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Veröffentlicht am 30.11.2018

Spannender und kompakter historischer Roman aus der Bremer Stadtgeschichte

Gredje von Essen
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Bremen, 16. Jahrhundert: Die bis dahin bei ihrer Großmutter, einer Kräuterfrau und Hebamme, in sehr einfachen Verhältnissen aufgewachsene Wübke kommt als 6jährige als Dienstmädchen zur reichen Kaufmannswitwe ...

Bremen, 16. Jahrhundert: Die bis dahin bei ihrer Großmutter, einer Kräuterfrau und Hebamme, in sehr einfachen Verhältnissen aufgewachsene Wübke kommt als 6jährige als Dienstmädchen zur reichen Kaufmannswitwe Gredje von Essen. Deren Regiment ist streng aber gerecht, und vor allem anderen lehrt sie Wübke lesen und schreiben, eine eher seltene Fähigkeit in jener Zeit. Die Witwe macht sich mit ihrer Art nicht überall Freunde und weist außerdem die Avancen ihres neuen Nachbarn ab, was dieser nicht verwinden kann. Die nächstbeste Gelegenheit nutzend, denunziert er sie beim Rat als Hexe, und Gredje wird, samt Wübke, ins Verlies geworfen und einer peinlichen Befragung unterzogen. Mehr tot als lebendig kann sie durch eine List befreit werden und auch Wübke entkommt dem Verlies. Können die Frauen ihre Dämonen besiegen und ein neues Leben anfangen?

Atmosphärisch dichter, komplexer Roman über die im Ursprung wahre Geschichte der „Hexe“ Gredie von Essen, aus der Sicht ihres Dienstmädchen Wübke erzählt. Das relativ dünne Buch kommt als sehr gut gebundenes Paperback mit wunderbar gestaltetem Umschlag daher. Die Geschichte ist kompakt erzählt und zeugt von ungeheurem detailliertem historischen Wissen der Autorin, die die mitunter verwirrenden politischen Verhältnisse und Ränke jedoch in eine kompakte, gut zu lesende Sprache packt. Die Geschichte ist spannend, fesselt von der ersten Zeile an und ist gerade durch ihre Kompaktheit nicht eine Sekunde langweilig. Direkt, kompromisslos und ohne Effekthascherei führt uns die Autorin in eine Welt im Umbruch, voller Aberglaube und Gottesfurcht. Mit klarer Sprache beschreibt sie sehr authentisch Lebensumstände der Menschen, politische und religiöse Geschehnisse, aber auch große Gefühle wie Freundschaft, Liebe und Verrat.

Formal teilt sich der Roman in zwei Teile – die Zeit in Bremen bis 1565 und die Zeit bis 1580. Dabei springt die Erzählung oft zwischen den Jahren vor und zurück, hilfreicherweise sind die einzelnen Kapitel mit Orts- und Zeitangaben versehen. Aus der Sicht Wübkes in der Ich-Form erzählt, gibt die Geschichte tiefe Einblicke in das Seelenleben vor allem in die Gefühlswelt des Dienstmädchens. Sie ist die eigentliche Hauptfigur der Handlung, ihr Charakter macht die größte Wandlung durch. Durch ihre schrecklichen Erlebnisse wird sie erwachsen und entwickelt sich von der reinen Befehlsempfängerin in eine Frau, die mit gewitztem Verstand ihr Vermögen zu vermehren versteht. Dennoch ist und bleibt sie empathisch und emotional, ihre Familie geht ihr über alles und ihre Gefühlswelt ist alles andere als abgestumpft. Wübkes Charakter ist am ausgefeiltesten, mit ihr lebte ich von Anfang an intensiv mit. Doch auch die anderen Figuren sind gut gezeichnet und vielschichtig. Am interessantesten und sympathischsten findet man ja zumeist diejenigen, die nicht einseitig schwarz und weiß dargestellt werden, die sowohl gute als auch schlechte Eigenschaften haben, das macht sie menschlich, sie haben Persönlichkeit und sind authentisch, wie zum Beispiel in diesem Fall vor allem Hinrich Lütz und natürlich Gredje von Essen. Über diese will man als geneigter Leser am liebsten viel mehr erfahren, als es der Fall ist, und deswegen sowie aufgrund des recht offenen Endes werde ich sicherlich nach weiteren Büchern der Autorin Ausschau halten.

