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Veröffentlicht am 06.03.2021

Packender Roman über zwei ganz unterschiedliche Lebensträume

Lebenssekunden
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Angelika und Christine werden im Jahr 1956 beide sechzehn Jahre alt. Ihre Leben sind sehr verschieden: Angelika lebt in Kassel, ihr Vater ist Künstler und sie interessiert sich sehr für Fotographie. Christine ...

Angelika und Christine werden im Jahr 1956 beide sechzehn Jahre alt. Ihre Leben sind sehr verschieden: Angelika lebt in Kassel, ihr Vater ist Künstler und sie interessiert sich sehr für Fotographie. Christine ist in Ostberlin aufgewachsen und arbeitet als Kunstturnerin auf die Teilnahme an den Olympischen Spielen hin. Während Angelika nach einem Schicksalsschlag hinterfragt, was sie aus ihrem Leben machen möchte, wird Christine zur Verwirklichung ihres Traums erbarmungslos gedrillt. Doch um die DDR international zu vertreten braucht es nicht nur sportliche Höchstleistungen, sondern auch Linientreue.

Die ersten beiden Romane, in denen die Autorin ihre eigene Familiengeschichte verarbeitet hat, haben mir ausgesprochen gut gefallen. Meine Vorfreude auf den dritten Roman aus ihrer Feder war daher groß. Als Vorbild für den Roman diente unter anderem Barabara Klemm, die sich als Pressefotografin in ihrem männlich dominierten Umfeld erfolgreich behauptet hat.

Als Leser begleitet man Angelika und Christine fünf Jahre lang. Die Kapitel schildern abwechselnd ihre Leben, wodurch der Kontrast besonders deutlich wird. Angelikas Leidenschaft ist die Fotographie. Ihr Vater hat ihr die Grundlagen gezeigt, doch die Apparate sind teuer und so spart sie schon lange, um sich ein eigenes Exemplar leisten zu können. Sie streift auf der Suche nach Motiven durch die Stadt - ein Müßiggang, der für Christine undenkbar ist. Ihr Leben ist komplett durchgeplant: Sie muss viele Stunden am Tag trainieren, oftmals unter Schmerzen. Gleichzeitig wird genau kontrolliert, was sie isst, damit sie ihre zierliche Figur behält.

Auf der Hälfte des Buches macht das Buch einen Zeitsprung, sodass man die Frauen kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag wiedertrifft. Sie sind erwachsen geworden und müssen sich neuen Herausforderungen stellen. Angelika ist fest entschlossen, in der männlich dominierten Medienwelt als Pressefotografin Fuß zu fassen. Und Christine hat sich in einen Klassenfeind verliebt. Die Themen verleihen der Geschichte neuen Schwung und Berlin als Schauplatz rückt noch mehr in den Fokus. Hier sind die Spannungen zwischen West und Ost besonders groß, was die Protagonistinnen hautnah erfahren.

Ich habe mich beiden Frauen schnell nahe gefüht und fieberte mit ihnen mit. Die Kapiel enden oft mit Cliffhangern und schwenken zum anderen Charakter, sodass ich neugierig weiterlesen musste. Katharina Fuchs hat einen packenden Schreibstil und schildert die Höhen und Tiefen des Alltags der beiden Mädchen mit ebensolcher Spannung wie ihre wegweisenden Momente. Ein sehr gelungener Roman über zwei starke, ganz unterschiedliche Frauen, den ich gerne weiterempfehle!

Veröffentlicht am 15.02.2021

Vom Gefühl, nicht in das eigene Leben hineinzupassen

Kindheit
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Tove Ditlevsen wächst in den 1920er Jahren als Tochter eines Heizers und einer Hausfrau in Kopenhagen auf. Sie lebt in ärmlichen Verhältnissen, die Beziehung zu ihren Eltern und ihrem Bruder ist distanziert. ...

Tove Ditlevsen wächst in den 1920er Jahren als Tochter eines Heizers und einer Hausfrau in Kopenhagen auf. Sie lebt in ärmlichen Verhältnissen, die Beziehung zu ihren Eltern und ihrem Bruder ist distanziert. Ihre Mutter ist eine harte Frau, die keine Liebe zeigt. Mit ihrem Vater teilt sie die Begeisterung für Bücher, doch er hat klare Vorstellungen davon, welche Lektüre angemessen ist. Als er arbeitslos wird, belastet das die angespannte Familiensituation noch weiter. Tove ist intelligent, nachdenklich und hat oft dass Gefühl, nicht in ihr eigenes Leben hineinzupassen. Ihr Wunsch, Schriftstellerin zu werden, scheint unerreichbar. Aufs Gymnasium darf sie nicht gehen, stattdessen soll sie in einem fremden Haushalt arbeiten, bis sie heiraten und Kinder bekommen wird.

