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Veröffentlicht am 14.08.2021

Warmherziger Roman für alle, die Bücher lieben

Die letzte Bibliothek der Welt
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June Jones ist seit ihrem Schulabschluss in der Bücherei von Chalcot angestellt. Sie hat ihr ganzes Leben in der Stadt verbracht und wohnt noch immer im selben Haus, in dem lauter Dinge an ihre vor Jahren ...

June Jones ist seit ihrem Schulabschluss in der Bücherei von Chalcot angestellt. Sie hat ihr ganzes Leben in der Stadt verbracht und wohnt noch immer im selben Haus, in dem lauter Dinge an ihre vor Jahren verstorbene Mutter erinnern. Ihre Nachbarin Linda versucht immer wieder, sie zum Dating und mehr sozialen Aktivitäten zu ermuntern, doch die zurückhaltende June verbringt ihre Abende am liebsten allein mit Gerichten aus dem China-Imbiss und einem guten Buch. Als die Kreisverwaltung droht, die Bücherei zu schließen, gründen die treuesten Besucher eine Widerstandsgruppe. Weil Junes Chefin ihr die Teilnahme verbietet, beschließt sie, heimlich Unterstützung zu leisten. Doch um wirklich etwas zu bewirken, muss sie schließlich über ihren Schatten springen.

Die Protagonistin June lernte ich zu Beginn des Buches als stille Person kennen, die lieber für sich bleibt. Sie vermisst ihre Mutter, die vor einigen Jahren gestorben ist, noch immer sehr. Statt ein Studium aufzunehmen, ist sie in ihrem Heimatort geblieben und hat einen Job in der Bibliothek angenommen, in der ihre Mutter gearbeitet hat. Bücher umgeben sie rund um die Uhr, denn sie verbringt den größten Teil ihrer Freizeit mit Lesen. Gesellschaft leistet ihr dabei nur ihr meist schlecht gelaunter Kater Alan Bennett.

Ihre Routine wird unterbrochen, als die Kreisverwaltung mit der Schließung ihrer Bücherei droht. Im Nu haben die treuesten Bibliotheksbesucher FEKL gegründet, den Freundeskreis für den Erhalt von Kunst und Literatur. Zu ihnen gehören zum Beispiel Mrs Bransworth, die an jedem Buch lauthals etwas auszusetzen hat, Stanley Phelps, der jeden Tag das Kreuzworträtsel im Telegraph löst und Chantal, die ihre Hausaufgaben in der Ruhe der Bücherei erledigt und auf ein Unistipendium hinarbeitet. Die verschiedenen Charaktere sind mir schnell ans Herz gewachsen und ich hoffte mit, dass die Bücherei als für sie alle so wichtige Anlaufstelle bestehen bleiben darf.

Der Kampf um den Fortbestand der Bücherei wird humorvoll erzählt, denn FEKL denkt sich einige verrückte Sachen aus, um es mit ihrem Forderungen in die Schlagzeilen zu schaffen. Junes heimliche Unterstützung sorgt für besonderes Aufsehen. Ihr Leben wird zusätzlich durch die Begegnung mit Alex Chen durcheinandergewirbelt, der im China-Imbiss seines Vaters aushilft, bis sich dieser von seiner Hüft-OP erholt hat. Die beiden sind gemeinsam zur Schule gegangen und haben sich jahrelang nicht gesehen, denn Alex ist weggezogen und Anwalt geworden. Seine Versuche, Zeit mit June zu verbringen, verunsichern sie. Sicher hat er doch eine Freundin? Immer weiter wird June aus ihrer Reserve gelockt und ich fand es schön zu sehen, wie sie zunehmend mutiger und selbstbewusster wird.

„Die letzte Bibliothek der Welt“ ist warmherzig erzählt, ohne kitschig zu werden. Nicht alles läuft wie geplant und ich begleitete June und die Büchereibesucher durch Höhen und Tiefen. Es ist ein Roman über Freundschaft und Zusammenhalt, der durch die geteilte Liebe zu Büchern entsteht, den ich jedem bibliophilen Leser ans Herz legen kann!

Veröffentlicht am 08.08.2021

Eine Geschichte über Familie, Zusammenhalt und die Begeisterung fürs Bierbrauen

Die Bierkönigin von Minnesota
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Die Schwestern Helen und Edith Calder sind auf einer Farm in Minnesota aufgewachsen und haben seit dem Tod ihres Vaters nicht mehr miteinander geredet. Helen hat das gesamte Erbe der Eltern in die Familienbrauerei ...

