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MichaelKarl

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Veröffentlicht am 05.01.2022

Die Suche nach der weiblichen Glücksformel

Simultan
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In der Erzählung „Probleme, Probleme“ (Simultan, S.36-61) ist Bachmanns Beatrice eine 20 Jahre junge Wienerin namens Beatrix, die im Haus der Tante wohnt und ihren unsoliden Lebenswandel diskret zu verbergen ...

In der Erzählung „Probleme, Probleme“ (Simultan, S.36-61) ist Bachmanns Beatrice eine 20 Jahre junge Wienerin namens Beatrix, die im Haus der Tante wohnt und ihren unsoliden Lebenswandel diskret zu verbergen sucht, denn sie schläft lange und vertrödelt den Vormittag mit so belastenden Dingen wie lauwarm zu duschen oder die richtigen Kleider für den Auftritt auf der Bühne des Alltags auszuwählen. Die weibliche Glücksformel jener Zeit lässt den jungen Frauen noch die Wahl zwischen Beruf oder Ehe, was die Sorge um den Reiz der eigenen Leibwäsche einzuschließen scheint und den „Hinweis auf die Büstenhalter“ oder die „hauchdünnen (…) Slips“ (39) zum Bestandteil eines möglichen Lebensplanes werden lässt, sodass der Text mit dem Ausruf am Schluss - „Ja, die Männer!“ (61) - den perspektivischen Fluchtpunkt vorgibt, die Blickachse und den Adressatenkreis gleichermaßen umfassend. Das know how muss aber erst erkauft werden, denn die Studentin Jeanne, eine furchtlose Anwaltstochter, kommt per Autostopp aus dem fernen Paris, weiß offensichtlich um diese Dinge, muss dafür aber im teuren Café Sacher statt dem günstigeren Café Eiles ausgeführt werden, „denn sie fand Wien wenig rigolo.“ (39) Die Französin war auch „ein Monstrum (…) an Aktivität“, das u.a. wissen wollte, „wo es Hasch gab, Burschen (zum) (K)ennenlernen, tanzen gehen, in die Oper rennen“ usw., sodass sogar auf den Heiratsmärkten jener Zeit die harten Tatsachen der Marktgesetze schon voll zur Geltung kamen. Auch in eroticis ist Beatrix schon aus dem Gröbsten raus, denn „in der letzten Zeit in der Schule und dann in einem Internat war doch reichlich mehr und genug passiert“ (41), sodass ihr die „Berührungen“ eines 15 Jahre älteren Verehrers an Ohr, Brust und Knie beim einvernehmlichen Kinobesuch eher „peinlich“ sind, „sie war einfach zu alt dafür.“ Dabei ist sie „zum Umblasen“ zart, wiegt magere 46 Kilo und bekennt sich zu „ihrem Verfallensein an den tiefen Schlaf“ bis in den späten Vormittag hinein. Sie sieht sich als „demivierge“ (42,49), als mädchenhaft: „Ich bin eine Mädchenfrau. Oder bin ich eher ein Frau-Mädchen?“ (55) Parallel existiert eine „Cousine Elisabeth, die studiert und doktoriert hatte und sich abrackerte, dieses Musterkind.“ (44) Auch ohne jede Abschlussprüfung muss sich Beatrix in diesem „graue(n) Wien“ (54) überanstrengen und bei der Berufsorientierung für Frauen endlich zu Potte kommen. In Frage kommen Tätigkeiten in Boutique, Galerie, Buchhandlung oder beim Dolmetschen. (42) Die junge Frau kommt also vorläufig nicht unter die Haube, allenfalls beim Friseursalon RENÉ, in dem wie in Qualtingers Welt ein Herr KARL die Regie führt, während das weibliche Personal des Schönheitssalons nur Vornamen hat. Ganz im Unterschied zu den Kundinnen, die nur an ihren Nachnamen tragen - sie sind „mindestens Dreißig (…), der Durchschnitt um die Vierzig.“ (46) Sie sind alle schon unter der Haube und tragen ihr Schicksal mit Haltung und dem Willen zur Schönheit. Der Griff zur Illustrierten hilft über die Wartezeit mit Lockenwicklern und Trockenhaube und informiert, dass „Jacqueline Kennedy jetzt Frau Onassis“ heißt und mit „Ari auf Deck“ der „Jacht Christina“ abgebildet wird. (48,53) Den eigenen Urlaub verbringt Beatrix doch „lieber noch am Wörthersee“ (49), jedenfalls nicht bei den alpineren Varianten von mare e monti „auf diesen Skihütten (…) mit diesen Leuten vom Alpenverein.“ (48) Trampen und LSD hat es übrigens auch schon gegeben. (51) Außerdem gibt es ja noch Erich, den Kinoverehrer, „ein schwacher Mensch“ (54), dem ihre kalkulierte Teasingübung gilt: „wenn sie die Strümpfe auszog, um ihn zu reizen.“ (52) Das Problem mit der Kosmetik (wie überhaupt mit der Schönheit und dem schönen Schein) liegt in den lamentablen Zeitstrecken oder Streckenzeiten: „die kurze Zeit der Perfektion, in der sie makellos war.“ (58) Das Deja vue ist auch ein da capo, ein encore, wie es auf allen Bühnen dieser allzu diesseitigen Welt vorkommt: „und wieder würde sie konsumiert werden, vom Leben, von Erich, denn dieser wehleidige Narr konsumierte sie auch, ohne zu wissen, wie kostbar sie war und wie sie sich verausgabte…“
Michael Karl