Fazit: sehr guter historischer Roman, der förmlich nach einer Fortsetzung ruft! Der Autorin ist ein überzeugendes Debüt gelungen, die spannende Darstellung einer sehr speziellen Begebenheit aus der Bremer Geschichte. Wer als Leser ein gewisses Interesse an detailliert und fundiert dargestellten historischen Ereignissen besitzt, wird sicherlich tief in dieses Buch eintauchen und sehr viel neues Wissen daraus gewinnen. Für Einsteiger in das Genre eher nicht geeignet, ist das Buch für geschichtsbegeisterte ein wahrer Lesegenuss sowie für alle, die starke Frauenfiguren lieben.

Veröffentlicht am 11.09.2018

Großartiger Karl May-Roman mit authentischen Charakteren

Das Flimmern der Wahrheit über der Wüste
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Karl May, Deutschlands wohl berühmtester Autor von Abenteuer- und Reiseromanen, ist bereits 57, als er 1899 zum ersten Mal zu einer Reise aufbricht, die ihn über Genua nach Ägypten, Israel, Eritrea, Britisch-Ceylon ...

Karl May, Deutschlands wohl berühmtester Autor von Abenteuer- und Reiseromanen, ist bereits 57, als er 1899 zum ersten Mal zu einer Reise aufbricht, die ihn über Genua nach Ägypten, Israel, Eritrea, Britisch-Ceylon bis nach Sumatra führt. Zu dieser Zeit hatte er seine bekanntesten Werke wie die Winnetou-Bände, Durchs wilde Kurdistan, Der Schut, etc. bereits veröffentlicht und war in ganz Deutschland bekannt als Old Shatterhand beziehungsweise Kara Ben Nemsi. Auf seiner Reise begegnet er vielen Menschen, die ihn erkennen und von ihm selbst seine Geschichten hören wollen. Nicht wenige Male wird er auch um eine Kostprobe seiner Kunst gebeten. Sein Diener Sejd begleitet ihn seit Ägypten und lernt ihn da sehr viel besser kennen als jeder andere Reisebegleiter. Auf dem letzten Stück der Reise reist er zusammen mit seiner Frau Emma und dem befreundeten Ehepaar Richard und Klara Plöhn, auf die er im Dezember 1899 in Arenzano, Italien trifft. Zurück in Radebeul ist er durch das Reisen ein anderer Mensch geworden, die Ehe mit Emma wird für beide Seiten immer schwieriger, und Karl May fragt sich zunehmend, ob Emma, mit der er 22 Jahre verheiratet ist, ihn wirklich versteht und ihn in seinem künftigen Werk die Unterstützung geben kann, wie von ihm erhofft.

Großartiger, sehr authentischer Roman über die erste Auslandsreise des großen Schriftstellers Karl May. Der Zeitrahmen des Berichts erstreckt sich nur über einen Zeitraum von April 1899 bis Dezember 1902, auch wenn der Leser natürlich aus dem Leben vor und nach dieser Zeit einiges erfährt. Geschickt wechselt der Autor zwischen dem Reisezeitraum und der Gegenwart, in diesem Fall die Zeit unmittelbar nach der Reise bis zur Scheidung und Neuheirat Karl Mays. Zusätzlich geben Einschübe wie Zeitungsartikel und Berichte des Weltgeschehens, wie den Bau des Suez-Kanals, Zusatzinformationen, die sehr gut zur eigentlichen Geschichte passen. Der Schreibstil ist sehr gehoben und wirkt auf den modernen Leser altertümlich, davon zeugen Schriftweisen wie „Civilisation“ oder Wörter wie „just“ sowie die teilweise recht verschachtelten Sätze, was dem Lesevergnügen aber absolut keinen Abbruch tut, im Gegenteil dem Ganzen noch mehr Authentizität verleiht und sich einfach wunderbar lesen lässt. Die Geschichte wird von einer Art übergeordnetem, allwissendem Erzähler berichtet, der wie ein Beobachter auf das aktuelle Geschehen schaut und oft Erläuterungen oder Hinweise gibt. Der Leser wird auch mehrfach direkt angesprochen und so direkt in die Geschichte mit einbezogen. Alles in allem ist das Ganze sehr flüssig und mit einem großen Augenzwinkern geschrieben.