Die Schwestern Helen und Edith Calder sind auf einer Farm in Minnesota aufgewachsen und haben seit dem Tod ihres Vaters nicht mehr miteinander geredet. Helen hat das gesamte Erbe der Eltern in die Familienbrauerei ihres Mannes gesteckt und diese über die Jahre zu einer der erfolgreichsten Marken des Bundesstaates aufgebaut, ohne ihre ältere Schwester je auszuzahlen. Deren Pies haben es zu überraschender Berühmtheit gebracht, doch sie wird so schlecht bezahlt, dass sie keinerlei Rücklagen für die Rente hat. Nicht einmal die laufenden Rechnungen könnte sie alle zahlen, wenn ihre Enkelin Diana diese nicht heimlich abfangen und sich darum kümmern würde. Dazu ist die Schülerin jedoch auch nur der Lage, weil sie regelmäßige Garagendiebstähle betreibt. Als sie eines Tages erwischt wird, denkt sich der Geschädigte eine ungewöhnliche Strafe aus. Durch diese entsteht eine Parallele zu Helens Lebensweg, ohne dass sie etwas von ihrer Verwandtschaft ahnen würde...

Nachdem mich das Buch „Die Geheimnisse der Küche des mittleren Westens“ von J. Ryan Stadal erst kürzlich begeistern konnte, freute ich mich darauf, vom Autor erneut mit auf die Reise genommen zu werden. Zu Beginn des Buches lernte ich Edith im Jahr 2003 als fleißige und bescheidene Frau kennen. Der Rummel um ihren berühmten Pie ist ihr fast schon ein wenig unangenehm und finanziell profitieren tut davon vor allem ihr Vorgesetzter. Mit ihrer Schwester Helen hat sie zu diesem Zeitpunkt seit Jahrzehnten kein Wort mehr gewechselt.

Um Helen kennenzulernen, reiste ich deutlich weiter zurück in die Vergangenheit, nämlich ins Jahr 1959. Dort entdeckt sie mit fünfzehn Jahren, dass sie den Geschmack von Bier liebt. Ein Skandal für ein Mädchen ihres Alters! Mit Beharrlichkeit und Ehrgeiz sucht sie sich über die Jahre ihren Weg. Ihr Verhalten steht in deutlichem Kontrast zu dem ihrer Schwester. Meine liebste Figur aber war Diana, Ediths Enkelin. Sie ist hochintelligent und denkt dennoch nicht über ein College-Studium nach, denn sie und ihre Großmutter könnten schon jetzt die Rechnungen nicht zahlen, wenn sie nicht klauen und ihr Diebesgut verkaufen lassen würde.

Das Buch nahm sich Zeit, um mich mit den Figuren bekannt zu machen. Ich erhielt Puzzlestücke aus verschiedenen Jahrzehnten, die allmählich ein gesamtes Bild der Familiengeschichte ergeben. Es ist eine dieser Geschichten, die umso mehr Spaß machen, je weniger man im Vorfeld weiß. Der Klappentext verrät meiner Meinung nach schon zu viel und auch ich habe gegrübelt, wie viel ich in der Rezension verraten soll. Ich fand es schön, mich überraschen zu lassen, welche ungewöhnlichen Wendungen die Geschichte nimmt und welche ungeahnten Zusammenhänge plötzlich entstehen.

„Die Bierkönigin von Minnesota“ ist eine Geschichte über Familie, Zusammenhalt und - vor allem in der zweiten Buchhälfte - die Begeisterung fürs Bierbrauen. Diese wird von J. Ryan Stradal mit viel Herz erzählt. Ich konnte mich gut in die Figuren hineinversetzen, ärgerte mich über Ungerechtigkeiten, freute mich über Erfolge und war bis zum gelungenen Abschluss mit großer Neugier, was das Leben für die Charaktere bereithält, dabei.

Veröffentlicht am 01.08.2021

Eindrucksvolle Einblicke in den Kampf gegen die Terminationspolitik

Der Nachtwächter
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Der Geschichte vorangestellt sind einige Informationen zur historischen Einordnung: In den USA wurde am 1. August 1953 die House Concurrent Resolution 108 verabschiedet, welche die auf unbegrenzte Dauer ...

