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Veröffentlicht am 12.09.2022

Eindringlich erzählte Gesellschaftsstudie

Nebenan
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TW: Häusliche Gewalt, unerfüllter Kinderwunsch/Fehlgeburt, Tod/Verlust

Inhalt:
Julia wünscht sich sehnlichst ein Kind und die langen Tage im dunklen Januar nutzt sie dafür, bei Instagram glückliche Vorzeigefamilien ...

TW: Häusliche Gewalt, unerfüllter Kinderwunsch/Fehlgeburt, Tod/Verlust

Inhalt:
Julia wünscht sich sehnlichst ein Kind und die langen Tage im dunklen Januar nutzt sie dafür, bei Instagram glückliche Vorzeigefamilien zu beneiden, ihrer Arbeit als Keramikerin nachzugehen und das seit den Weihnachtsferien leerstehenden Haus gegenüber zu beobachten, während ihr Mann Chris sich mit unzähligen Plastikteilchen befasst, die plötzlich in den umliegenden Gewässern aufgetaucht sind. Astrid wird zu einem rätselhaften Notfall gerufen, macht sich Sorgen um ihre alternde Tante und ihr Mann versucht, sich mit dem Leben als Pensionär zu arrangieren. Was hat es mit den vielen Geheimnissen auf sich? Und wie gut kennt man seine Nächsten wirklich?

Meine Meinung:
"Nebenan" stand seit seinem Erscheinen (respektive schon kurz vorher) auf meiner Wunschliste und da es nun auf der Longlist des Deutschen Buchpreises steht, habe ich einfach nicht mehr länger warten können und das Buch im Bloggerportal angefragt.
Mich hat von Anfang an die düstere Grundstimmung begeistert. Es ist Januar, es ist kalt, die Weihnachtstage und der Lichterglanz sind vorbei, Nebel liegt über den Feldern und einem verlassenen Haus. Hat jemand die Serie "Katla" gesehen? An diese Stimmung erinnerten mich die ersten Seiten dieses Buches. Da ich alle Rezensionen nur überflogen und auch den Klappentext nicht gelesen hatte, konnte ich anfangs überhaupt nicht einordnen, wohin mich die Geschichte führen würde. Auch nachdem ich das Buch vor einigen Tagen beendet habe, fällt es mir sehr schwer, das Gelesene und meine Meinung dazu in Worte zu fassen, obwohl mir dieses wirklich aussergewöhnlich erzählte Buch sehr gefallen hat.

Aufbau:
Zwei Frauen und ihre Geschichte stehen im Zentrum. Sie wohnen nicht weit voneinander entfernt, kennen sich aber nicht. Nach und nach zeigt sich, wie und wo sich ihre Leben berühren, wie sehr sie sich aber auch voneinander unterscheiden. Alle Fäden laufen in einem leerstehenden Haus zusammen, das Julias und Astrids Aufmerksamkeit auf sich zieht und bei dem immer wieder ein kleiner Junge auftaucht und nach jemandem zu suchen scheint. Darin soll eine Familie gelebt haben, die entweder sehr lange in den Urlaub gefahren oder überstürzt ausgezogen ist.
Während mir das Kinderwunschthema ein wenig zu sehr in den Vordergrund gerückt worden ist, hätte ich gerne noch viel mehr über Astrid und ihre alternde Tante erfahren. Ausserdem hat mich gefreut, wie über Astrids Beziehung zu ihrer ehemaligen besten Freundin Marli berichtet worden ist.
Besonders überzeugt hat mich, wie gut es Bilkau gelungen ist, so viele Themen zu streifen, ohne sich zu verzetteln oder oberflächlich zu wirken. Das Kinderwunschthema ist sehr präsent, aber es geht auch um die Umweltverschmutzung, die Fake-Welt von Social-Media, das Altern, Vernachlässigung, eine bewegte Familiengeschichte, Verlust, häusliche Gewalt, die Entfremdung von den eigenen Kindern oder guten Freund:innen sowie die Veränderungen in Freundschaften und Beziehungen.