Auf der Person Karl May als Hauptfigur liegt natürlich der größte Fokus. Man verfolgt seine Reisen und Erlebnisse, in seine Gedankenwelt taucht man am besten ein und bekommt die meisten Einblicke. Aber auch die anderen Protagonisten wie seine Frau Emma oder die Freunde Klara und Richard Plöhn werden vielschichtig und menschlich dargestellt und sind als Charaktere sehr gut nachvollziehbar. Als Karl-May-Leser und Fan seiner Abenteuergeschichten wird man – das ging mir so – schon etwas desillusioniert, was Karl May als Persönlichkeit angeht. Natürlich weiß man, dass er ein ungeheuer produktiver Autor war, dass die Geschichten weitgehend am Schreibtisch mit Hilfe von Lexika entstanden sind und man kennt grob die Lebensgeschichte mit den Gefängnisaufenthalten. Die Beschreibung seiner Persönlichkeit jedoch erfordert detailliertere Kenntnisse und Forschung. Die Geschichte wurde auf der Basis dieser Forschungen verfasst, und auch wenn natürlich Details zu Begebenheiten, Handlungen und Gefühlsausbrüchen fiktiv sind – dafür ist es immer noch ein Roman – so wirken doch die zu Karl Mays Charakter sehr wahr.

May ist keinesfalls der starke Old Shatterhand, sondern wirkt eher wie ein großes Kind mit überbordender Fantasie, der sich mit zunehmendem Ruhm mehr und mehr in seiner Fantasiewelt verliert. In dieser ist er welterfahren, immer souverän und unbesiegbar, in der echten leider eher hilflos und schwach. Sehr gut erkennbar wird dies durch Einschübe seiner eigenen Gedanken, die durch Kursivschrift hervorgehoben werden, etwa auf seinen Reisen, wenn zum Beispiel sein einsamer Spaziergang durch die Gassen von Kairo beschrieben wird, er sich hoffnungslos verirrt, aber gleichzeitig denkt wie er sicher durch die Straßen streift und von allen Einheimischen begrüßt wird. Seine Gedanken stehen damit immer konträr zum wahren Geschehen. Er lebt in einer anderen Welt, was sich zunehmend auch in Wahnvorstellungen äußert. Karl hat ein völlig unrealistisches Selbstbild, er ist egozentrisch und kritikresistent, giert nach Aufmerksamkeit, ist schnell beleidigt und reagiert dann wie ein bockiges Kind. Dies ist auch nicht erst seit der Orientreise so, sondern spiegelt sich sehr schön auch in Episoden wie die der gestohlenen/geliehenen Uhr und wie er diese seinen Eltern präsentiert. Nun sieht er jedoch sich und seine Wahrheit bedroht, denn immer mehr Zeitungen in der Heimat äußern Zweifel an der Richtigkeit seiner Darstellungen und damit auch an seiner Person als Old Shatterhand. Er sieht sich gezwungen seinen Kritikern entgegen zu treten und genau dazu soll diese Reise dienen. Dennoch ist er eben auch ein kluger und einfallsreicher Mensch, und sein Herausmanövrieren aus für ihn kritischen Situationen, wenn beispielsweise Mitreisende Kostproben seines Könnens verlangen und er genau weiß, er kann sie nicht geben, sind echte Eulenspiegeleien und köstlich zu lesen, so etwa das Aufsagen eines chinesischen Gedichts als Beweis seiner Sprachkenntnisse.

Die Reise verändert ihn und sein Leben auf vielfältige Weise. Er selbst wird moralischer und will am liebsten seine ersten, etwas anstößigen Werke vergessen machen. Sein Geist ist voll von Ideen und Eindrücken und er hat das Gefühl diese nicht mit seiner Frau teilen zu können. Dies wird durch den Tod seines besten Freundes Richard verstärkt. Mit ihm verliert er nicht nur einen verständnisvollen und einfühlsamen Zuhörer und Gesprächspartner, auch die Beziehungen der Verbliebenen untereinander verändern sich. Es entsteht eine Menage á trois zwischen Karl, Emma und Klara, und dies tut keinen richtig gut. Karl fühlt sich mehr und mehr zu Klara hingezogen, das widerspricht jedoch seinen strengen Moralvorstellungen. Aber auch hier schafft er es, sich eine Scheidung plausibel zu machen und diese als absolut unabdingbar anzusehen. Charakterlich sind auch Emma und Klara sehr interessant und kommen sehr nah an Hauptfiguren heran, ihre Persönlichkeiten sind sehr gut herausgearbeitet und teilweise überraschend. Bei mir wandelte sich Antipathie in Sympathie (bei Emma) und umgekehrt (bei Klara) und ich lebte stark bei diesem Trio und seinen Irrungen und Wirrungen mit.

