könnte für eine Reform. Dieses Dokument aufzuspüren entsendet er sein Mündel Adriana, die, als Mönch verkleidet, Nachforschungen anstellen soll. Ihr zur Seite steht der gelehrte Mönch Guillermo von Toledo. Außerdem bietet ihr der Bibliothekar des Klosters, wenn auch mit schlüpfrigen Hintergedanken, seine Hilfe an. Als dieser kurz nach einem Treffen mit Adriana ermordet aufgefunden wird, mit mysteriösen Zeichen auf der Stirn, und ein rätselhaftes Schriftstück auftaucht, sieht sich Adriana nicht nur mit der Suche nach dem Dokument, sondern auch mit der fast unlösbaren Aufgabe konfrontiert, den Mörder zu finden.

Papst und Gegenpapst, Gelehrsamkeit und Ignoranz, Glaube und Aberglaube, Liebe und Hass und eine mutige und gelehrte Frau, die sich als Mann, als Mönch gar, verkleidet. Diese Geschichte ist voll von Gegensätzen, und der Autor versteht es aufs Trefflichste, diese miteinander zu verknüpfen. Einer Spinne gleich verwebt er Faden um Faden und spinnt dies zu einem großen verschlungenen Netz, das jedoch bei genauem Hinsehen sein System offenbart. Ein großartiger historischer Roman und Krimi voller Klugheit und Raffinesse, von der Liebe zur Wahrheit und von Loyalität, aber auch von Ignoranz, Völlerei und Verblendung und Verderbtheit. Ein Sittengemälde der Epoche mit einer weit voraus denkenden Gelehrten, die sehr ungewöhnliche und oft gefährliche Wege gehen muss, um ihre Ziele zu erreichen.

Vom Grundthema her erinnert mich das Ganze an Der Name der Rose, ein verschollenes und geheimes Dokument und die Hüter dessen, das geheim bleiben soll, weil es die Kirche in ihren Glaubensfesten erschüttern könnte, ein abgelegenes Kloster, eine abgeschiedene Gemeinschaft und ein Gelehrter, der sich sowohl mit der Suche nach dem Schriftstück als auch nach dem Mörder beschäftigt. Auch das Damoklesschwert der Inquisition schwebt ständig über allem, von keinem geliebt, für Adriana aber eine lebensbedrohliche Gefahr. Der Bewahrung des angeblich einzig wahren Glaubens steht immer der Vorwurf der Häresie gegenüber und die Frage danach, was die wirkliche Wahrheit eigentlich ist. Im Laufe der Geschichte wird sich herausstellen, dass sich Wahrheit beugen lässt, dass man sich zur Befriedigung aller eine Wahrheit plausibel reden kann und eben nichts nur schwarz oder nur weiß ist.

In glatten 60 Kapiteln erzählt der Autor die Geschichte von Adrianas Suche nach Schriftstück und Mörder, die Haupthandlung erstreckt sich dabei auf genau einen Monat. In wohlgesetzten Worten erfährt der geneigte Leser nicht nur etwas über Kirchengeschichte und Glaubensgrundsätze, sondern auch über das Leben in Klöstern, die Stellung der Frau und die mittelalterliche Gesellschaft. Bei aller Gelehrsamkeit und lateinischen Sätzen (die zum Glück direkt übersetzt werden) kommen auch die intimen Einblicke in das Innenleben nicht zu kurz. Besonders Adrianas Angst vor Entdeckung und was ihr dann blüht spielt immer eine Rolle, über ihr schweben schließlich immer sowohl der Arm des weltlichen als auch der des kirchlichen Gesetzes. Überhaupt fand ich die Gestaltung und Beschreibung der Charaktere sehr gelungen, authentisch und glaubwürdig fügen sie sich in den historischen Kontext ein und agieren meines Erachtens ihrer Zeit gemäß, auch wenn sie ungewöhnliche Wege einschlagen. Neben Adriana ist dies, natürlich, möchte man sagen, vor allem ihr männliches Gegenstück Guillermo von Toledo. Er taucht zwar erst nach einiger Zeit auf, schlägt dann aber ein wie ein Armbrustbolzen und prägt den Fortgang der Geschichte aus verschiedenen Gründen entscheidend. Aber auch die charakteristischen Persönlichkeiten des ignoranten, machtbewussten Abtes, des wollüstigen Bibliothekars, des tumben Knechts, des zwielichtigen Sekretärs entbehren zwar nicht nicht einer gewissen Klischeehaftigkeit, werden aber sehr pointiert und überzeugend dargestellt.