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Veröffentlicht am 05.01.2022

Yoga für Kleinkinder: Die RTL-Gesellschaft hat sich durchgesetzt

Scharmützel und Scholien
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Wenn man nur noch wenig Platz im Regal hat, soll man diesen wilden Schmöker von HME besser ungekauft lassen, bringt er es doch auf stattliche 924 Seiten und einen breiten Buchrücken von fünf Zentimetern. ...

Wenn man nur noch wenig Platz im Regal hat, soll man diesen wilden Schmöker von HME besser ungekauft lassen, bringt er es doch auf stattliche 924 Seiten und einen breiten Buchrücken von fünf Zentimetern. Wer aber gerne und sprunghaft kurze Essays liest und staunen möchte darüber, dass der eine 1955, der andere 2005 verfasst wurde, bei gleichwertiger Frische, der soll in diesen Sandkasten mit HME steigen und vergesse möglichst Schaufel und Eimerchen nicht (bucket and spade). Die Unterhaltung ist fast immer hochwertig, der Essayist ist „ein Bastard und ein Omnivor (…), in dessen großem Magen alles (M)ögliche Platz hat“ (329), zwischen „Taormina und Tokyo“ (256), „sans la prétention de dire le dernier mot“ (330) und mit einem Hang zum „Approximativen (…ohne) die Gewissheit des wahren Glaubens; (der Essayist) verlässt sich lieber auf das Detail als auf die Totalität.“ (328) Die Spanne reicht von Hekuba (720) bis Haruspex (589) und grenzt sich ab von denen, die nur noch spielen wollen, und zwar mit technischen Geräten - „lauter neue Spielzeuge, eines herrlicher als das andere“ (174), inkl. einer Warnung vor einigen allzu bornierten Anwendern: „Sie geben ihre Nichtigkeit mit einer Art von Stolz bekannt. Ihr einziges Material ist der Narzissmus.“ (180) Unterdessen findet man „das friedliche Zwiebelmesser in der Faust des Amokläufers.“ (352) HME sieht ganze Kohorten von Zeitgenossen „ins Lager der Geräte (desertieren…): er (jener Zeitgenosse) verliert seinen menschlichen Status, ohne den des Gerätes zu erreichen.“ (605) Dagegen sei kein Unkraut gewachsen, denn gerade sprachliche „Kunstwerke sind folgenlos.“ (87) Inzwischen „sind die Naturwissenschaften zur kulturellen Supermacht aufgestiegen.“ (223) Aber immer noch gelten einige Weisheiten aus der Antike, die HMEs Schulbildung (in Bayern) noch nachhaltig grundgelegt hat, etwa die: contra vim mortis nulla herba in hortis. Diese Bildung ist aber ergänzungsbedürftig, und zwar durch Empirie und Anschauung - „die genaue Beobachtung des Augenfälligen.“ (432) Gegenüber den Roadmovies verdiene aber „jeder Heimatfilm (…) mehr Schonung“, denn der Tachismus der beat generation habe die Mobilität zum Selbstzweck erhoben, eine „leere Motorik“, die Hannah Arendt bereits in den „totalitären Bewegungen“ aufspürte: „Improvisation, Zufall, Ungenauigkeitsmoment, Austauschbarkeit, Unbestimmtheit, Leere; Reduktion zur reinen Bewegung, reine Aktion, absolute Bewegung, Motorik, mouvement pur.“ (164) Verblüfft erkennt der Leser darin die Signatur des eigenen, des postmodernen und neoliberalen Zeitalters, in dem sich die big bucks von allen Zwängen freigeschwommen und Milliarden auf den off-shore-Konten gebunkert - und fast so viele Anhänger in den eigenen Reihen versammelt haben. Obskure Heilslehren, Beliebigkeit und Apparaturen bilden den heiligen Dreiklang unserer schönen neuen Welt, die eine so lange und umständliche Vorgeschichte hat, dass wir sprachliche und historische Fächer an den Schulen am besten kaltstellen sollten. Und was sagen die kleinen Leute dazu, für die sich HME immer mehr interessiert als für die Sinnblasengebilde der Intellektuellen? Der Eisverkäufer, die Toilettenfrau (185), die Frau des Metzgers (353), die nicht beim Verleger zu „Salzstangen und Mosel“ (679) eingeladen sind und denen dadurch Gottfried Benns „Philosophie als Rührei“ (610) oder Martin Walsers „schlichtes Holzfäller-Englisch“ (683) erspart geblieben sind? Oder der Kollege und Freund Gaston Salvatore, der Chilene aus der Zeit Allendes im deutschen Exil, den „Der lange Weg in die Wohnung von Natascha Ungeheuer“ ausgiebig beschäftigt hat? (711) Der Rückblick eines Methusalem und Survival über deutlich mehr als ein halbes Jahrhundert im Spannungsfeld von kleinen Gefechten (Scharmützeln) und erklärenden Randbemerkungen (Scholien) ist auch nach 900 Seiten noch nicht ausgeschöpft; allenfalls ist der streitbare Kolumnist nun der Erschöpfung nahe. Im „Londoner Zauberwald der roten Autobusse“ (602) kann man zwar „die Würde des Provinziellen“ (242) schwerlich entdecken oder verteidigen, aber die akute „Bargeldlosigkeit“ (529), die einen Nonsens-Dichter wie E. Lear sein Leben lang begleitete, der kann man immerhin ausweichen. Das ist wie alles vergänglich, es hat aber eine nicht zählbare Lesergemeinde erfreut und erheitert. Man öffne für HME den Applauswein für Präsenzkräfte im Schriftstellerberuf und hebe das Glas: Four Cheers (and five stars)!
Michael Karl