„Kindheit“ ist der erste Teil der autofiktionalen Kopenhagen-Trilogie, die erstmals komplett auf Deutsch vorliegt. Tove Ditlevsen schildert ihre frühen Jahre bis zu ihrem Schulabschluss und ihrer Konfirmation mit vierzehn Jahren. Dabei ist die Ich-Erzählerin genau ein Jahr jünger als die gleichnamige Autorin. Von der ersten Seite an faszinierte mich die poetische Sprache, mit der sie ihre triste Kindheit schildert und mich als Leserin ganz nah an sich heran ließ.

Das Buch hat nur knapp über 100 Seiten, doch jeder Satz ist wohlüberlegt. Sie hält ihre Beobachtungen und Gefühle auf eine kluge, oft philosophische Weise fest, die dazu einlädt, länger bei ihren zu verharren. Schon als Kind schreibt sie heimlich Gedichte in ihr Poesiealbum, viele handeln von der Liebe. Noch entspringen sie vor allem der Sehnsucht und nicht der Erfahrung. Die im Buch abgedruckten Werke lassen den Kontrast zwischen Toves einfachem Leben und ihren Träumen noch deutlicher zutage treten.

Für die wilden Spiele der anderen Kinder kann Tove kein Verständnis aufbringen. Mit der mutigen, frechen Ruth zieht sie eine Weile durch die Straßen, doch auch von ihr entfremdet sie sich zunehmend. Auch wenn sie vorerst nicht selbst über ihr Leben bestimmen kann, hält sie an der Hoffnung fest, eines Tages ihre Werke verkaufen zu können. Das Buch ist traurig und berührend, gleichzeitig konnte die Autorin mich mit ihrer Art und Weise des Erzählens fesseln. Ich bin gespannt auf die weiteren Bände der Trilogie.

Veröffentlicht am 15.02.2021

Coming of Age im ostdeutschen Plattenbau

Nur vom Weltraum aus ist die Erde blau
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Im Jahr 2019 kehrt Juri nach Klein Krebslow zurück, um die Wohnung ihrer verstorbenen Mutter aufzulösen. Dort findet die einen an sie adressierten Stapel Papier, der sie ins Jahr 1994 mitnimmt. In diesem ...

Im Jahr 2019 kehrt Juri nach Klein Krebslow zurück, um die Wohnung ihrer verstorbenen Mutter aufzulösen. Dort findet die einen an sie adressierten Stapel Papier, der sie ins Jahr 1994 mitnimmt. In diesem Jahr ist sie mit ihrer Mutter neu hergezogen, sehr zur Verwunderung ihrer Mitschüler der 7b, denn zuletzt haben immer mehr Famlien die zu DDR-Zeiten errichtete Plattenbausiedlung verlassen. Sascha hat die Geschichte aus seiner Perspektive niedergeschrieben und erzählt, wie es dazu kam, dass er sich in Juri verliebt hat. Doch vom Tag ihres Kennenlernens bis zur Monsterkatastrophe sind es nur 102 Tage...

Zu Beginn des Buches findet Juri einen dicken Stapel Papier von Sascha. Der beiliegende Brief erklärt, dass er sie im Jahr 1996, zwei Jahre nach Juris Verschwinden, aufgeschrieben hat. Einige Fotos vermitteln die Atmosphäre von Klein Krebslow, das von den Anwohnern meist nur „die Siedlung“ genannt wird und das stellvertretend für verschiedene tatsächlich existierende Plattenbausiedlungen auf dem ehemaligen Gebiet der DDR steht, deren Verfall nach der Wende begann. Dann folgt in 20 Kapiteln Saschas Geschichte. Das Wissen um Juris Verschwinden und die anstehende Monsterkatastrophe machte mich neugierig, zu erfahren, was die beiden im Sommer 1994 erlebt haben.

Zunächst lernte ich Sascha besser kennen, der mit seinen Eltern und seiner Schwester einige Jahre zuvor in die neuerrichtete Siedlung gezogen ist. Nach der Wende hat sein Vater wie viele andere Anwohner jedoch seinen Job verloren. Wie der schweigsame Mann nun Nahrungsergänzungsmittel verkauft ist Sascha schleierhaft, Gespräche mit ihm versucht er zu vermeiden. Die Siedlung wurde nach der Wende nicht wie ursprünglich geplant erweitert und immer mehr Anwohner ziehen weg. Laut Saschas Mutter, die als Lehrerin arbeitet, wohnen dort sonst nur noch Assis. Angst hat Sascha vor den Pawelke-Brüdern, die angeblich Faschos sind und die er eines Tages dabei beobachtet, wie sie einen alten Mann verprügeln.