Fazit: Überzeugender und spannender historischer Krimi voller Klugheit und raffinierter Wendungen, dessen Ende ich mich nicht rühmen kann vorhergesehen zu haben und der mich von der ersten Zeile an gefesselt hat. Wer keine Angst vor lateinischen Sätzen und Exkurse in Kirchengeschichte hat und der Frauen in ungewöhnlichen Rollen mag, wird dieses Buch lieben. Der Erfolgsautor bleibt auf seinem hohem Niveau der Erzählkunst und seinem Stil treu und entführt seine Leser:innen in die Welt des Glaubenseifers und der Geheimbünde. Und so gibt es eben hier auch nicht die eine Lösung, die vollumfängliche Wahrheit, genauso wenig wie es nur einen einzigen Glauben gibt. Vollster Lesegenuss!

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Veröffentlicht am 06.12.2023

Kalter Krieg, Doppelagenten und Überläufer: Die wahre Welt der Spionage

Der Spion und der Verräter
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Oleg Gordijewski ist ein Patriot. Geboren 1938, ist sein Weg vorgezeichnet. Sowohl sein Vater als auch sein älterer Bruder sind überzeugte Kommunisten und beide für den KGB tätig. So ist es nicht verwunderlich, ...

Oleg Gordijewski ist ein Patriot. Geboren 1938, ist sein Weg vorgezeichnet. Sowohl sein Vater als auch sein älterer Bruder sind überzeugte Kommunisten und beide für den KGB tätig. So ist es nicht verwunderlich, dass Oleg ebenfalls eine Karriere beim russischen Geheimdienst anstrebt. Dem hochintelligenten und sportlichen jungen Mann fällt die Ausbildung leicht und er strebt nach höherem. Sein erster Auslandseinsatz führt ihn nach Dänemark, wo er die westliche Lebensart zu schätzen lernt. Der kulturell gebildete Oleg schätzt britische Literatur und klassische Musik, alles Dinge, die in Russland verboten sind. Zunehmend kommen ihm Zweifel, ob das bestehende totalitäre System seines Landes das Wahre ist. Mit dem Prager Frühling und der russischen Besetzung der Tschechoslowakei kippt seine Einstellung vollends. Er beginnt seine Fühler in Richtung westliche Geheimdienste auszustrecken. Es folgt eine beispiellose Karriere als Doppelagent und schließlich die spektakuläre Flucht aus den Fängen des KGB.

Spannend wie ein Krimi, packend wie ein Spionagethriller, fesselnd und absolut unfassbar! Man vergisst phasenweise, dass es eine wahre Geschichte ist, so unglaublich erscheinen einem als Leser die Ereignisse. Mitten im Kalten Krieg, währenddessen die Welt mehr als einmal kurz vor der atomaren Katastrophe stand, bewegt sich dieser ungewöhnliche Mann als Doppelagent zwischen den zwei gegnerischen Fronten und in zwei absolut konträren Systemen. Er führt ein Doppelleben, das ihn trotz Familie einsam macht, spielt mehrere verschiedene Rollen und ist immer in Gefahr, entdeckt zu werden und sein Leben zu verlieren. Es zeugt von Olegs hoher Intelligenz und dem großen Talent, sehr schnell rationale Entscheidungen treffen und improvisieren zu können. Dies und sein ausgeprägter Instinkt helfen ihm zu überleben.

Der britische Autor Ben Macintyre, ein Kolumnist der U.K. Times und sehr erfolgreicher Verfasser von Spionagebüchern, versteht sein Handwerk aufs Trefflichste und beweist einmal mehr, dass er Tatsachen fachlich fundiert in einem spannenden Text aufbereiten kann, welcher sich unglaublich flüssig und gut lesen lässt und bei dem zu keinem Zeitpunkt Langeweile aufkommt. Geschickt lässt er sein Buch gleich mit einer für Agententhriller typischen Aktion anfangen, nämlich dem Verwanzen von Olegs Wohnung, damit man gleich weiß, wo der Hammer hängt und am Ball bleibt. Sein Stil ist, obwohl sachlich und faktenorientiert, dennoch durchaus bildhaft, das heißt er geizt nicht mit ausdrucksstarken, wertenden Beschreibungen von Charakteren und Emotionen. Dabei ist er äußerst pointiert und humorvoll, so dass man sich ein Schmunzeln oft nicht verkneifen kann. Seine Expertise ist über jeden Zweifel erhaben, sein Wissen stammt aus umfangreichen Recherchen, Biografien und Sekundärliteratur sowie aus Interviews mit vielen involvierten Personen, nicht zuletzt mit Oleg selbst. Dass er seinem Protagonisten sehr zugetan ist und ihn bewundert, hält Macintyre nicht davon ab, auch dessen andere, nicht so freundliche Seiten zu erwähnen. So ist Oleg beispielsweise alles andere als ein Feminist und Familienmensch, sein Frauenbild ist konservativ und auch als Familienvater ist er eher abwesend. Seine Tätigkeit als Spion für das britische Königreich steht bei ihm an erster Stelle, sein Überlebenswillen bezieht sich zuerst auf ihn selbst.

