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Veröffentlicht am 14.05.2019

Das war ein sehr flottes, sehr unterhaltsames Leseabenteuer.

Die Mauer
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Die Grundstory ist schnell erzählt und könnte sich, so oder so ähnlich, in ein paar Jahren tatsächlich abspielen: Die Meeresspiegel sind gestiegen und haben u.a. für Land- und Ressourcenknappheit sowie ...

Die Grundstory ist schnell erzählt und könnte sich, so oder so ähnlich, in ein paar Jahren tatsächlich abspielen: Die Meeresspiegel sind gestiegen und haben u.a. für Land- und Ressourcenknappheit sowie klimabedingte große Wanderbewegungen gesorgt. Großbritannien schottet sich gegen ungebetene Neuankömmlinge durch eine das Land komplett umschließende, wuchtige Mauer ab (Strände gibt es ja nicht mehr). Als quasi Wehrpflicht dieser neuen Gesellschaftsordnung muss jeder junge Mensch zwei Jahre Verteidigungsdienst auf der Mauer ableisten. Der Dienst ist hart und nicht ohne Konsequenzen: Wer nicht verhindern kann, dass Flüchtlinge über die Mauer ins Land eindringen, wird selbst auf dem Meer ausgesetzt. Die Lesenden begleiten Kavanagh, einen jungen Rekruten, bei seinem Dienstantritt und neuem Leben auf der Mauer.

Das sind mir die liebsten Dystopien: Die, die so dicht an der Realität kratzen, dass der Grusel sich sehr echt anfühlt. Keine Zombies, keine fremden Galaxien, keine außerirdischen Mächte, sondern menschliche, quasi "hausgemachte" Probleme einer Welt, die schon heute nicht fern scheint und in Zeiten klimatischer Veränderungen, Abschottung und Fluchtbewegungen alles andere als fernab jedweder Vorstellungskraft liegt (und den Brexit habe ich noch nicht mal erwähnt!)

Sprachlich ist das Buch keine große Herausforderung, ganz im Gegenteil, einige Passagen lesen sich wie Aufsätze à la "Mein schönstes Ferienerlebnis": Abläufe werden relativ nüchtern und einfach beschrieben. Aber das hat Methode, denn so wir bleiben die ganze Zeit ganz dicht beim Hauptcharakter, der die Geschichte als Ich-Erzähler zum Besten gibt (andere Einblicke werden ansatzweise durch sein Zusammentreffen mit anderen Menschen wiedergegeben). Lanchester hätte hier z.B. durch einen auktorialen Erzähler einen einfacheren, wenn nicht gefälligeren Weg wählen und so auch tiefere Einblicke vom Rest der Gesellschaft bieten können. Auch das wäre interessant, aber vielleicht weniger eindringlich gewesen - stattdessen bleiben wir bei Kavanagh. Das ist nicht immer schön oder angenehm, aber Lanchester zieht das gnadenlos und wirklich konsequent durch - eine durchaus eigenwillige, wenn nicht mutige Entscheidung.

Der Roman hat, neben den bereits erwähnten tagesaktuellen Querverweisen, vor allem zwei große Spaltungen zum Thema. Zum einen das "Wir" (die Menschen hinter der Mauer) gegen die "Anderen". Die Menschen hinter der Mauer haben Eigenschaften: Sie sind z.B. Verteidiger, Eliten oder Fortpflanzler (komischer Begriff, ja, aber wie könnte man "breeder" geschlechtsübergreifend passender übersetzen?). Die "Anderen" sind immer nur die "Anderen", egal, woher sie kommen, was sie machen, wer sie sind, sie sind die namenlose, bedrohliche Masse, gegen die hier nicht nur gehetzt werden kann, sondern die zum Abschuss freigegeben ist.

Die zweite Spaltung findet hinter der Mauer statt, und zwar zwischen den Generationen: Die "junge" Generation, hier wieder v.a. verbildlicht durch Kavanagh, hat keinerlei Respekt vor oder tiefe Gefühle für die Elterngeneration, schließlich hat diese durch ihr Verhalten die Situation überhaupt erst herbei geführt (hier hat sich Lanchester in gewisser Weise fast schon prophetisch der #FridaysforFuture-Demos genähert, zumindest was den Konflikt zwischen den Generationen - besorgte Jugendliche hier, zu wenig engagierte Erwachsene [Politiker] dort - angeht). Wenn man das unterwürfige, nach Vergebung strebende Verhalten von Kavanaghs Eltern als Maßstab nimmt, scheint diese Spaltung zumindest teilweise hausgemacht zu sein. Dennoch ist es natürlich von heuchlerischer Doppelmoral tief durchtränkt, wenn Kavanagh in geradezu unerträglicher Arroganz und Selbstbeweihräucherung durch Freisprechung ("WIR können da ja nichts für...") seine Eltern für die Folgen des Klimawandels verachtet, selbst aber, zumindest am Anfang, keinerlei moralische Bedenken oder Skrupel gegenüber "seinem" System zeigt, in dem Ausbeutung, Mord und Versklavung anderer als vertretbar gelten und nicht hinterfragt werden ("Muss halt so sein"). Zum Glück kommt der Roman nach einer gründlichen Darstellung des Lebens auf der Mauer richtig gut in Gang und wird durch verschiedene Ereignisse und wachsende Charaktere sehr spannend und bewegend - und auch (noch) grausam(er).