Fazit: Großartiger Roman mit Karl May als Hauptfigur, vielschichtig und durchaus komplex und auch tiefenpsychologisch interessant. Karl May- Fans sollten sich auf eine realistische Darstellung ihres Idols einstellen, aber sie erwartet genau wie alle anderen eine spannende Reise durch den Orient und durch Karl Mays Leben. Dem Autor ist ein wunderbar literarischer Schreibstil zu eigen und ihm gelingt eine sehr authentische Darstellung der Begebenheiten. Mich hätte noch seine Motivation interessiert, ausgerechnet als Textchef eines Wirtschaftsmagazins einen Karl-May Roman zu schreiben, leider habe ich dazu nichts im Netz gefunden. Einziger kleiner Wehrmutstropfen im eBook war der fehlerhafte Link zur Karte, der lautete dort www.kiwi-verlag.de/karteflimmern-der-wahrheit und ging weder im Handy noch im Tablet, Varianten eingeben sowie elektronische Nachfrage beim Verlag fruchteten leider auch nicht. Der korrekte Link lautet https://www.kiwi-verlag.de/buecher/specials/karte-flimmern-der-wahrheit.html. Alles in allem ein sehr lesenswertes Buch, das zum Nachdenken anregt und nachhallt.

Veröffentlicht am 23.08.2018

Sehr spannender Schweden-Krimi und ein neues interessantes Ermittlerteam

Der Schmetterling
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Johan Rokka kehrt nach einigen Jahren im Polizeidienst in Stockholm zurück in seine Heimat, der Kleinstadt Hudiksvall, wo er noch während seines Urlaub, zwischen unausgepackten Umzugskartons hockend, gleich ...

Johan Rokka kehrt nach einigen Jahren im Polizeidienst in Stockholm zurück in seine Heimat, der Kleinstadt Hudiksvall, wo er noch während seines Urlaub, zwischen unausgepackten Umzugskartons hockend, gleich zu seinem ersten Einsatz gerufen wird: Die Ehefrau des berühmten schwedischen Fußballers Mans Sandin wurde ermordet. Für Rokka besonders brisant: Sandin gehörte einst zu seinem Freundeskreis, bestehend aus Schulkameraden und Fußball verrückten Teenagern, bis Sandin entdeckt und gefördert und weltberühmt wurde. Rokka und sein Team ermitteln in mehrere Richtungen und haben dabei nicht nur ihre Vorgesetzten im Nacken, sondern auch die nationale und internationale Presse, die sich wie die Geier auf die Story stürzen. Bald geschieht ein weiterer brutaler Mord im Umfeld des Trabrennsports: Ein Spieler, der höhere Summen gewettet und gewonnen hat. Was zunächst einfach aussieht, entpuppt sich bald als Geflecht aus Lügen, Betrug, Erpressung und Mord, und Rokka muss feststellen, dass er bald auch in seinem eigenen Freundeskreis ermitteln muss…

Sehr solider, gut geschriebener und fesselnder Schweden-Krimi mit gut gezeichneten vielschichtigen Charakteren und einem spannenden Kriminalfall. Als Leser und Krimifan ist man sofort in der Geschichte drin und ermittelt fleißig mit. An sich als klassischer Whodunnit-Krimi konzipiert, erweist sich die Geschichte als komplexer als zunächst gedacht und überrascht durchaus mit einigen unvorhergesehenen Wendungen. Die Autorin versteht es sehr gut, die Spannung langsam aber stetig zu erhöhen, was ihr erstens vor allem durch die vielen verschiedenen Erzählstränge und Perspektiven gelingt und zum Zweiten durch die persönliche Involviertheit ihrer starken Hauptfigur Johan Rokka. Auch merkt man ihren Beschreibungen der Umgebung an, dass sie sehr vertraut ist mit Hudiksvall – es ist ihre Heimatstadt -, denn das kommt alles sehr realistisch rüber. Die Handlung wird durch die unterschiedlichen Perspektiven gehörig nach vorne getrieben und auch die Ermittlungsarbeit ist gut nachvollziehbar, so dass sich nach und nach die Hintergründe offenbaren. Besonders die kursiv hervorgehobenen Einschübe in Briefform treiben die Spannung meines Erachtens gewaltig in die Höhe. Anfangs können die verschiedenen Perspektiven noch ein wenig verwirren und man fragt sich nach den Zusammenhängen, aber dadurch erlangt der Leser tiefe Einblicke in das Geschehen und die Gedanken- und Gefühlswelt aller Protagonisten, die Autorin verwebt einfach sehr geschickt die verschiedenen Stränge und am Ende kommt die Lösung als großes Ganzes ganz hervorragend schlüssig daher.