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Veröffentlicht am 05.01.2022

Auf der Karbonspur in die Glückseligkeit

Tumult
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Als Jürgen Habermas (Jg.1929) zum ersten Mal auf Adorno traf (+ Herbert Marcuse?) klärte sich bei Johannes Magnus (Jg.29 HME) so langsam die Zukunft. Der „stramme Max“ (M.F. Jg.1911) hatte in Rom noch ...

Als Jürgen Habermas (Jg.1929) zum ersten Mal auf Adorno traf (+ Herbert Marcuse?) klärte sich bei Johannes Magnus (Jg.29 HME) so langsam die Zukunft. Der „stramme Max“ (M.F. Jg.1911) hatte in Rom noch das Ingeborg-Kapitel vor sich („Siamo scrittori!“) und „Uns Uwe“ (Johnson, nicht Seeler) begegnet in Zehlendorf Peter Suhrkamp. Max sieht ihn (Uwe) bald als „ein(en) Mensch(en) unter dem Überdruck seiner Gewissenhaftigkeit.“ Max hat in den 70er Jahren (Friedenau) „horrende Auflagen“ und sein „Jag“ hat sfr 31.000 gekostet. Bei HME muss Max die Begriffe Schwätzer, Intelligenz und „glaubwürdige Person“ ins Verhältnis setzen. (Berliner Journal, 54) HME ist in Kaufbeuren zur Welt gekommen, wo sie den Eigen-Sinn pflegen und Empathieworte wie „armes Hascherl“ kennen und gebrauchen. (168) Mit 85 erinnert sich HME - „ich bin jetzt uralt“ (231) -, wie es „in den Jahren des Tumults“ zuging, ob er sich „eine Protagonistenrolle“ zuschreiben soll oder bloß „einen Rest von Komplizentum“. (265) Hatten die 68er „komfortable Karrieren“ gemacht? „Die meisten brachten es nur (!) zu einer Beamtentätigkeit als Lehrer oder Professoren, unkündbar und pensionsberechtigt.“ (264) Für HME war das keine Option: „Die Universität war nie mein Terrain. Dort hatte ich nichts zu suchen.“ (203) Die „akademische Welt kennt kein Erbarmen mit den Versagern.“ (273) Er findet, dass Reinhard Lettau und Rudi Dutschke sehr deutsch sind, bei Rudi fehle sogar die Ambition, Karriere zu machen, und Herbert Marcuse sei zum Sterben nach Starnberg gepilgert. (153, 258, 277) HME kann offenbar ganz gut mit Geld umgehen und sich und seinen Angehörigen Unterkünfte mieten oder kaufen (276 u.ö.): „Einsam war ich nicht gerade. Ich kannte ja hundert Leute in Berlin.“ (123) Im freiwilligen Exil am Oslofjord hört er, dass es im „Gebälk der Republik“ knistert, lässt sich von Uwe Johnson (Stierstraße) beim Hauskauf beraten, bald ist auch Max Frisch da (Sarazzinstraße), Günter sowieso - Friedenau wird zum bürgerlichen Epizentrum eines kleinbürgerlichen Vulkanausbruchs. (97) „Ich war 38, als das alles anfing. (…) Was mir aber gefiel, war die Erschütterung der deutschen Ordnung.“ (203) Und „berühmt waren wir damals alle.