Der Geschichte vorangestellt sind einige Informationen zur historischen Einordnung: In den USA wurde am 1. August 1953 die House Concurrent Resolution 108 verabschiedet, welche die auf unbegrenzte Dauer gültigen Verträge mit den amerikanischen Ureinwohnern für nichtig erklärt. Diese sollten in der Konsequenz wie alle anderen Einwohnern der USA behandelt werden, also: Keine Reservate mehr, keine Sonderrechte und -zahlungen. Als Vorsitzender des Stammesrats wehrte sich der Großvater der Autorin zu jener Zeit gegen das als Terminationspolitik bezeichnete Vorgehen. Auf ihm basiert die Romanfigur Thomas Wazhashk.

Im September 1953 arbeitet Thomas Wazhashk als Nachtwächter in einer Lagersteinfabrik in der Nähe des Reservats des Turtle Mountain Band of Chippewa. Er nutzt jede Sekunde des Tages, für Schlaf bleibt ihm kaum Zeit. Während der nächtlichen Stunden schreibt er Brief und Brief an politische Vertreter und Verbündete, um die Zukunft des Reservats zu sichern. Tagsüber nimmt er weitere Pflichten seines Amts als Vorsitzender des Stammesrat wahr, für die er sich aufgrund leerer Kassen noch nie die vorgesehene Vergütung ausgezahlt hat.

In der Lagersteinfabrik arbeiten auch viele Frauen der Chippewa, die in Sachen Fingerfertigkeit den Männern überlegen sind. Eine von ihnen ist Patrice Paranteau, die trotz Protest von ihrer Seite meist Pixie genannt wird. Ihre Schwester hat vor einiger Zeit mit ihrem Mann das Reservat in Richtung Minneapolis verlassen, doch seit einiger Zeit hat niemand mehr etwas von ihr gehört. Patrice ist fest entschlossen, mehr über den Verbleib ihrer Schwester herauszufinden.

Über die Terminationspolitik der USA und den damit verbundenen Kampf der Ureinwohner wusste ich vor der Lektüre nur wenig. Als Leserin erhielt ich vielfältige Einblicke in das Geschehen. Es war schön zu sehen, wie sich Menschen wie Thomas Wazhashk im Angesicht des Unrechts, das ihnen widerfahren soll, zur Wehr setzen und mit geringen Mitteln, dafür aber umso größerer Beharrlichkeit etwas bewirken können.

Neben allerlei wissenswerten Informationen erhielt ich viele interessante und emotionale Einblicke in das Leben im Reservat. Die Ureinwohner führen ein einfaches, naturverbundenes Leben, sie betreiben Landwirtschaft und Familie spielt eine große Rolle. Nur wenige haben eine Arbeitsstelle außerhalb des Reservats, viele in der Lagersteinfabrik, von dem Gehalt profitiert die ganze Familie. Besonders faszinierend fand ich die Einblicke in die Bräuche und Riten der Chippewa. Auch Träume und Visionen spielen eine wichtige Rolle. Um mehr über den Verbleib von Patrice’ Schwester Vera zu erfahren wird gar ein Jiisikid engagiert, der sich in Trance versetzen und bestätigen kann, dass sie am Leben ist.

Der Roman wird in ruhigen, eindringlichen Tönen erzählt, die mich fesseln konnten. Ich bangte mit, ob Thomas sich mit seinen Einwänden Gehör verschaffen kann und Patrice eine Spur ihrer Schwester findet. Auch viele Nebencharaktere sind sorgfältig ausgearbeitet, zum Beispiel der weiße Boxtrainer Lloyd Barnes, der die Jungen des Reservats trainiert und in Patrice verliebt ist, sowie sein bester Schüler Wood Mountain, der von einem Sieg gegen den weißen Joe Wobleszynski träumt. Eine lesenswerte Lektüre, die mir eindrucksvolle Einblicke in den Kampf gegen die Terminationspolitik gab und die ich gerne weiterempfehle!

Veröffentlicht am 17.07.2021

Drei, die unzertrennlich waren

Das Haus der Libellen
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Zwanzig Jahre sind vergangen, seit die Geschwister Noah und Emilia von Gutenbach mit ihren Eltern in die Villa neben Sophies kleinem Einfamilienhaus gezogen sind. Viele Jahre waren die drei unzertrennlich ...