Rokka als Charakter polarisiert – manchmal war er mir direkt unsympathisch, dann wieder fand ich ihn klasse, was zeigt, dass er kein einfacher Charakter, aber gerade durch seine menschlichen Schwächen authentisch ist. Eigentlich ist er ein ganzer Kerl, ein Single, der um die Häuser zieht und mit den Kumpels einen trinken geht, der unüberlegt Dinge heraushaut und manchmal ganz schön taktlos sein kann. Dann wieder ist er verletzlich und voller Selbstzweifel. Eines jedoch passt immer: Seinen Job macht er gewissenhaft und mit viel Gerechtigkeitssinn und Einfühlungsvermögen und ohne Rücksicht auf sein Privatleben, und er gibt seinem Team allen Rückhalt und traut ihnen große Kompetenz zu.
Auch wenn Rokka ein starker Charakter ist, so sind ihm die anderen Figuren durchaus gewachsen. Auch sie sind menschlich gezeichnet und überzeugen durch Vielschichtigkeit und eigenständige Persönlichkeiten. Meine weibliche Lieblingsfigur war natürlich sofort Kriminaltechnikerin Janna Weissmann, eine Außenseiterin mit schwieriger Kindheit, aber auch Pelle Almen, der eigentlich einer anderen Einheit angehört, den Rokka aber sofort rekrutiert, und den leicht skurrilen Kriminaltechniker Hjalmar Albinsson fand ich so interessant, dass ich mehr über sie erfahren wollte. Und der eine oder andere, wie zum Beispiel Angelica Fernandez, hat mich auch positiv überrascht.

Fazit: Sehr gelungener Schweden-Krimi ohne die oft gewollt düstere Atmosphäre und/oder depressive Grundstimmung, sehr spannend mit authentischen Charakteren und viel Lokalkolorit. In Deutschland der erste Fall für Johan Rokka und sein Team, in Schweden sind ja schon mehrere Bände erschienen. Nun darf man hoffen, dass die Reihe auch in Deutschland ihre stetige Fortsetzung findet!

Veröffentlicht am 24.06.2018

Super spannender Thriller und ein echter Pageturner

Das Haus der Mädchen
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Leni Fontane will in Hamburg ein Praktikum absolvieren und mietet sich aus Geldknappheit bei einem online-Anbieter ein WG-Zimmer. Das Zimmer ist überraschend geräumig und schnell freundet sich die zurückhaltende, ...

Leni Fontane will in Hamburg ein Praktikum absolvieren und mietet sich aus Geldknappheit bei einem online-Anbieter ein WG-Zimmer. Das Zimmer ist überraschend geräumig und schnell freundet sich die zurückhaltende, schüchterne Leni mit der quirligen Vivien, ihrer Zimmernachbarin, an. Dann jedoch verschwindet Vivien spurlos, ohne Abschiedsgruß, ihr Zimmer wird weitervermietet. Leni wird misstrauisch: Hätte sich Vivien wirklich so einfach aus dem Staub gemacht? Sie erinnert sich an Viviens Äußerungen, stellt Beobachtungen an und versucht auf eigene Faust herauszufinden, was geschehen sein könnte.
Unabhängig von ihr versucht sich der Obdachlose Frederic „Freddie“ Förster zu schützen, denn er hat einen Mord beobachtet! Der Mörder ist hinter ihm her, und als er schließlich beschließt, dass Angriff die beste Verteidigung ist, ist er schon ganz tief in ein Geschehen verwickelt, das nur vordergründig nichts mit den anderen Ereignissen zu tun hat…

