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Veröffentlicht am 16.10.2021

Über die Macht der Sprache

Sprache und Sein
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Manche Rezensionen fallen mir leicht, sie sind innerhalb kürzester Zeit zu schreiben. Manche jedoch erfordern meine ganze Aufmerksamkeit und jede Menge Notizen, um zu versuchen, dem Text gerecht zu werden. ...

Manche Rezensionen fallen mir leicht, sie sind innerhalb kürzester Zeit zu schreiben. Manche jedoch erfordern meine ganze Aufmerksamkeit und jede Menge Notizen, um zu versuchen, dem Text gerecht zu werden. Das ist auch bei „Sprache und Sein“ der Journalistin, Autorin, Bloggerin und Aktivistin Kübra Gümüşay der Fall, welches kürzlich als Taschenbuch erschien.

In ihrem Buch befasst sich Gümüşay eingehend mit dem Thema Sprache und zeigt auf, wie machtvoll sie ist und wie sie unsere Wahrnehmung verändert. Jede/-r von uns kennt sicherlich ein Wort, das nur schwer in eine andere Sprache zu übertragen ist. Worte transportieren jedoch nicht nur unsere Sicht auf die Welt, sie zeigen auch Grenzen auf (wie das generische Maskulinum im Deutschen) bzw. hinterlassen Lücken, wenn Dinge einfach nicht verbalisiert werden können.

Die Autorin schildert zudem, wie Sprache zur Ausgrenzung und Stereotypen zu „Panzern der Ignoranz“ werden, indem sie die „Unbenannten“ den „Benannten“ gegenüberstellt. Zur ersten Kategorie gehört der Standard, also alle diejenigen, deren Perspektive das Maß aller Dinge ist. Die „Benannten“ sind diejenigen, die immer nur im Kollektiv und nicht als Individuum gedacht werden, zum Beispiel „DIE Musliminnen“. Was diese Art der Entmenschlichung für die Betroffenen bedeutet? Sie sind ständig, auch schon als Kind, damit beschäftigt, ihre eigene Existenz zu erklären und zu rechtfertigen, sie sind – so Gümüşay - „gefangen zwischen Sprache und Sein“.

Hier ist nicht genug Platz, um alle Themen aufzuzählen, welche im Buch angeschnitten werden. Die Autorin widmet sich digitalem Hass ebenso wie dem Rechtspopulismus, ächtender Sprache ebenso wie kalkulierten Provokationen durch die AfD. Dabei lässt sie uns an eigenen Erfahrungen teilhaben, zitiert aber auch viele andere Autor/-innen und Aktivist/-innen. Was aber ist all dem laut Gümüşay entgegenzusetzen? Wir brauchen viele Perspektiven unterschiedlichster Menschen, die frei sprechen dürfen – als Individuum und nicht als Repräsentant/-in eines Kollektivs. Eine gerechtere Gesellschaft ist nur durch Handeln erreichbar und wir alle dürfen nicht länger nur auf bestimmte Standpunkte reagieren, sondern müssen für die Themen agieren, die uns wichtig sind. Und vor allem: Wir müssen einander Fehler zugestehen, damit Entwicklung möglich ist. Unbedingt lesen!

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Veröffentlicht am 08.10.2021

Natürlicher Lebensraum

Auf Basidis Dach
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Eine Tasse Pfefferminztee in einem Café in Fès, schwungvoll aus einem halben Meter eingegossen. Ein Handy voller Kontakte von Taxifahrern in ganz Marokko, die meisten von ihnen hören auf den Namen Mohammed. ...

Eine Tasse Pfefferminztee in einem Café in Fès, schwungvoll aus einem halben Meter eingegossen. Ein Handy voller Kontakte von Taxifahrern in ganz Marokko, die meisten von ihnen hören auf den Namen Mohammed. Eine Dachterrasse voller Erinnerungen, manche von ihnen sogar voller Blut. Eine ältere Frau, die sich nur noch mit einem einzigen Wort verständigen kann, „Allah“. Und mittendrin eine junge Frau auf der Suche nach ihren Wurzeln und nach der Antwort auf die Frage, ob jeder von uns eigentlich einen natürlichen Lebensraum hat.

In ihrem Buch „Auf Basidis Dach“ schreibt Mona Ameziane, Journalistin und Moderatorin (unter anderem der sehr hörenswerten Büchersendung „1Live Stories“), über ihre „halbe Heimat“ Marokko. Als Tochter einer Deutschen und eines Marokkaners beantwortet sie bereits mit vier Jahren die Frage nach ihrer Herkunft mit „Ich komme aus halb Marokko und halb Deutschland“. Auch im Erwachsenenalter setzt das sich fort, doch dieses Mal stellt Ameziane sich selbst die Fragen, u.a. „Bin ich eigentlich marokkanisch genug?“.