Zwanzig Jahre sind vergangen, seit die Geschwister Noah und Emilia von Gutenbach mit ihren Eltern in die Villa neben Sophies kleinem Einfamilienhaus gezogen sind. Viele Jahre waren die drei unzertrennlich und haben beinahe jede freie Minute miteinander verbracht. Doch vor fünf Jahren hat Noah Sophies Herz gebrochen: Einige Tage nachdem er ihr einen Heiratsantrag gemacht hat, ist er ohne ein Wort nach Buenos Aires verschwunden und hat sich nie wieder bei ihr gemeldet.

Ein verzweifelter Brief von Emilia führt Sophie aus Freiburg zurück nach Hamburg in die Villa der von Gutenbachs. Die Eltern sind vor kurzem bei einem Autounfall ums Leben gekommen und Noah ist erneut verschwunden. Sophie möchte Emilia helfen, ihn zu finden. Doch Emilia ist ist keine große Hilfe. Sie spricht in Rätseln und ist ständig verschwunden. Im Keller züchtet sie Libellen, die sie konserviert und in Schaukästen an die Wände hängt. Sophie ist hin- und hergerissen, ob sie wieder abreisen soll oder ihr diese Reise endlich Antworten auf die Fragen gibt, die sie seit fünf Jahren nicht loslassen.

Nach einem kurzem Prolog, der von der ersten Begegnung Sophies mit den von Gutenbachs zwanzig Jahre zuvor handelt, springt das Buch in die Gegenwart und berichtet von Sophies Eintreffen an der Villa. Emilias Brief hat bei Sophie alte Wunden aufgerissen und sie überstürzt aufbrechen lassen. Doch was soll sie vor Ort eigentlich tun? Die Villa hat sich in ein stilles Kuriositätenkabinett verwandelt: Emilia lebt allein dort, lässt sich kaum blicken und hat alle Mitarbeiter bis auf den Gärtner entlassen. Die Libellen, die sie im Keller züchtet und in Schaukästen zuhauf an die Wände gehängt hat, sind ihre einzige Gesellschaft. Die Villa hat ebenso wie Emilia selbst eine geheimnisvolle, mysteriöse Aura, die mir genauso wie Sophie Rätsel aufgab.

Während Emilia jeglichen Fragen nach Noah ausweicht, findet Sophie beim Gärtner Manuel ein offenes Ohr. Er ist damals mit ihr und den Geschwistern von Gutenbach zur Schule gegangen, war aber nicht mit ihnen befreundet. Jetzt unterstützt er Sophie bei ihrer Suche, auf der sie jedem noch so kleinen Hinweis nachgeht. Offen gibt er zu, dass er das für Sophie und nicht für Noah tut, der ihr in seinen Augen noch nie gut getan hat. Dass Antworten ausbleiben ist frustrierend und ich konnte Sophies ständige Überlegungen, doch wieder abzureisen, gut nachvollziehen. Doch die Chance, doch noch eine Erklärung zu erhalten, lässt sie weitermachen. Jedes neue Puzzlestück gibt ihr Hoffnung, was mir immer wieder zeigte, dass sie Noahs Verschwinden vor fünf Jahren noch überhaupt nicht verarbeitet hat.

Ich erhielt beim Lesen einen umfassenden Einblick in ihre Gedanken und Gefühle, die mir zeigten, wie sehr sie an Noah hängt und wie tief sein Verhalten sie verletzt hat. Rückblicke, in denen Szenen zwischen Sophie, Noah und Emilia geschildert werden, trugen dazu bei, dieses Verständnis weiter zu vertiefen. Die Eltern der Geschwister haben den beiden wenig Liebe und viel Druck mit auf den Weg gegeben, was sie zu extremen Persönlichkeiten hat heranwachsen lassen, deren Stimmung ständig kippen kann. Wie es den Geschwistern wirklich geht und was sie zu ihrem Verhalten antreibt, das hat Sophie in ihrem Wunsch nach Nähe und Zugehörigkeit lange ausgeblendet.

Der Roman ist unglaublich atmosphärisch erzählt und ich fand es spannend, das Beziehungsgeflecht Stück für Stück besser zu verstehen. Ich konnte mich in Sophia hineinversetzen und den Sturm in ihrem Innern ebenso wie ihre Entscheidungen nachvollziehen. Für mich war es ein intensives Leseerlebnis, das einige Überraschungen bereithält und mir ausnehmend gut gefallen hat.