Formal ist das Buch in drei Teile unterteilt, die wiederum in mehrere, fortlaufende Kapitel untergliedert sind. Thematisch gibt es pro Teil ein Hauptthema, einen roten Faden sozusagen. Teil 1 behandelt Olegs Werdegang bis zur Entsendung nach Großbritannien, da spionierte er bereits für den MI6. Teil 2 beschäftigt sich mit seiner Zeit in England bis zur Rückberufung nach Moskau. Da war er verraten worden und fuhr ins Ungewisse. Teil 3 schließlich beschreibt die Festsetzung in Moskau und die spektakuläre Flucht nach Großbritannien. In einem Epilog erfährt der geneigte Leser, was aus den freundlich und feindlich gesinnten Weggefährten Olegs und ihm selber wurde. Teil 1 und 2 enden jeweils mit einer Fotogalerie. Im Anhang nach dem Epilog folgen der ausführliche Bilder- und Zitatennachweis sowie die Liste der Aliasnamen, was äußerst hilfreich ist.

Nach der Einführung beschreibt der Autor Olegs Werdegang im KGB und sein Privatleben mit allen Hochs und Tiefs. Je mehr er westliche Luft schnuppert, desto mehr lernt die Lebensart zu schätzen. Oleg ist ein denkender Mensch, der die politischen Machtspielchen durchschaut, politische Systeme hinterfragt und sich zunehmend in seinem eigenen Regime gegängelt fühlt. Er glaubt an die Freiheit des Willens und an die Demokratie, und dies wüscht er sich auch für Russland. Insofern ist er Patriot durch und durch und seine Spionagetätigkeit für England sieht er nicht als Verrat, sondern als Akt der Rebellion an. Er will etwas verändern und er tut dies mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln. Fernab von James Bond Romantik, Reisen zu exotischen Orten, schnellen Autos und schönen Frauen erleben wir als Leser eine ganz andere Weit, eine Welt der Bürokratie, der Akten und der Schreibtischtäter, der Lügen und Intrigen, der Gier nach Geld und Macht, der Doppelmoral und der einsamen Kämpfer, aber auch der Loyalität und der Bereitschaft, für seine Überzeugung sein Leben zu riskieren.

Fazit: Wer Spionagethriller liebt, wird dieses Sachbuch des britischen Spionageexperten Ben Macintyre lieben. Tiefere und bessere Einblicke in die wahre Welt der Geheimagenten, Top Secret Akten und verdeckten Ermittlungen wird man kaum bekommen. Die Karriere und die Tätigkeit des Doppelagenten und für den MI6 spionierenden KGB-Oberst Oleg Gordijewski liefert den spannenden Fall eines Spions, der aus politischer Überzeugung zum Überläufer wird und der durch seine Tätigkeit den westlichen Mächten einen entscheidenden Vorteil im Kalten Krieg liefert. Die These, ob er Gorbatschows Perestroika den entscheidenden Anstoß gegeben hat, ist vielleicht etwas gewagt, aber zumindest hat seine Tätigkeit zur besseren Verständigung zwischen Großbritannien und Russland beigetragen, den diplomatischen Austausch gefördert und so den Kalten Krieg zu einem friedlichen Ende geführt.

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Veröffentlicht am 02.11.2023

Ungewöhnliches Familientreffen, bei dem nichts so ist, wie es scheint

Die mörderischen Cunninghams. Irgendwen haben wir doch alle auf dem Gewissen (Die mörderischen Cunninghams 1)
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Familientreffen bei Cunninghams: Ein abgelegenes, tief verschneites Resort in den australischen Bergen, die Matriarchin Audrey will den ältesten, frisch aus dem Knast entlassenen Sohn Michael zurück in ...