WOW! Ein grandioser, super spannender Pageturner, den man nicht mehr aus der Hand legen kann! Die verschiedenen Handlungsstränge verknüpfen sich aufs Trefflichste zu einem großen Ganzen, und die unterschiedlichen Perspektiven – aus Täter- und Opfersicht, aus Ermittlersicht und auch aus der Lenis und Freddies – tragen erheblich zur Spannung bei. Diese Spannung wird anfangs noch langsam, aber stetig aufgebaut, die einzelnen Kapitel sind wiederum unterteilt in verschiedene Unterkapitel, die oftmals gar nicht so lange sind. Anfangs muss man sich an diese schnellen Wechsel gewöhnen und man meint, was hat das denn jetzt damit zu tun, aber 1. sind sie für sich als einzelner Strang auch schon spannend und 2. erkennt man nach und nach die Zusammenhänge, was den Spannungsboden zusätzlich in die Höhe treibt. Da nimmt das Ganze dann zusätzlich Fahrt auf und ebbt bis zum fulminanten Finale auch nicht mehr ab.

Die Charaktere sind einfach großartig, und mehr als einer hat mich positiv überrascht. Sie sind keineswegs schwarz-weiß, ein jeder ist ein Mensch mit Schwächen und mit Altlasten. Besonders Leni, das wirklich fast schon unglaublich naive junge Ding vom Lande, macht eine starke Entwicklung durch. Von der schüchternen grauen Maus wird sie mit jeder bedrohlichen Situation mutiger und will mit allen Mitteln Vivien finden und helfen. Sie verteidigt ihre Interessen und muss dann auch nicht mehr everybody´s Darling sein. Auch der Ermittler Jens Kerner hat mich sehr positiv überrascht. Aus dem behäbigen Polizisten wird ein Bullterrier, der sich mit Instinkt, Menschenkenntnis und Hartnäckigkeit in den Fall verbeißt und mit unorthodoxen nicht immer legalen Mittel alles dransetzt, den Fall zu lösen und der auch als erster Zusammenhänge erkennt. Man darf ihn nicht unterschätzen, auch wenn er manchmal ein wenig träge daherkommt. Der Autor verzichtet – zumindest größtenteils – auf die ganz blutigen Szenen, dennoch ist einiges Thriller-mäßig schockierend und gruselig, und seine Beschreibungen sind bildhaft und einprägsam und lassen der Fantasie dennoch ihren Platz. Einziges kleines Manko: Das Lektorat hätte besser sein können. Dass man das Anredepronomen Ihr/Sie großschreibt, wird nahezu immer ignoriert, und auch sonst gibt es einige Rechtschreibefehler, die meines Erachtens mangelnder Sorgfalt geschuldet sind, z.B. „mir“ statt „mit oder groß geschriebene Adjektive. Das tut jedoch dem grandiosen Erzählstil und dem Inhalt keinen Abbruch und wird nur erwähnt, weil es ein bisschen zu häufig vorkommt.

Fazit: Ein sehr fesselndes Buch, das alles hat, was ein guter Thriller braucht! Vielschichtige Charaktere, eingängige Beschreibungen von Menschen und Situationen, äußerst verzwickte Fälle und einfach sehr intelligent gemacht, wie sich alles zusammenfügt. Für Thrillerfans ein Muss!

Veröffentlicht am 25.05.2018

Sehr spannendes Psychogramm

Der Kreidemann
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Der 12jährige Eddie Adams macht mit seinen Freunden einen grausamen Fund: Im nahen Waldstück entdecken sie, angelockt von mysteriösen Kreidezeichnungen, die zerstückelte Leiche eines jungen Mädchens. Das ...

