Das war ein sehr flottes, sehr unterhaltsames Leseabenteuer.
Die MauerDie Grundstory ist schnell erzählt und könnte sich, so oder so ähnlich, in ein paar Jahren tatsächlich abspielen: Die Meeresspiegel sind gestiegen und haben u.a. für Land- und Ressourcenknappheit sowie ...
Die Grundstory ist schnell erzählt und könnte sich, so oder so ähnlich, in ein paar Jahren tatsächlich abspielen: Die Meeresspiegel sind gestiegen und haben u.a. für Land- und Ressourcenknappheit sowie klimabedingte große Wanderbewegungen gesorgt. Großbritannien schottet sich gegen ungebetene Neuankömmlinge durch eine das Land komplett umschließende, wuchtige Mauer ab (Strände gibt es ja nicht mehr). Als quasi Wehrpflicht dieser neuen Gesellschaftsordnung muss jeder junge Mensch zwei Jahre Verteidigungsdienst auf der Mauer ableisten. Der Dienst ist hart und nicht ohne Konsequenzen: Wer nicht verhindern kann, dass Flüchtlinge über die Mauer ins Land eindringen, wird selbst auf dem Meer ausgesetzt. Die Lesenden begleiten Kavanagh, einen jungen Rekruten, bei seinem Dienstantritt und neuem Leben auf der Mauer.
Das sind mir die liebsten Dystopien: Die, die so dicht an der Realität kratzen, dass der Grusel sich sehr echt anfühlt. Keine Zombies, keine fremden Galaxien, keine außerirdischen Mächte, sondern menschliche, quasi "hausgemachte" Probleme einer Welt, die schon heute nicht fern scheint und in Zeiten klimatischer Veränderungen, Abschottung und Fluchtbewegungen alles andere als fernab jedweder Vorstellungskraft liegt (und den Brexit habe ich noch nicht mal erwähnt!)
Sprachlich ist das Buch keine große Herausforderung, ganz im Gegenteil, einige Passagen lesen sich wie Aufsätze à la "Mein schönstes Ferienerlebnis": Abläufe werden relativ nüchtern und einfach beschrieben. Aber das hat Methode, denn so wir bleiben die ganze Zeit ganz dicht beim Hauptcharakter, der die Geschichte als Ich-Erzähler zum Besten gibt (andere Einblicke werden ansatzweise durch sein Zusammentreffen mit anderen Menschen wiedergegeben). Lanchester hätte hier z.B. durch einen auktorialen Erzähler einen einfacheren, wenn nicht gefälligeren Weg wählen und so auch tiefere Einblicke vom Rest der Gesellschaft bieten können. Auch das wäre interessant, aber vielleicht weniger eindringlich gewesen - stattdessen bleiben wir bei Kavanagh. Das ist nicht immer schön oder angenehm, aber Lanchester zieht das gnadenlos und wirklich konsequent durch - eine durchaus eigenwillige, wenn nicht mutige Entscheidung.
Der Roman hat, neben den bereits erwähnten tagesaktuellen Querverweisen, vor allem zwei große Spaltungen zum Thema. Zum einen das "Wir" (die Menschen hinter der Mauer) gegen die "Anderen". Die Menschen hinter der Mauer haben Eigenschaften: Sie sind z.B. Verteidiger, Eliten oder Fortpflanzler (komischer Begriff, ja, aber wie könnte man "breeder" geschlechtsübergreifend passender übersetzen?). Die "Anderen" sind immer nur die "Anderen", egal, woher sie kommen, was sie machen, wer sie sind, sie sind die namenlose, bedrohliche Masse, gegen die hier nicht nur gehetzt werden kann, sondern die zum Abschuss freigegeben ist.
Die zweite Spaltung findet hinter der Mauer statt, und zwar zwischen den Generationen: Die "junge" Generation, hier wieder v.a. verbildlicht durch Kavanagh, hat keinerlei Respekt vor oder tiefe Gefühle für die Elterngeneration, schließlich hat diese durch ihr Verhalten die Situation überhaupt erst herbei geführt (hier hat sich Lanchester in gewisser Weise fast schon prophetisch der #FridaysforFuture-Demos genähert, zumindest was den Konflikt zwischen den Generationen - besorgte Jugendliche hier, zu wenig engagierte Erwachsene [Politiker] dort - angeht). Wenn man das unterwürfige, nach Vergebung strebende Verhalten von Kavanaghs Eltern als Maßstab nimmt, scheint diese Spaltung zumindest teilweise hausgemacht zu sein. Dennoch ist es natürlich von heuchlerischer Doppelmoral tief durchtränkt, wenn Kavanagh in geradezu unerträglicher Arroganz und Selbstbeweihräucherung durch Freisprechung ("WIR können da ja nichts für...") seine Eltern für die Folgen des Klimawandels verachtet, selbst aber, zumindest am Anfang, keinerlei moralische Bedenken oder Skrupel gegenüber "seinem" System zeigt, in dem Ausbeutung, Mord und Versklavung anderer als vertretbar gelten und nicht hinterfragt werden ("Muss halt so sein"). Zum Glück kommt der Roman nach einer gründlichen Darstellung des Lebens auf der Mauer richtig gut in Gang und wird durch verschiedene Ereignisse und wachsende Charaktere sehr spannend und bewegend - und auch (noch) grausam(er).
Ich glaube, es ist zu erkennen, dass mich dieser Roman sehr zum Nachdenken und drüber-sprechen-wollen angeregt und mir allein schon deshalb sehr gut gefallen hat.