Familientreffen bei Cunninghams: Ein abgelegenes, tief verschneites Resort in den australischen Bergen, die Matriarchin Audrey will den ältesten, frisch aus dem Knast entlassenen Sohn Michael zurück in den Schoß der Familie führen. Auch der ausgestoßene Ernest, dessen Aussage Michael vor drei Jahren in den Knast brachte, soll zu seiner eigenen Überraschung dabei sein. Michael ist jetzt mit Ernies Ex-Frau Erin zusammen und hat ungewöhnliches Gepäck bei sich. Als ein Toter gefunden wird, geht man zunächst von einem Unfall aus. Doch irgendwie glaubt Ernest das nicht. Er beginnt zu schnüffeln: Einer muss es ja machen, und schließlich schreibt er Bücher darüber, wie man Krimis schreibt. Wenn ihn das nicht qualifiziert!

Herrlich skurrile Charaktere, verzwickt und clever konstruiert, ungewöhnliches Setting und spannender Plot! Mehr geht nicht. Der Autor verkauft seine Geschichte sehr gekonnt als wahr und das trägt nicht unwesentlich dazu bei, die Spannung auf einem stetig hohen Niveau zu halten. Der Stil ist recht ungewöhnlich, die ganze Zeit über spricht Ich-Erzähler Ernest den Leser direkt an, gibt ihm Hinweise und weist wiederholt sowohl auf die zehn goldenen Regeln des Krimi-Schreibens von Ronald Knox hin als auch auf Dinge, die er bereits erwähnt hat oder solche, die er noch erwähnen wird. Dabei gibt er sogar mehrfach die Seitenzahlen an, auf denen es Tote geben wird, bei einem eBook eher sinnlos, nichtsdestotrotz fiebert man als Leser darauf hin. Und das zurecht. Denn es bleibt konstant spannend und mehrere Wendungen sorgen immer wieder für Überraschungen. Mit seinem Stil parodiert der Autor mit einem Augenzwinkern das Genre der klassischen Kriminalgeschichte und schreibt genau deshalb eine sehr gute ebensolche.

Formal ist die Geschichte in mehrere Teile unterteilt, deren Titel mit Ernests Familienmitgliedern überschrieben und in fortlaufende Kapitel gegliedert sind. Die Charaktere sind durchweg sehr detailliert und vielschichtig beschrieben und die Story lebt zu einem großen Teil sowohl vom Verhältnis der Familienmitglieder zueinander als auch von ihrer Interaktion untereinander. Aber auch Außenstehende kommen nicht zu kurz und clever löst Ernest jedes noch so kleine Rätsel. Hier sind tatsächlich mehrere Fälle aus Vergangenheit und Gegenwart miteinander verwoben und so findet Ernest nicht nur heraus, was es mit dem unbekannten Toten im Schnee auf sich hat, sondern auch was mit seinem verstorbenen Vater geschah. Nebenbei löst er das Rätsel um einen Serienkiller und findet seinen angeblich toten Bruder. Klingt kompliziert? Ist es auch. Als Leser muss man am Ball bleiben und darf in seiner Konzentration nicht nachlassen. Dank des sehr einhängigen Schreibstils fällt einem das aber nicht schwer.

Eine ungewöhnliche Familie, in der fast jede und jeder etwas zu verbergen hat und die zusammenhalten wie Pech und Schwefel, und das besonders Außenseitern gegenüber, wozu auch der anfangs widerwillig herumschüffelnde Ernest gehört. Er bekommt mehr Hilfe von Resortchefin Juliette als von seinesgleichen. Ernests Antrieb sind meines Erachtens seine unermüdliche Neugier und der Wunsch, die Wahrheit herauszufinden. Und auch ein bisschen der Wunsch, von seiner Familie nicht mehr als Verräter abgestempelt zu werden. Ernest nimmt uns als Leser mit auf seine Reise als Ermittler und lässt uns an seinem Wissen eins zu eins teilhaben. Man weiß an sich immer genauso viel wie er und doch lange nicht genug.

Fazit: Sehr gut konstruierter Krimi, der das Genre liebevoll auf die Schippe nimmt und ihm dadurch seine Ehrerbietung erweist. Wer gerne selbst ermittelt: Vergessen Sie es. Auch wenn der Autor Ihnen weismachen will, dass er überall Hinweise versteckt hat, es ist einfach soviel Material, dass man lieber Ernest einem die Lösung auf dem Silbertablett, sprich klassisch in der Bibliothek, servieren lässt. Da findet das große Finale mit einem Paukenschlag statt und eine ungewöhnliche, hervorragende Geschichte ihre Vollendung.

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