“ (213) „Man muss so wie er (= K. Marx) vorgehen und alle (!) Vorgänger rücksichtslos (!) demontieren.“ (223) Altersmäßig am nächsten stand ihm noch Ulrike Meinhof (Jg.1934), „eine berühmte und angriffslustige Journalistin. (…) Sie war einsam, eine Nonne ohne Abt. Sie tat mir leid. Wenn sie die Brille abnahm, sah sie wehrlos aus.“ (228) Ensslin und Baader stehen im Mai 1970 nach einer small Raushole spontan bei Johannes aus Kaufbeuren auf der Friedenauer Matte, wo ihnen der Hausherr aber den Unterschlupf ausredet. „Ich schließe aus dieser Episode, dass die RAF aus Versehen entstanden ist.“ (229) Ulrike bestellt ihn in Hamburg immerhin nochmal ein, auch Gudrun ist anwesend - und bewaffnet. „Chef dieser Gespensterarmee war der abscheuliche Andreas Baader.“ (230) Da glänzte man am besten durch Abwesenheit, denn „das Unbeteiligte altert nicht.“ (232) Dafür musste man aber um den Globus jetten, als hätte das Zeitalter der Globalisierung schon angefangen: „Ich war auf zu vielen Flughäfen im Nirgendwo.“ (150) Und auch ohne Internet hatten die Bilder schon ein Eigenleben: Sie „springen zwischen Raum und Zeit hin und her.“ (110) Den Umgang mit Frauen kann man hier wohl aussparen, das wäre noch ein eigenes Thema. Bei HME behalten sie ihre Würde und werden zu Selbständigkeit und Selbstbestimmung aufgefordert, was leider einschließt, dass HME große Mengen von Librium oder Triptizol auf dem Nachttisch nicht richtig zuordnen kann. (113) Er ist gedanklich ja fast immer woanders. Bei einer Scheidung vertritt ihn schließlich Horst Mahler: Johannes aus Kaufbeuren ist eben sehr viel auf Reisen (Neruda habe ich in Moskau getroffen, 209) und sitzt eben sehr oft am Schreibtisch (270). Einer Andalusierin müsse man keine Nachhilfe in Klimaxkunde geben und eine Brasilianerin - „halb Französin, ohne Beruf“ - „ist in der Liebe tierhaft stark, aber ohne eine Spur von Zärtlichkeit.“ (251) Gegen Ende von „Tumult“ kann ihn Imre Kertesz bei der Einordnung des Gesehenen und Miterlebten unterstützen: Meine Reise um die Welt war „sinnlos, anstrengend, aber schön.“ (238) Das Personenregister umfasst sieben Seiten und führt 300 - 400 Namen auf; Wilhelm Busch, Eric Hobsbawm oder The Rolling Stones dürfen nicht fehlen. In einem Gedicht von 1978 war HME noch kürzer angebunden: „Also was die siebziger Jahre anbetrifft / kann ich mich kurz fassen.“ (Es müsste „kurzfassen“ heißen). Im Flugzeug sitzt eines Tages ein Handwerker neben ihm und trinkt „sein drittes Bier.“ (257) „Es stellt sich heraus, dass er ein Sohn Ernst Jüngers ist.“ Small world?
Michael Karl