Dieser Vorfall ist es, der Juri und Sascha näher zusammenbringt. Ihre furchtlose, blitzgescheite Art und ihr Interesse für Kosmonauten, Raketen und das Weltall fasziniert ihn. Während sein bester Freund Sonny sich in den Sommerferien zu Hause vergräbt und an seiner Musikkarriere arbeitet, verbringen die beiden immer mehr Zeit miteinander. Durch Juri sieht er Dinge aus einer anderen Perspektive und macht neue Erfahrungen. Bei ihrem Vorhaben, den Pawelkes nachzuspionieren, hat er allerdings ein ungutes Gefühl.

Die Geschichte ist sehr atmosphärisch und authentisch erzählt. Sascha als Erzähler ließ die Siedlung vor meinem inneren Auge lebendig werden und ich konnte mich gut in ihn hineinversetzen. Trotz einiger Andeutungen, was in dem Sommer alles passiert ist, erlebte ich zum Schluss noch einige Überraschungen. Neben den beiden Protagonisten ist mir besonders Herr Reza ans Herz gewachsen, den Sascha zunächst in die Schublade „alter Irrer“ einsortiert. Er erweist sich als vielschichtiger Charakter, der in seinem Leben viel mitgemacht hat und den beiden Jugendlichen mit seiner besonnenen Art und Ratschlägen zur Seite steht.

Das Debüt „Nur vom Weltraum aus ist die Erde blau“ kann nicht nur mit Titel und Cover überzeugen. Zwischen den Buchdeckeln steckt auch eine überzeugende und authentische Coming of Age Geschichte im ostdeutschen Plattenbau, die ich gerne weiterempfehle!

Veröffentlicht am 11.02.2021

Wie wäre dein Leben verlaufen, wenn...

Die Mitternachtsbibliothek
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Nora macht gerade eine schwere Phase durch: Ihre geliebte Katze Voltaire ist gestorben, sie hat ihren Job im Musikladen verloren, ihr einziger Klavierschüler hört auf zu spielen und ihr Bruder nimmt ihr ...

Nora macht gerade eine schwere Phase durch: Ihre geliebte Katze Voltaire ist gestorben, sie hat ihren Job im Musikladen verloren, ihr einziger Klavierschüler hört auf zu spielen und ihr Bruder nimmt ihr immer noch übel, dass sie vor Jahren aus der gemeinsamen Band ausgetreten ist. Mit Tabletten und Wein will sie sich von der Welt verabschieden, denn niemand braucht sie mehr. Doch statt zu sterben landet sie in einem Dazwischen, der Mitternachtsbibliothek. Dort erhält sie die Chance, Leben auszuprobieren, in denen sie in der Vergangenheit andere Entscheidungen getroffen hat, um das zu finden, das am Besten zu ihr passt. Wie fühlt sich das Leben an, in dem sie ihren Verlobten nicht verlassen hat? Oder das, in dem sie nach dem Philosophiestudium einen anderen Job angetreten hat? Oder gar nicht studiert, sondern eine Schwimm- oder Musikkarriere verfolgt hat? Ob Nora ein Leben finden wird, in dem sie weiterleben will?

Wer denkt nicht ab und zu darüber nach, wie sein Leben verlaufen wäre, wenn er sich an diesem oder jenem Punkt anders entschieden hätte? Das eigene Leben ist das Resultat Tausender und Abertausender von Entscheidungen und komplexer Zusammenhänge. Mit der Mitternachtsbibliothek schafft der Autor einen magischen Ort zwischen Leben und Tod, in dem Nora die einzigartige Chance erhält, zu erfahren, wie Leben aussehen, in denen sie andere Pfade eingeschlagen hat.

Die Atmosphäre zu Beginn des Buches ist gedrückt, denn in Noras Leben läuft wirklich vieles schief. Beim Betreten der Mitternachtsbibliothek ist sie zunächst skeptisch und weiß nicht, was sie vom dem Angebot halten soll, das ihr von ihrer alten Schulbibliothekarin Mrs Elm gemacht wird, die immer noch so aussieht wie bei ihrer letzten Begegnung vor neunzehn Jahren. Die ältere Frau erweist sich als Beraterin, die Nora allmählich auf den Geschmack des Ausprobierens all der Leben bringt, die in der riesigen Bibliothek auf sie warten.