Ich glaube, es ist zu erkennen, dass mich dieser Roman sehr zum Nachdenken und drüber-sprechen-wollen angeregt und mir allein schon deshalb sehr gut gefallen hat.

Veröffentlicht am 04.09.2020

Kleine, feine Novelle

Sh*tshow
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Eine kleine, feine Novelle/Parabel auf die USA kurz nach der Wahl von Trump. Der Erzähler und seine Frau, pensionierte, gut situierte und gebildete Demokraten, verstehen ihre Welt nicht mehr. Mit ihren ...

Eine kleine, feine Novelle/Parabel auf die USA kurz nach der Wahl von Trump. Der Erzähler und seine Frau, pensionierte, gut situierte und gebildete Demokraten, verstehen ihre Welt nicht mehr. Mit ihren (eigentlich gleich denkenden) Freund*innen beklagen sie sich über den Wahlausgang und die drohende Zukunft - und auch in diesem eigentlich geschützen Umfeld werden schnell erste Vetrauensverluste deutlich. Doch das ist nur der Anfang, denn nachdem Unbekannte menschliche Fäkalien im Whirlpool des Paares hinterlassen haben, geht die wörtliche und titelgebende "Shitshow" erst so richtig los.

Die Metaphorik ist von Beginn an da, laut und unübersehbar, doch dieses Buch hat mehr und vor allem Nuancierteres zu bieten als die sprichwörtlich dampfende Kacke. Das Gefühl der Entfremdung, des Verlassens, des einsamen Zurückbleibens und nicht (mehr) Verstehens zieht sich bei dem Protagonisten, mehr sogar noch bei seiner Frau, durch alle Lebensbereiche und Gefühlsebenen: Das ganze Land hat sich mit der Wahl gegen sie gestellt, die Tochter als Produkt ihrer Erziehung ist bereits vor längerer Zeit in demokratischere Gefilde abgewandert (und selbst dieser "sichere Ort" zeigt Risse - oder?), die Freundschaft zu den anderen Paaren scheint ebenso zu bröckeln und ist mehr und mehr von Eifersucht, Wetteifern und Vertrauensverlust geprägt (die Argwohn ist seit längerem spürbar, nach der Wahl umso mehr), und schließlich wird das Haus durch die ungebetenen Gäste und ihre Hinterlassenschaften zu einer No-Go-Area. Dass sich diese Ansammlung von Unsicherheit und Angst an/mit sicher geglaubten Orten und Menschen auch auf die Beziehung der beiden zueinander auswirkt, scheint unumgänglich.

Richards Russos doch erstaunlich kurze Geschichte ist schnell gelesen, fast ebenso schnell wie sich die Welt der Personen darin verändert. Allerdings verändert sich die Welt außerhalb des Buches fast noch schneller - in Zeiten von Covid-19 und dem, nun ja, "Umgang" des Präsidenten mit der Pandemie erscheinen die Auswirkungen der ersten Monate seiner Amtszeit im Rückblick geradezu unfassbar mild. Man mag sich gar nicht ausmalen, welch unappetitliche Metaphorik sich der Autor für eine aktuell angepasste Parabel à la Shitshow 2.0 benötigen würde...oh je!

Veröffentlicht am 04.09.2020

Interessantes Debüt, mal schauen, was da noch so kommt

Land in Sicht
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Hui, dieses Buch ist ziemlich flott an mir vorbeigerauscht, so kurz und knapp war es. Dabei spielt es eigentlich in einer eher entschleunigten Umgebung: Jana, 24, bucht sich auf einer mehrtägigen Donauschifffahrt ...

Hui, dieses Buch ist ziemlich flott an mir vorbeigerauscht, so kurz und knapp war es. Dabei spielt es eigentlich in einer eher entschleunigten Umgebung: Jana, 24, bucht sich auf einer mehrtägigen Donauschifffahrt ein, da sie den Kapitän der "MS Mozart" als ihren bislang unbekannten Vater identifiziert hat. Wir haben es hier also mit einem doppelten Aufprall zweier jeweils fremder Welten zu tun: Eine Mittzwanzigerin auf einem "Rentnerschiff" sowie das erste Aufeinandertreffen von Vater und Tochter, Beziehungsstatus zueinander unbekannt, da nicht vorhanden.