Veröffentlicht am 10.07.2021

Von der Fabrikarbeiterin zur Bordellbesitzerin

Die juten Sitten - Kaiserwetter in der Gosse
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1935 macht sich Minna mit dem Zug auf den Weg nach Frankreich. Zum ersten Mal in ihrem Leben verlässt sie Berlin, denn die politische Situation vor Ort lässt ihr keine Wahl und ihr geliebtes Bordell „Ritze“ ...

1935 macht sich Minna mit dem Zug auf den Weg nach Frankreich. Zum ersten Mal in ihrem Leben verlässt sie Berlin, denn die politische Situation vor Ort lässt ihr keine Wahl und ihr geliebtes Bordell „Ritze“ hat sie verkauft. Sie reist gemeinsam mit Emil und Gustav, denen sie während der Fahrt die Geschichte erzählt, wie sie überhaupt in den Besitz der „Ritze“ gekommen ist. Diese beginnt 1895, als Minna beschließt, der Arbeit in der Tabakfabrik und den beengten Verhältnissen in der Wohnung ihrer Familie den Rücken zu kehren, um in einem vornehmen Bordell zu arbeiten.

Bei „Kaiserwetter in der Gosse“ handelt es sich um den zweiten Band von „Die juten Sitten“. Auch wenn ich den Vorgänger nicht kannte, ist mir der Einstieg in die Geschichte leicht gefallen. Es handelt sich nämlich um die Vorgeschichte, die sich um Minnas Weg von der Fabrikarbeiterin zur Bordellbesitzerin dreht. Diese wird von ihr im Rückblick auf der Fahrt von Berlin nach Frankreich erzählt.

Die Zugfahrt bildet die Rahmenhandlung, von der aus Minna immer wieder in die Vergangenheit eintaucht. In kurzen Passagen wird das Gesagte kommentiert und hinterfragt, während sich die Charaktere von Berlin entfernen. Gelegentlich gibt es auch Anspielungen auf die Ereignisse des ersten Bandes, deren Kenntnis aber nicht entscheidend ist.

Minnas Motivation, ihrer Familie und der Fabrikarbeit den Rücken zu kehren, wurde für mich nachvollziehbar dargestellt. Die Arbeit im Bordell erscheint ihr als der vielversprechendste Weg hinaus aus der Armut, den sie willentlich einschlägt. Gezielt sucht sie nach einem vornehmen Etablissement, um in finanzieller Hinsicht das Beste für sich herauszuholen. Sie präsentiert sich als selbstbewusste Frau, die sich nicht mit dem Leben zufrieden geben will, in das sie hineingeboren wurde.

Im Umgang mit den vornehmen Freiern fällt Minna durch ihre Sprache auf. Sie ist um keinen Spruch verlegen und kommt der Bitte der Bordellverwalterin, Hochdeutsch zu sprechen, nur selten nach. Stattdessen berlinert sie sich durch die Geschichte und nutzt eine derbe Ausdrucksweise. Mit ihrer unkonventionellen Art eckt sie manches Mal an, findet aber auch Männer, die davon besonders angezogen werden. Sie ist ein echtes Unikat und wird mir als Charakter im Gedächtnis bleiben.

Beharrlichkeit und Einfallsreichtum lassen Minna in die höchsten Kreise vordringen. Dort wird sie Teil der Kotze-Affäre, welche die Adelswelt erschüttert und deren Verlauf lose auf den historisch belegten Ereignissen rund um Leberecht von Kotze beruht, der ebenso wie die meisten adeligen Charaktere des Buches tatsächlich gelebt hat. Szenen der Adeligen unter sich, die Minna nicht selbst miterlebt hat, schildert sie ihren Zuhörern auf ebenso unterhaltsame Weise wie ihre eigenen Erlebnisse. Sie gibt zu, es mit den Details nicht so genau zu nehmen und die Erzählung lieber etwas aufzupeppen, das Ergebnis würde ja dasselbe bleiben.

Ich wurde durch diese Herangehensweise sehr gut unterhalten und erhielt gleichzeitig spannende und authentische Einblicke in die Halbwelt am Ende des 19. Jahrhunderts. Der Roman wird mit einem Augenzwinkern erzählt, lebt von Skandalen und zeigte mir als Leserin die verruchte Seite des historischen Berlins. Klare Leseempfehlung!