In kurzen, aber inhaltsvollen Kapiteln berichtet die Autorin von ihrer letzten Reise nach Marokko, auf der sie ihr Vater begleitet, aber auch von Erfahrungen und Erlebnissen aus ihrer Kindheit und Jugend. Dabei macht sie, für mich persönlich, einfach alles richtig. Sie stellt die eigene Person in den Mittelpunkt, voller Ehrlichkeit und ohne Arroganz. Sie erzählt ebenso von schwierigen Momenten, wie von glücklichen, von traurigen, wie von lustigen – einfach eine perfekte Mischung. Und sie akzeptiert auch, dass es nicht auf alle Fragen eine eindeutige Antwort gibt, so zum Beispiel auf die nach der Rolle der Frau in Marokko.

Aus Mona Amezianes Worten ist auf jeder Seite die Liebe zu ihrer Familie zu lesen, die ihr die Möglichkeit gegeben hat, mit dem besten aus zwei Welten aufzuwachsen – ihr Basidi (so nennt man den Großvater in Marokko) gab ihr neben der Liebe zur Literatur auch noch den Titel für ihr Buch mit auf den Weg. „Auf Basidis Dach“ ist aber auch eine Liebeserklärung an ein Land, das die Autorin fasziniert, das sich ihr aber vielleicht nie ganz erschließen wird. Und das ist in Ordnung.

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Veröffentlicht am 15.09.2021

Sehr intensiver Familienroman

Der Gesang der Berge
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Vietnam, 1972. Hương wächst mitten im kriegsgebeutelten Hanoi auf. Ihre Großmutter Diệu Lan, kümmert sich liebevoll um sie, während der Vater auf dem Schlachtfeld kämpft und die Mutter ihm freiwillig ...

Vietnam, 1972. Hương wächst mitten im kriegsgebeutelten Hanoi auf. Ihre Großmutter Diệu Lan, kümmert sich liebevoll um sie, während der Vater auf dem Schlachtfeld kämpft und die Mutter ihm freiwillig nachfolgt. Damit sie nicht verhungern, arbeitet die Großmutter erst als Lehrerin und später als Händlerin, was die ganze Familie jedoch zu Geächteten macht. Hương und Diệu Lan haben nur einander und so beginnt die Großmutter eines Tages, ihrer Enkelin die Geschichte ihrer Familie zu erzählen.

„Der Gesang der Berge“ ist der erste in englischer Sprache verfasste Roman der Schriftstellerin Nguyễn Phan Quể Mai und von den Erlebnissen von Familienmitgliedern, aber auch Fremden geprägt, die ihre Geschichte mit der Autorin teilten. Die Handlung wird von Hương rückblickend aus der Gegenwart erzählt und umfasst somit einen Zeitrahmen zwischen den Jahren 1930 und 2017. Auf der einen Seite begleiten wir Großmutter und Enkelin durch die letzten Jahre des Vietnamkriegs, auf der anderen Seite breitet Diệu Lan in Erzählungen ihr bisheriges Leben aus: das Aufwachsen vor und während des Zweiten Weltkrieges, das Schicksal der Familie im Ersten Indochinakrieg und nach der Landreform 1955.

Es ist ein emotionales, sprachgewaltiges Bild, das die Autorin von der gesamten Familie Trấn zeichnet, die im Prinzip aber stellvertretend für viele vietnamesische Familien steht. Diệu Lan ist eine starke Frau, welcher der Krieg Unmenschliches abverlangt hat. Nach dem Tod ihres Mannes versucht sie allein, ihre sechs Kinder zu beschützen. Während der Landreform wird sie als Grundbesitzerin zum Feind und enteignet, dem Tod entgeht sie nur knapp und muss mit ihren Söhnen und Töchtern fliehen. Die Teilung Vietnams in Norden und Süden reißt die Familie dann endgültig auseinander. Erst in und dank Hươngs Generation scheint endlich wieder eine Aussöhnung möglich.

Teilweise ist es nur schwer zu ertragen, was die Figuren in diesem Roman erdulden müssen. Hươngs Mutter Ngọc beispielsweise kehrt völlig traumatisiert aus dem Krieg zurück und findet zu ihrer eigenen Tochter keinen Zugang mehr. Einer ihrer Brüder hat beide Beine verloren, ein anderer kämpft mit den grauenvollen Nachwirkungen des berüchtigten Entlaubungsmittels Agent Orange, das über den Schlachtfeldern versprüht wurde. Dennoch – oder gerade deshalb – ist der Roman absolut lesenswert und eines meiner Highlights 2021.

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Veröffentlicht am 13.09.2021

Absolutes Wohlfühlbuch

Vincent und das Großartigste Hotel der Welt
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Eigentlich ist es ein trauriger Tag, aber für den 11-jährigen Vincent birgt er den einen Moment, der sein Leben für immer verändern soll. Gerade erst ist sein Großvater verstorben und hat ihm seine Schuhputzkiste ...

Eigentlich ist es ein trauriger Tag, aber für den 11-jährigen Vincent birgt er den einen Moment, der sein Leben für immer verändern soll. Gerade erst ist sein Großvater verstorben und hat ihm seine Schuhputzkiste vererbt. Und schon an seinem ersten Arbeitstag bittet ihn die gleichaltrige Florence, Erbin des „Großartigsten Hotels der Welt“, in Zukunft die Schuhe ihrer Gäste zu putzen. Auf seinen Streifzügen entdeckt er ein Zimmer, das ihm die Zukunft voraussagen kann. Soll Vincent einen Blick riskieren? Aber was man einmal gesehen hat, kann man nicht mehr ungesehen machen, oder doch?