Der 12jährige Eddie Adams macht mit seinen Freunden einen grausamen Fund: Im nahen Waldstück entdecken sie, angelockt von mysteriösen Kreidezeichnungen, die zerstückelte Leiche eines jungen Mädchens. Das Mädchen, Elisa, hatte kurz vorher einen schrecklichen Unfall auf dem Jahrmarkt, bei dem ihr Gesicht zerstört und sie schwer verletzt wurde. Für die Polizei ist der Fall klar, ihr Geliebter soll sie aus Eifersucht umgebracht haben. Die Jungen haken den Fall vordergründig für sich ab, doch Eddie verfolgen Alpträume und Erinnungen auch dreißig Jahre später noch. Inwischen Lehrer, lebt er noch immer im Elternhaus und führt ein eher zurückgezogenes Leben. Da tauchen erneut mysteriöse Kreidezeichnungen auf und sein alter Freund Mickey will ihn sehen - beides wühlt Eddie auf. Was bedeuten die Kreidemännchen und wo führen sie diesmal hin?
Schlichtweg großartig! Ein super spannender, sehr komplex gestalteter Thriller, der trotz ein paar weniger blutig-schauriger Beschreibungen seine Spannung eher aus den leisen Tönen bezieht. Ich-Erzähler Eddie nimmt den Leser sofort gefangen, lässt ihn teilhaben an seinen Reflektionen und Gedanken über sein Dasein und die Welt und gibt tiefe Einblicke in seine Ängste und Alpträume. In Rückblenden in das Jahr 1986 gibt Eddie langsam die Details der damaligen Geschehnisse preis, und in dem Maße, wie die Geschichte hier voranschreitet, sucht er in der Gegenwart nach Spuren und besucht alte Bekannte und kommt so der Lösung immer näher. Es ist nicht die wilde Action oder die Anhäufung von blutigen Details, die den Leser so fesseln, sondern es sind gerade die Beschreibungen von alltäglichen Grausamkeiten, die im Leben Eddies passieren, seine Ängste und seine eigenen kleinen Verfehlungen, die eine subtile unterschwellige Spannung erzeugen und eine Gänsehaut hervorrufen, die den Leser das ganze Buch über begleitet. Und natürlich nicht zuletzt der großartige Erzählstil der Autorin und die sehr gelungene Darstellung ihrer Charaktere.
Eddie ist als Ich-Erzähler derjenige, von dem man am meisten erfährt, im Grunde werden seine Erlebnisse geschildert, seine Eindrücke wiedergegeben und man folgt ihm in seinen Gedanken und Aktionen. Er, der Englischlehrer, beschreibt sprachlich sehr gewandt die Geschehnisse und auch seine Mitmenschen, hat aber genug Selbsterkenntnis, um auch seine eigene Schwächen treffend wieder zu geben. Dennoch bleibt seine Persönlichkeit mysteriös und zweispältig und auch seine Motive oftmals im Dunkeln. Auch dies macht einen Teil der Spannung für den Leser aus. Man hat letztlich nur Eddies Sichtweise und weiß eigentlich nie, ob er die Wahrheit sagt. Er ist auch kein starker Charakter, eher labil und aufgrund der Erlebnisse in seiner Jugend traumatisiert. Er hat wenig soziale Kontakte und öffnet sich nur schwer anderen Menschen. Als Erwachsener ist er mir eher unsympathisch, als Kind jedoch findet man sofort Zugang zu ihm, und in beiden Zeitebenen lebt und fühlt man mit ihm mit. Aber auch die anderen Charaktere sind keineswegs Nebenfiguren, sondern ein wesentlicher Teil der Geschichte und sehr lebendig und authentisch beschrieben. Sie beeinflussen Eddies Leben und er ihres, und manche bleiben auch im Nachhinein noch mysteriös.
Das Buch kommt im Übrigen sehr schön gebunden und mit auffälligem, sehr gut zur Geschichte passenden Cover daher. Die Geschichte ist ebenso kompakt und lässt sich schwer einem klaren Genre zuordnen. Thriller, Krimi, Psychogramm, Geschichte einer Freundschaft - irgendwie alles in einem. Natürlich will man als Thriller- und Krimifan miträtseln, und das tut man auch, aber es gibt eben keinen klassischen Plot und keinen reinen Whodunnit-Fall. Es sind viele Ereignisse, die einer Auflösung bedürfen, es gibt viele Verschachtelungen, oft ist unklar, was real ist und was nicht, und nicht alles wurzelt in der Vergangenheit. Aber alles hängt in irgendeiner Weise zusammen, und nach und nach werden dem Leser durch Eddie alle Zusammenhänge klar.
Fazit: Ein einzigartiger Roman mit faszinierenden Figuren und originellem Plot. Fesselnd und suptil spannend, reißt es den Leser mit in eine gar nicht so sorglose Kindheit, in der viele schreckliche Dinge geschehen, die Psyche und Charakter der Protagonisten prägen und sie bis ins Erwachsenenleben beeinträchtigen. Die einzelnen Geschehnisse eröffnen sich dem Leser häppchenweise, geschickt spickt die Autorin ihre Geschichte mit Andeutungen und überraschenden Wendungen. Die Auflösungen in ihrer Gesamtheit sind durchaus befriedigend und runden die Geschichte sehr gut ab. Und dennoch ist der Schluss gruselig. Ein Buch, das man atemlos verschlingt, in das man eintaucht und das nachhallt. Für jeden Fan des subtilen Thriller ein Muss!