Nora erlebt spannende und aufregende Momente, aber auch viele herbe Enttäuschungen, die sie immer wieder in die Bibliothek zurückbringen. Dort reflektiert sie in Gesprächen mit Mrs Elm das Erlebte und kommt zu Erkenntnissen, was das Leben als solches eigentlich wertvoll macht. Der Handlungsverlauf ist vorhersehbar, das hat mich in diesem Fall jedoch nicht gestört, denn die Botschaft, die dabei gesendet wird, fand ich sehr schön.

Mit „Die Mitternachtsbibliothek“ hat Matt Haig einen philosophisch geprägten Roman geschaffen, der nachdenklich stimmt und gleichzeitig wunderbar unterhalten kann. Ich bin überzeugt davon, dass jeder aus diesem Buch etwas mitnehmen kann, weshalb ich es wirklich jedem empfehlen kann!

Veröffentlicht am 30.01.2021

Ein Schimpanse, der wie ein Mensch aufwächst

Sprich mit mir
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Aimee lebt allein und kommt mit ihrem Studium nur mühsam voran. Doch dann sieht sie eines Tages im Fernsehen den Auftritt von Professor Schermerhorn und des Schimpansen Sam, die sich miteinander in Gebärdensprache ...

Aimee lebt allein und kommt mit ihrem Studium nur mühsam voran. Doch dann sieht sie eines Tages im Fernsehen den Auftritt von Professor Schermerhorn und des Schimpansen Sam, die sich miteinander in Gebärdensprache unterhalten können. Als sie feststellt, dass Schermerhorn ausgerechnet an ihrer Uni lehrt und neue studentische Hilfskräfte für Sams Betreuung sucht, meldet sie sich sofort.

Was als Teilzeitjob geplant war wird schnell zu einer Beschäftigung rund um die Uhr und Aimee damit Teil einer ungewöhnlichen Art Familie. Doch auch wenn Sam wie ein Mensch erzogen wird neigt er zu gelegentlichen aggressiven Ausbrüchen. Deshalb werden Projekte wie seines meist nach einigen Jahren abgebrochen, wenn die Schimpansen zu groß und gefährlich geworden sind. Aimee weiß das und ist dennoch wild entschlossen, Sam niemals in einem Käfig enden zu lassen.

In den 1960er und 1970er Jahren erlebte die Forschung zum Spracherwerb bei Menschenaffen ihren Höhepunkt. In dieser Zeit spielt auch die Geschichte des fiktiven Schimpansen Sam, der auf einer Ranch lebt und der Forschungsgegenstand des Professors Guy Schermerhorn ist. Aimees Faszination für Sam und seine Gebärdensprache springt auch auf den Leser über und so lebt sie schon bald mit Sam und Guy auf der Ranch - als Pflegerin, Familienmitglied, Schimpansenmutter.

Aimee geht es von Anfang an vor allem darum, eine Beziehung zu Sam aufzubauen und zu verstehen, wie er denkt. An den Forschungsaktivitäten ist sie kaum beteiligt. Auch das Verhältnis von Guy zu Sam und von Aimee zu Guy wird intensiv beleuchtet. Dem Leser wird ein komplexes Beziehungsgeflecht offenbart, in der Liebe, Loyalität und die völlige Vermischung von Berufs- und Privatleben eine wichtige Rolle spielen. Aimee und Guy werden schließlich mit einem Dilemma konfrontiert, bei dem ihre Meinungen, was die richtige Entscheidung ist, auseinandergehen.

Nach jedem Kapitel aus der Sicht der Menschen folgt ein Kapitel aus der Sicht von Sam. Der allwissende Erzähler gibt Sams Erleben und Empfindungen wieder. Dabei unterscheidet er zwischen Eindrücken, die Sam nicht benennen kann und solchen, für die er ein Wort gelernt hat. Bis heute streiten Forscher über die Frage, wie gut Schimpansen wirklich sprechen lernen können und wie weit ihre Denkprozesse ausgereift sind. Als Autor wagt Boyle hier eine Prognose, die sich durchaus plausibel liest.

Die Geschichte erstreckt sich über mehrere Jahre und von Beginn an kennen die Beteiligten die verschiedenen Richtungen, in die sich das Projekt rund um Sam entwickeln kann. Bereits nach dem ersten Kapitel erfährt man als Leser außerdem, dass Sam sich in der Zukunft an einem Ort befindet, an dem er nicht sein möchte. Der Spannungsbogen ist gelungen und ich wurde von Handlungsverlauf immer wieder überrascht. T.C. Boyle legt mit „Sprich mit mir“ eine beeindruckende Geschichte vor, die mich emotional packte, gespannt mitfiebern ließ und nachdenklich stimmen konnte.