Damit ist der Inhalt des Buches auch schon zusammengefasst, und viel mehr passiert auch nicht. Klingt nöliger, als es rüberkommen sollte, denn die knapp 160 luftig gesetzten Seiten sind sprachlich ansprechend gefüllt - Ilona Hartmann braucht nicht viel Masse, um mich auf der Ebene gut abzuholen. Mit Bedacht gesetzte Spitzen, ausgesuchte Formulierungen, dabei nie überbordend oder zu abgedreht - mir gefällt das aufs Wesentliche reduzierte, das aufgeräumt-straighte hier sehr. Lieber habe ich beim Lesen mehrfach kleine, verschmitzte Schmunzler im Gesicht und denke mir "Ha! Clever", als dass ich einmal laut auflache.

Ich hab es also gerne gelesen, und es liest sich auch sehr gefällig - bis auf einige wenige Rückblenden wird das Ganze recht "geradeaus" erzählt. Dennoch fehlt mir am Ende etwas, das ich gar nicht mal so wirklich benennen kann. Denn die Geschichte rund um Jana und ihren Vater wirkt einerseits unfertig, eher angekratzt - andererseits aber auch irgendwie auserzählt. Könnte noch mehr dran sein, würde aber auch so durchgehen. Hm. Bisschen wie eine Kurzgeschichte, die als Grundlage für einen Roman dienen soll, dann aber doch so, wie sie ist, durchgewunken wurde.

Vielleicht hätte man dem anderen Part, dem "junge Frau unter alten Menschen" noch mehr Zeit und Raum zum Entwickeln geben können. Denn die anderen Charaktere kommen und gehen, ohne große Eindrücke zu hinterlassen. Das ist schade und fühlt sich nach einer verpassten Chance an, denn ich hätte hierzu gerne mehr von Ilona Hartmann gelesen. Ihre Gedanken zu Jana und der Vaterthematik waren teils sehr vielversprechend.

Wird also gespeichert unter "interessantes Debüt, mal schauen, was da noch so kommt."

Veröffentlicht am 04.09.2020

Interessante, spannende China-Parabel

Alles was Sie sehen ist neu
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Ein Buch, das so ganz anders war, als ich es erwartet hatte - was in diesem Fall aber nicht schlecht war. Zunächst war ich davon ausgegangen, dass das fiktive Land Kirthan, in dem diese Geschichte spielt, ...

Ein Buch, das so ganz anders war, als ich es erwartet hatte - was in diesem Fall aber nicht schlecht war. Zunächst war ich davon ausgegangen, dass das fiktive Land Kirthan, in dem diese Geschichte spielt, an Nordkorea angelehnt ist - tatsächlich stellte sich aber ziemlich schnell heraus, dass hier von einem "verkleideten China" die Rede ist. Außerdem dachte ich, dass die westliche Reisegruppe, die dieses Land erkundet, im Mittelpunkt des Geschehens steht - tatsächlich ist es aber der geheimnisvolle Reiseleiter Nime, anhand dessen Biographie der Weg Kirthans von einer eher dörflich geprägten Nation zu einem Handelspartner des Westens erzählt wird.

Nichtsdestotrotz beginnt die Geschichte mit den Touristen, geschildert von einer Frau, die jährlich große Urlaubsreisen mit ihrem alten Vater unternimmt. In Kirthan gibt es viel zu sehen, und Nime führt die bunt zusammen gewürfelte Gruppe an Orte, die sowohl traditionell als auch modern sind ("Alles, was Sie sehen, ist neu"). Die anderen Touris kommen nur am Rande vor, werden teilweise - wie die Erzählerin - nicht mal namentlich vorgestellt, doch Annette Pehnt verleiht ihnen mit geschickt gesetzten Charakterzügen und Beschreibungen genug Kontur. Der Westen erkundet also Kirthan, oder zumindest den Teil des Landes, den die Touristen sehen sollen. Nime hält die Gruppe nicht nur zusammen und liefert Informationen, er ist auch ein echter "Kümmerer", löst kleine und große Probleme, hat immer ein Lächeln parat und wenn er erst anfängt zu erzählen...

Dann, nach etwas einem Drittel, verlassen wir die Gruppe und die Gegenwart. Nun wird in mehreren Kapiteln die Geschichte von Nime erzählt, und zwar immer aus wechselnden Perspektiven (die ihm mal näher, mal ferner sind) und verschiedenen Zeiten. Das gibt nicht nur weitere spannende Einblicke in das Leben des enigmatischen Mannes, sondern auch in die Geschichte, die dem Aufschwung Kirthans zugrunde liegt. Ob Landflucht der "jungen Leute", die Zersplitterung von familiären Strukturen oder die Umsiedlung alter Dörfer für Bauprojekte ("Alles, was Sie sehen, ist neu"), die "schöne neue Welt" in Kirthan hat so einige Schattenseiten.