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Veröffentlicht am 05.01.2022

„Ich war stark wie ein Riese“ (20): Panoptikum der Survival-Artistik

Überlebenskünstler
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Der famose Suhrkamp - Verlag hat seinem Hausautor HME, geboren im Jahr der Krise 1929 an einem deutschen Schicksalsdatum (11.11.), quasi zum 90. Geburtstag vorab eine handwerklich in Ulm, Köln und München ...

Der famose Suhrkamp - Verlag hat seinem Hausautor HME, geboren im Jahr der Krise 1929 an einem deutschen Schicksalsdatum (11.11.), quasi zum 90. Geburtstag vorab eine handwerklich in Ulm, Köln und München grundsolide hergestellte Festschrift mit fast 370 Seiten und 99 Kurzporträts (Vignetten) von Überlebenskünstlern aus der Literaturbranche ausgerichtet, die „in der Reihenfolge ihrer Geburtsjahre“ zum Auftritt kommen, der älteste, der Norweger Knut Hamsun, geboren 1859, der jüngste, der Albaner Ismael Kadare, geboren 1936, nur letzterer (Nr.99 oder XCIX) ist im Jahr der Drucklegung 2018 noch am Leben, während Hasek (Nr.17) schon fast 100 Jahre tot ist, Aichinger und Kertesz (Nr. 84 + 94) sind es erst seit drei Jahren. Die Auswahl scheint skurril und eigenwillig (wie der Selektor), hat eingestandenermaßen (16f) eine maskuline und eine jüdische Schlagseite und HME wäre nicht HME, wenn ihn das allzu sehr bekümmerte: „Bitte wenden Sie sich an das Patriarchat.“ (17,331) Im Vektorraum seiner Schleppnetze verfangen sich Artgenossen aus dem 20.Jht. - „eine(r) Blütezeit von Schriftstellern, die Staatsterror und Säuberungen überlebt haben“ (15). Räumlich kommen diese Survival - Artisten aus aller Herren Länder und schreiben polyglott in allen erdenklichen Zungen. Vertreten sind aber „nicht alle Erdteile, alle Religionen und Hautfarben proportional…“ (17). Es handelt sich um Exoten wie Alexander v. Gleichen - Rußwurm (Nr.5), Despoten wie Johannes R. Becher (Nr. 29), Nepoten wie Gabriele D´Annunzio (Nr. 3), Erotomanen wie Henry Miller (Nr.30) oder ganz und gar Untote, die also „nicht totzukriegen“ sind (250), wie Sartre, die Bachmann, der Kästner oder P.G. Wodehouse (Nr.61,90,57,15). Mindestens 15 Nobelpreisträger sind darunter, von Hauptmann (1912) bis Kertesz (2002) eher bekannte, aber auch unbekannte wie Bunin (1933), Andric (1961) oder Milosz (1980), die das Los der vergessenen Nobelpreisträger teilen (304). Es ist ein Urenkel Schillers darunter (32), die Planstelle eines deutschen „Vize-Goethe“ ist besetzt (24), ein Verfasser der 3000 Seiten langen „orientalischen Buddenbrooks“ (275) aus Kairo ist zu finden oder ein Träger guter Manieren und Anzüge - aus der DDR, der „einen roten Sportwagen (besaß)“. (291). Individualmarxisten und Tifliser Priesterseminaristen (97, 99) finden sich ebenso wie Antisemiten und Faschisten (77 u.ö.), womöglich ausgestattet mit wenig Sinn für Prosodie, der Lehre von der stimmigen Silbenmessung. (78) Ferner findet man ein Dorfmädchen, das viele Bücher las (47), einen veritablen Epidemologen (148), aber auch den Sohn aus allzu gutem Hause: Der Vater war „mehrfacher Millionär“, der Sohn trat „eine Woche vor Herbert von Karajan(,) der österreichischen NSDAP bei.“ (160f) Wer Schnittmengen sucht, findet in deren Mitte eine Art HME - Kristall, bei dem sich allerlei Bezüge und Querverweise brechen, die vielleicht mit zwei Zitaten zu verklammern sind: „Sterben ist nichts für mich“ (335) und das abgewandelte Augustinus - Zitat: „Nichts Unmenschliches ist ihnen fremd.