Sprache:
Die anfänglich sehr mysteriöse Grundstimmung erzeugt Bilkau mit wenigen Worten. Es bleiben viele Leerstellen, einiges habe ich mir zusammengereimt und ich wäre am liebsten noch viel länger und tiefer in die beschriebenen Schicksale eingetaucht. Auch die Figuren und ihre Gedankengänge - allen voran natürlich Astrid und Julia - sind so beschrieben, dass ich ihre Ansichten und Gefühle sehr gut nachvollziehen konnte, obwohl diese beiden Leben und Lebensentwürfe mir persönlich sehr fremd sind. Diese einzigartige Sprache und das immer wieder vorkommende leerstehende Haus haben mich überzeugen und fesseln können und ich konnte das Buch kaum aus der Hand legen.

Meine Empfehlung:
"Nebenan" ist sicher kein Buch, das sich einfach so nebenher weglesen lässt und ich kann mir vorstellen, dass einige der beschriebenen Szenen Menschen mit unerfülltem Kinderwunsch belasten können. Die einzigartige Sprache und das leerstehende Haus in der Nachbarschaft als Metapher für all die kleinen und grossen Unbekannten in unserem Leben machen das Buch aber zu einer lesenswerten, eindringlich erzählten Geschichte, die lange nachhallt.

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Veröffentlicht am 28.08.2022

Ein alles verändernder Sommer, Freundschaft, Liebe und Vertrauen

Der große Sommer
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Inhalt:
Nachdem Frieder das Schuljahr nicht bestanden hat, stehen für ihn nicht Familienferien am Meer an, sondern Nachprüfungen und davor ein Sommer bei seinen Grosseltern und anspruchsvolle Lerneinheiten ...

Inhalt:
Nachdem Frieder das Schuljahr nicht bestanden hat, stehen für ihn nicht Familienferien am Meer an, sondern Nachprüfungen und davor ein Sommer bei seinen Grosseltern und anspruchsvolle Lerneinheiten und Lebenslektionen. Im Schwimmbad trifft er ausserdem auf Beate und die abendlichen Ausflüge mit seiner Schwester Alma und seinem besten Freund Johann werden immer abenteuerlicher.

Meine Meinung:
Nachdem mich "Alte Sorten" von Ewald Arenz vor bald zwei Jahren begeistert hat, wollte ich unbedingt auch "Der grosse Sommer" lesen und habe dafür das Erscheinen der Taschenbuchausgabe abgewartet (damit die Bücher im Regal gut zusammenpassen). In den letzten Tagen habe ich mich auf den kommenden Herbst gefreut und die kühlen Sommermorgen und die letzten langen Sonnentage - mit durchaus angenehmeren Temperaturen als noch vor zwei Wochen - so richtig ausgekostet. Dabei habe ich mich von "Der grosse Sommer" verzaubern und berühren lassen. Es hat mich überzeugt, wie die Figuren beschrieben sind und die Freundschaft zwischen Frieder, Johann, Alma und Beate hat mich an unbeschwerte Erlebnisse in der Jugend und an mehr und weniger gefährliche und verbotene Abenteuer und Ausflüge erinnert.
Ausserdem werden die unterschiedlichsten Gefühle geweckt und neben der Freundschaft dieser jungen Menschen hat auch der Tod einen Gastauftritt in der Geschichte. Trauer, Vertrauen, Verlassenheit, Selbstständigkeit und immer wieder die Liebe werden zum Thema in diesem Buch. Vor allem die Liebesgeschichte von Frieders Grosseltern - respektive seiner leiblichen Oma und deren Mann, dem auf den ersten Blick mürrischen, strengen und überkorrekten Mann, dem Stiefvater seiner Mutter, den er "Grossvater" nennen muss - hat als schöne Neben- und Rahmenhandlung fungiert und einmal mehr hat Ewald Arenz aufgezeigt, dass Menschen oft viel mehr sind als ein erster Eindruck uns zu suggerieren vermag.