Eine interessante, spannende China-Parabel, schön geschrieben und klug konstruiert - leider hat mir am Ende dann doch irgendwas gefehlt, eine alles zusammen fassende Folgerung, ein noch stärkerer Zusammenhalt der Einzelteile. So verhält sich das Buch wie eine von Nimes Geschichten: Sie hört einfach so auf, und auf Nachfragen gibt es nur ein höfliches Lächeln.

Veröffentlicht am 04.09.2020

Spannende Themenauswahl, etwas lau umgesetzt

Der Empfänger
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Das Rheinland in den späten 1920er Jahren: Die Brüder Josef und Carl träumen gemeinsam davon, nach Amerika auszuwandern. Kurz vor der Abreise geschieht ein Unfall, der Carls Traum jäh zerplatzen lässt ...

Das Rheinland in den späten 1920er Jahren: Die Brüder Josef und Carl träumen gemeinsam davon, nach Amerika auszuwandern. Kurz vor der Abreise geschieht ein Unfall, der Carls Traum jäh zerplatzen lässt - Josef wandert alleine aus, Carl bleibt in Deutschland zurück. Erst 20 Jahre, eine Diktatur und einen Krieg später treffen sich die Brüder wieder. Der Konflikt ist offensichtlich: Da der eine, der seinen Traum wahr gemacht hat, seinen Bruder aber zurücklassen musste. Da der andere, der bleiben musste und weiß, dass den Bruder eigentlich keine Schild trifft.

Als wäre dieses Dilemma nicht schon groß genug, spielt natürlich auch die Zeit eine tragische Rolle - Joseph, der sich in den USA Joe nennt, gerät als Deutscher ins Visier sowohl von dortigen deutschen Nazis, die möglicherweise interne Unruhen in den Staaten herbei führen wollen, als auch vom FBI, eben weil er mit den Nazis zu sympathisieren scheint. Doch was sind Joes, dessen Leidenschaft Amateurfunken den Plot auf mehreren Ebenen voran treibt, wirkliche Beweggründe für sein Handeln - und kann er darüber eigentlich selbst bestimmen?

Ulla Lenzes Roman hat inhaltlich jede Menge spannende Ansätze zu bieten. Die Geschichte eines deutschen Exilanten in den USA vor und während des 2. Weltkrieges erschien mir inhaltlich frisch, auch die moralischen Aspekte der Brüderbeziehung fand ich vielversprechend. Und das las sich auch alles recht flott weg - dennoch blieb mir das Buch ein wenig, hm, "unnahbar".

Möglicherweise liegt die Crux in der Authentizität: Ulla Lenze hat sich von der Geschichte ihres Großonkels inspirieren lassen, ihre Mutter kommt als Tochter des Bruders in der Erzählung vor. Möglicherweise wäre hier etwas mehr Anlehnung, also mehr Fiktion, die bessere Wahl gewesen. Mir erschien einiges zu uneindeutig, zu wenig "kantig". Mag sein, dass die Geschichte einfach nicht mehr hergegeben hat, mag sein, dass die Autorin ihren Großonkel nicht zu "intim" zeichnen wollte, mag sein, dass nur ich das so empfinde. Aber leider beschlich mich eine gewisse Gleichgültigkeit, auch wenn das Buch durchaus spannende, geradezu fesselnde Momente hatte. Mir blieb zu viel im Unklaren, und zu dem sowieso schon recht gut bestückten Grundideenfundus kamen noch diverse zeitgeschichtliche Themen, die quasi nur im Vorbeigehen angeschaut wurden (z.B. die angebliche Verschwörung über die Schriftrollen von Zion.)

Das Buch hat mich an einigen Stellen an Wintermänner erinnert: Nicht nur wegen der ähnlichen thematischen Ausgangslage (zwei deutsche Brüder, die die Nazizeit und den 2. Weltkrieg getrennt und unterschiedlich erleben), sondern auch wegen der Grundsatzfragen darüber, ob es reicht, sich einfach nur als "guten Menschen" zu deklarieren und zu fühlen, oder ob dazu nicht ein bisschen mehr eigenes Engagement nötig ist. Der große Unterschied zu beiden Büchern ist natürlich die Exilantensichtweise, die Ulla Lenze ihrem titelgebenden Empfänger mit auf den Weg gibt.

Fazit: Spannende Themenauswahl, die mir in der Umsetzung hier und da zu wenig "Fleisch am Knochen" hatte.