“ (234) Survivalakte setzen voraus, in einem „Jahrhundert der Wölfe“ (102) zumal, dass der Geist stets wach bleibt, sodass Marcel Reich (MRR) - „der nicht immer unrecht hatte“ - fand, dass „zwischen allen Stühlen (zu sitzen …) für einen Schriftsteller kein schlechter Platz“ sei. (168f) In jener Schnittmenge häuft sich eine Nähe zur KP, denn viele HME - Autoren (und natürlich auch er selbst) waren und sind „linke() fellow traveller(s)“ (250), denen etwa die Krimis eines Eric Ambler (Nr.67) allemal lieber sind als „die Macho - Puppe James Bond“. (249) Auch bei den Eigennamen haben die Autoren (und nicht die Behörden) das letzte Wort - Gorki, der Bittere (Nr.6), kam als Alexei M. Peschkow zur Welt und war „Lumpensammler, Vogelhändler und Nachwächter“ (35), Alberto Moravia erblickte als Alberto Pincherle das Licht dieser Welt (246) und der uneheliche Wolfgang Koeppen trug den Namen seiner Mutter, denn sein Erzeuger, dessen Klarnamen HME ausdrücklich nennt, war ein Augenarzt und „vermied jeden Kontakt zu ihm.“ (239) Erstaunlich oft wird außerdem erwähnt, dass die Survivalakte mit einem selbst finanzierten Erstling beginnen und der Erfolg dann plötzlich und überraschend hereinbricht. Lawrence von Arabien begann seinen Lebensweg mit dem Allerweltsnamen Chapman: „Ein uneheliches Kind war damals zum Außenseitertum verurteilt. Gleichwohl hatte er bald so gute Noten, dass er am Oxforder Jesus College studieren konnte.“ (89) Bei HME sollen Autoren also wie Phönix aus der schichtspezifischen Asche aufsteigen und es nicht vom Tellerwäscher zum Millionär bringen, was aber nicht bedeutet, dass sie irgendwelche Heilslehren zu verkünden hätten: „Ein Schriftsteller solle nicht mit einer Botschaft herumlaufen; er sei schließlich kein Briefträger.“ (258) HME versäumt es selten, seinen Lesern die Todesursache und die Grablege seiner Heroen mitzuteilen, als seien sie ebenfalls wichtig. So kam Irmgard Keun (Nr.59) in Melaten zur letzten Ruhe und etliche fanden sich in der zentralen deutschen Begegnungsstätte für untote Tote ein, dem Dorotheenstädter Friedhof in Berlin - Mitte (191 u.ö.), wo u.a. Hegel, Fichte, Brecht, Seghers und Weigel, Hans Meyer oder Herbert Marcuse begraben liegen. Ein weiterer und letzter Aspekt dieser famosen Publikation ist das Miterleben oder das Erlebnis als solches, die von HME immer sehr geschätzte (nicht immer so genannte) Dimension des tremendismo (172 u.ö.). Das schließt auch die eigenen Verwandten mit ein, den eigenen Bruder Christian, der als Anglistik-Professor Ezra Pound auf seiner „Südtiroler Burg“ „einmal aufgesucht“ hat (76), oder sogar den eigenen Vater, der sich dienstlich im Hotel ´Majestic´„auf derselben Etage“ wie Ernst Jünger aufhielt (156). Aber v.a. sind es die eigenen persönlichen Begegnungen mit den „Kriegselefanten der Literatur“ (198) - selten und deshalb kostbar -, etwa mit Oktavio Paz (Nr.77) „in seine(r) prachtvollen Wohnung am zentralen Paseo de la Reforma…“. (286) HME trifft Gide (Nr.7), wohnt um die Ecke von Feuchtwangers „Erfolg“sadresse in Schwabing (73), Cocteau schenkt ihm 1952 in Paris „einen kleinen Gedichtband“ (103) und Leonie (Nelly) Sachs empfängt ihn 1958 in Stockholm „in ihrer winzigen Wohnung.“ (123) Bei Ilja Erenburg (Nr.31) gab es im Sommer 1963 in der Gorki - Straße Champagner, petit fours und „Zofen in weißen Hauben“ zu bewundern (121) und Pablo Neruda (Nr.54) trifft er 1967 in London (u.a. auf einem Hausboot) und „eines Tages“ in Moskau (208). Im Hintergrund hört man die bedächtigen Schritte einer autobiographischen Fußspur - bei Foyles wird in den 1940er Jahren ein Benn erstanden und aus „Menschen getroffen“ zitiert (81). Die „farblosen deutschen 50er Jahre()“ sind sogar in Freiburg ohne Farbe (205) - allenfalls hört man Schlager im RIAS oder belauscht die Unterhaltung am Nebentisch (83). Aber Ende der 50er Jahre ist HME in New York (195) und läutet bei I.B. Singer (Nr.51), im Jahr 1959 hält er sich nachweislich in der Nähe der Villa Massimo und der Dichterin „Ingeborg“ (Nr.90) auf. (326) Im Dezember 1964 darf HME in Catania und Taormina in der Nähe von Anna Achmatowa (Nr.25) sein und ihr „in einem weinroten Plüschsessel zuhören.“ (99) An Literatur stellte HME immer schon eine hohe Erwartung und mühte sich stets, sie selber zu erfüllen - „dass sie vom Wichtigsten im Leben, vom Unvorhergesehenen, handeln“ möge. (41) Dem kann man - auch heute noch - nur zustimmen!
Michael Karl