Schreibstil:
Flüssig und leicht mit einer melancholischen Note erzählt Arenz diese Geschichte, die sowohl äusserst humorvoll und sommerlich als auch intelligent und tiefgründig erzählt ist. Vier Freund*innen, die zwischen Jugend und Erwachsensein schweben und die in den Achtzigerjahren aufwachsen und entsprechend fast unendliche Freheiten, aber auch nicht immer sehr viel Unterstützung von ihren erwachsenen Bezugspersonen erleben, sind einander der grösste Halt im Leben. Diese überbordenden Gefühle, die jugendliche Sprache und die sanft in die Geschichte eingewobenen Lebensweisheiten machen das Buch zu einem ganz besonderen Leseerlebnis.

Meine Empfehlung:
Tatsächlich kommt "Der grosse Sommer" in meinen Augen nicht ganz an "Alte Sorten" heran, Ewald Arenz ist aber eine packende, sehnsuchtsvolle Geschichte über die erste Liebe, einen nie enden wollenden (und sollenden) Sommer, über eine aussergewöhnliche Familie und eine tiefe Freundschaft gelungen. Von mir gibt es eine herzliche Empfehlung für dieses bewegende Buch mit Sorgwirkung.

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Veröffentlicht am 20.07.2022

Spannend und unterhaltsam

Die Frau von früher
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Inhalt:
Ellen lebt ein schönes Leben als Hypnotherapeutin im Haus ihrer verstorbenen Grosseltern. Die hellen Räume, der Blick aus ihrer Praxis auf den Strand sowie die neu entfachte Liebe zur online-Bekanntschaft ...

Inhalt:
Ellen lebt ein schönes Leben als Hypnotherapeutin im Haus ihrer verstorbenen Grosseltern. Die hellen Räume, der Blick aus ihrer Praxis auf den Strand sowie die neu entfachte Liebe zur online-Bekanntschaft Patrick sorgen für Schmetterlinge im Bauch und glückliche Stunden. Bald jedoch stellt sich heraus, dass Patrick von seiner Ex-Freundin Saskia gestalkt wird. Ausserdem scheint seine verstorbene Ehefrau sich nach wie vor auf ungesunde Art in sein Leben zu drängen. Für Ellen wird es immer schwieriger, sich gegenüber diesen Frauen zu behaupten und sich von Patricks Vergangenheit abzugrenzen, zumal Saskia sich bereits in ihrem Leben befindet...

Meine Meinung:
Ganz spontan haben Julia (https://www.instagram.com/bibliophile.julia/) und ich beschlossen, "Die Frau von früher" gemeinsam in einer Instagram-Leserunde zu lesen. Innerhalb von nur einem Tag haben wir uns online gefunden, die Abschnitte eingeteilt und losgelesen. Auf das Buch aufmerksam geworden bin ich bei Irene vom Blog Igelabooks und ohne mir eine Beschreibung durchzulesen, sondern nur aufgrund ihrer Begeisterung, habe ich das Buch beim Bloggerportal angefragt. Deshalb hat mich die Geschichte mit jeder Seite, jeder Szene und jeder neuen Figur überrascht. Es kam Spannung auf, Romantik, Tragik, es wurde äusserst humorvoll und immer wieder habe ich mich gefragt, in welche Richtung es wohl bald gehen würde. Der Austausch mit Julia war ebenfalls sehr unterhaltsam und hat mir grosses Vergnügen bereitet. Mit seinen mehr als 500 Seiten habe ich dieses Buch übrigens im #dickebüchercamp der lieben Marina vom Blog Nordbreze gelesen und die vielen Seiten habe ich der Geschichte nicht angemerkt, so gerne und schnell habe ich mich durch das Buch gelesen.