Lisa Nicol erzählt in „Vincent und das Großartigste Hotel der Welt“ eine wirklich herzerwärmende Geschichte über Familie und Freundschaft. Wir folgen dem Protagonisten Vincent, der sich durch seine selbstlose und einfühlsame Art auszeichnet. Die Geschichte wird dabei in personaler Erzählweise und der Er-Form geschildert, so dass wir stets auch sein Innerstes erfahren. Hin und wieder mischt sich jedoch auch die Autorin ein und gibt Anmerkungen ihres Co-Autors an die Leser*innen weiter – dessen Identität wird übrigens im Nachwort gelüftet und macht die Geschichte noch besonderer.

Die Handlung ist ungemein phantasievoll und zauberhaft, was durch den leichten, humorvollen, aber auch emotionalen Sprachstil noch unterstützt wird. Den bildhaften und klangvollen Beschreibungen nach macht das „Großartigste Hotel der Welt“ seinem Namen alle Ehre. Wer möchte nicht wie Vincent in einem Haufen voller Taschenhunde aufwachen oder mit einem Jetpack über das Gelände fliegen?

Doch die Geschichte hat durchaus auch ernste Seiten: Durch die zeitintensive Pflege des kleinen Bruders haben die Eltern wenig Zeit für Vincent und seine Schwester Rose. Besonders bedrückt ihn aber die Tatsache, dass Thom ihn vielleicht nie als Bruder wahrnehmen wird. Diese Erfahrungen knüpfen schnell ein starkes Band zu Florence, die sich trotz allen Reichtums einsam fühlt, weil ihre Eltern schon seit 3 Jahren auf Forschungsreisen sind, um Tiere vor dem Aussterben zu retten.

Fazit: Ein absolutes Wohlfühlbuch über ein Hotel, in dem ich auch gerne mal eine Nacht verbringen möchte

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Veröffentlicht am 03.09.2021

Ein Roman wie ein märchenhaftes Gemälde

Junge mit schwarzem Hahn
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Seit der Vater die gesamte Familie und dann sich selbst getötet hat, ist der elfjährige Martin vollkommen allein auf der Welt. Geblieben sind ihm nur die Kleider am Leib und der schwarze Hahn auf seiner ...

Seit der Vater die gesamte Familie und dann sich selbst getötet hat, ist der elfjährige Martin vollkommen allein auf der Welt. Geblieben sind ihm nur die Kleider am Leib und der schwarze Hahn auf seiner Schulter. Den Dorfbewohnern ist der Junge unheimlich, weil er trotz des schrecklichen Erlebnisses immer noch gütig und freundlich ist. Doch anstatt sich um ihn zu kümmern, verspotten und quälen sie Martin. Als ein reisender Maler das Dorf besucht, beschließt der Junge, mit ihm in ein neues Leben zu ziehen. Aber die Welt da draußen wartet ebenfalls nicht mit Freundlichkeit auf ihn…

„Junge mit schwarzem Hahn“ ist das Debüt der Schriftstellerin Stefanie vor Schulte. Die Handlung wird von einem auktorialen Erzähler in der Er-Form geschildert und weist viele Elemente eines klassischen Märchens auf. Martin ist ein Waisenkind und besitzt einen herausragenden loyalen und klugen Charakter. Aus seinem alten Leben macht er sich in ein neues auf und am Ende der Reise wartet eine große Aufgabe auf ihn. Immer an seiner Seite ist der schwarze Hahn, der ab einem bestimmten Punkt im Roman auch zu sprechen beginnt und das Märchenhafte noch unterstreicht.

Die Sprache des Romans ist kunstvoll und poetisch, das Geschehen selbst jedoch nur schwer in einer bestimmten Zeit zu verorten – vielleicht, weil es sich um eine universelle Geschichte handeln soll, über Unschuld und darüber, über sich hinaus zu wachsen, wenn das Leben anderer auf dem Spiel steht. Die Autorin schickt ihren Protagonisten dabei durch so manches düstere Tal, stellenweise sind die Ereignisse wirklich tragisch und dunkel. Dabei hat mir gut gefallen, dass Martin als Kind nichts Übermenschliches leistet und nicht auf einmal zum Erwachsenen wird. An sein Ziel gelangt er durch List und seinen scharfen Verstand – und manchmal möchte er auch einfach nur weinen und umkehren.

„Junge mit schwarzem Hahn“ ist ein faszinierender Roman wie ein großartiges, märchenhaftes Gemälde. An diese Thematik knüpft der Titel bewusst an und auch in der Handlung selbst spielt Kunst in Schlüsselszenen immer wieder eine Rolle. Ein besonderes Buch, das sicherlich zu meinen Jahreshighlights gehören wird.

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