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Veröffentlicht am 29.12.2021

„Worüber wollen wir denn plaudern?“

Die letzten Dinge
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Iris Radisch hat schon viel für die Verbreitung und Bewertung von Literatur geleistet und die Idee dieser „Lebensendgespräche“, die zwischen Herbst 1990 und Frühjahr 2015 geführt und aufgezeichnet wurden, ...

Iris Radisch hat schon viel für die Verbreitung und Bewertung von Literatur geleistet und die Idee dieser „Lebensendgespräche“, die zwischen Herbst 1990 und Frühjahr 2015 geführt und aufgezeichnet wurden, ist vorläufig auf ein eher geteiltes Echo gestoßen. Es handelt sich aber um eine kleine Fundgrube für alle, die sich für Literatur und ihre Erzeuger interessieren. „Meistens fanden die Gespräche in den Wohn- und Arbeitszimmern der Autoren statt.“ (12) Radisch erwartet von den Gesprächen keine stilisierten Auftritte von ergrauten Skribenten des Typus senex loquax, sie ist vielmehr neugierig auf „einen Wechsel der Blickrichtung“, auf „Altersradikalität“ und „wie der nahe Tod (den) Blick auf die Welt verändert.“ (10f) Neben dem Aufwand an Reisen und Spesen wartet das langjährige Projekt der ZEIT-Literaturchefin mit zahlreichen Überraschungen auf. Wo eigentlich die leisen Töne überwiegen müssten, wird es in der norddeutschen Provinz im Sommer 2007 am lautesten, denn Martin Walser ist als Gast bei Günter Grass anfangs noch „bester Laune“, aber bald auf Hundertachzig und „schreit“ bzw. „schreit noch immer.“ (166) „Das Gespräch dauert vier Stunden und droht mehrfach zu entgleisen. (…) Walser gibt das ausgelassene genialische Kind, Grass den überlegenen, heiter reservierten Gastgeber.“ (153) Er wundert sich jovial („Worüber wollen wir denn plaudern?“) über Walsers Klarsichthülle mit vielen Blättern („Hast du dich etwa vorbereitet, oder was? (…) „Ist ja ungeheuer.“ 154). Sie kennen sich seit einer Tagung der Gruppe 47 im Jahr 1955 und sind „beide fleißige Menschen.“ Walser wollte mit „Halbzeit“ „neben dem“ (= Grass + Blechtrommel) „bestehen“ (156), was ihm letztlich gelungen ist, denn „im Behlendorfer Garten“ trifft Radisch auf „zwei angeschlagene Krieger“ (153) und Martin hat ganz offenbar in der Zwischenzeit das intellektuelle Auslegungskommando übernommen: „Günter ist ein Spätexpressionist. (…) Ich bin erzählerischer.“ (156) Walser entfahren mehrfach italienische SPD - Bastas und katholische Flüche vom Typus Heilandzack, er „schlägt auf den Tisch“ (172) und pocht oder klopft ungehalten auf die Banklehne. (179) Günter hatte unterdessen Weißwein und Zigarillos geholt, nach denen es den Martin verlangte. (162) Denn diesem ist bei dem - vor dem 80. Lebensjahren stehenden - Dioskurenpaar der deutschen Nachkriegsliteratur am Ende offenbar die Rolle des Chefstrategen und Presseattachés zugefallen. Es gibt Streit darüber, ob das „meinungsstark“ oder „erfahrungsgesättigt“ sei. Kostproben: Sprache sei „eo ipso ein öffentliches Element“ (160); man müsse „immer den ganzen Autor lesen“ (163, also nicht bloß das letzte Buch); Erfahrungen seien „nicht wählbar“ (167); „Reden wir von Peter Handke“ (168); „Du kannst keine Ahnung haben von den Chefetagen des Kapitalismus.“ (169) „Das ist doch nur (!) Statistik.“ (175, Herwig Birg sei´s geklagt); „Natur hat man nur konkret.“ (178) Bücher seien „eine Daseinssteigerung“ (182). Günter lässt Martin konziliant gewähren, bleibt höflich und bescheiden, legt den Begriff „Angstblüte“ für Martin aus (179, mit einem Bezug zum Waldsterben), sieht ein, dass „sich die Erinnerung erst altersbedingt umschichtet“ (173) und gibt sich befriedet und friedfertig: „Ich toleriere Martins enthusiastische Einschätzung, die ich nicht teile.“ (165) Am Ende des ZEIT - Gesprächs wird es noch peinlicher für den Martin: Der angebliche Kapitalismus-Kenner muss einräumen, dass seine Altersvorsorge „eine Illusion war.“ Er sei dann „zu den Banken gegangen“ und habe „alles auf den Tisch gelegt“, über welchen er dann offensichtlich „gezogen“ wurde. (175f) Bei der abschließenden Frage nach dem Bleibenden verweist Grass bescheiden auf einen Klassiker wie Jean Paul. Martin reagiert wieder wie aus der Pistole geschossen: „ Der hat nicht umsonst gelebt, ich war seine Auferstehung.“ (182) Ein solches Kammerstück aus einem Me-first-Germany ist wohl schwerlich zu überbieten und Iris Radisch lässt auch keine Ambitionen in diese Richtung erkennen; eher war sie froh, der unverhofften Provinz wieder entflohen zu sein. Die vielen anderen Begegnungen waren eher face-to-face angelegt, in denen wie erhofft die leiseren und reflektierteren Töne bestimmend wurden. Imre Kertesz äußert sich zu seinem Lebensthema, das sich „um den funktionalen Menschen des 20.Jhts.“ gedreht habe. „Der funktionale Mensch verliert sich selbst.“ (233) In der Barrow Road in Cambridge wohnt „Europas Geisteselite“ und „George Steiner wird in wenigen Tagen 85 Jahre alt.“ (241) Er hat „sein Leben der Literaturwissenschaft verschrieben“ und Iris Radisch ist beeindruckt von der Strenge „dieses überwältigend belesenen Anwalts einer elitären europäischen Hochkultur“, auch wenn diese nicht mehr zeitgemäß sei. (243) Die Berufsorientierung erwies sich bei Steiner als durch das Elternhaus vorbestimmt: „ Aber das Heiligste ist dennoch, ein Lehrer zu sein. Das ist tief, tief jüdisch und hat mein Leben entschieden.“ (251) Man könnte noch viele Hinweise auf dieses herrliche Buch geben. Lassen wir es mit einem letzten Blick bewenden, auf den französischen Nobelpreisträger für Literatur, Patrick Mondiano. (253ff) Schon als Kind war er viel sich „selbst überlassen und ging ständig allein in Paris spazieren.“ Dabei kam es „zu einer inneren Landschaft, in der die Zeit stillsteht. (…) Ich benutze nur Empfindungen, die ich gehabt habe, und Stimmungen, in denen ich gelebt habe.“ (260) „Man kann sagen, ich fing an zu schreiben, um ein Geheimnis aufzudecken.“ (262) Romane des 19. Jhts seien gebaut „wie massive Kathedralen (…) Mir bleiben nur kleinste Bausteine, Fetzen. Meine Bücher sind so zerrisssen wie mein Jahrhundert.“ (264)
Michael Karl

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