Schreibstil und Aufbau:
"Die Frau von früher" war mein erstes Buch von Liane Moriarty und die weiteren Bücher der Autorin habe ich mir bereits vorgemerkt. Moriarty hat es geschafft, ganz viele unterschiedliche Stimmungen, das Glück der Protagonistin, die aufkommende Spannung, eine plötzlich auftretende Atmosphäre, Trauer und Humor in ihren Text zu verweben und diese Geschichte sprachlich einfühlsam und äusserst packend zu erzählen. Obwohl ich eine ganz andere Richtung erwartet habe, hat mich der Ausgang des Buches begeistern können und überrascht.
Die Figuren sind mitten aus dem Leben gegriffen und obwohl die Protagonistin Ellen für meinen Geschmack ein wenig zu entspannt mit der Situation ist, in die sie sich mit ihrer neuen Beziehung manövriert hat, habe ich ihre Handlungen stets gut nachvollziehen können. Auch Saskia ist sehr plastisch beschrieben. Sie wirkt nicht wie die üblicherweise bedrohlich dargestellte Stalkerin, sondern wie eine Frau, die lediglich nicht mit ihrer Vergangenheit abschliessen konnte und dadurch zu ihren irrationalen Handlungen gezwungen wird. Sie ist eine tragische Figur, die definitiv mein Mitgefühl geweckt hat. Für Unterhaltung gesorgt hat Ellens Mutter, für Romantik und auch einige Konflikte ist Patrick zuständig und das Zusammenspiel der Figuren ist äusserst gelungen erzählt, was mich für Moriartys Sprache eingenommen hat.

Meine Empfehlung:
Von mir gibt es eine herzliche Empfehlung für "Die Frau von früher", das bei mir für spannende und äusserst unterhaltsame Lesestunden gesorgt hat.

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Veröffentlicht am 30.04.2022

Klug, kurzweilig, packend und berührend

Das mangelnde Licht
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TW: Suizid, Selbstverletzendes Verhalten, Gewalt, Krieg, Vergewaltigung, Drogen

Inhalt:
Vier Freundinnen, vier Schicksale, vier Familien und vier Lebensentwürfe, welche von Krieg, Armut, Gewalt, Verlusten, ...

TW: Suizid, Selbstverletzendes Verhalten, Gewalt, Krieg, Vergewaltigung, Drogen

Inhalt:
Vier Freundinnen, vier Schicksale, vier Familien und vier Lebensentwürfe, welche von Krieg, Armut, Gewalt, Verlusten, aber auch ersten Schwärmereien und Liebschaften und innigen Momenten der Freundschaft geprägt werden. Die Prüfungen schweissen zusammen, entzweien aber auch und die gedanklich in der Vergangenheit lebende Keto, welche im Buch als Chronistin ihrer Schicksale und zeitglich der Geschichte Georgiens fungiert, hat alle Hände voll zu tun, die vier Freundinnen immer wieder zusammenzubringen.

Meine Meinung:
Gemeinsam mit der lieben Jamie vom Blog Librovore habe ich "Das mangelnde Licht" gelesen und weil wir beide "Das achte Leben (für Brilka)" sehr geliebt haben, waren wir zuversichtlich, dass uns auch dieses Buch von Nino Haratischwili gefallen würde. Und wir sind nicht enttäuscht worden und haben eine grossartige, bewegende Lektüre entdecken dürfen, welche uns einiges abverlangt, uns immer wieder tief berührt und erschüttert hat und uns auch ganz viele traumhaft schöne Szenen der Freundschaft und Liebe haben erleben lassen.
Ich bin froh, dass ich mich mit Jamie über das Gelesene austauschen konnte, so haben wir einzelne Unklarheiten in Bezug auf die historischen Ereignisse und Daten (Haratischwili spart aber auch sehr beim Verwenden von Jahreszahlen) ausmerzen und über die teilweise sehr bewegenden Szenen diskutieren können.
Was ich noch anmerken möchte, was aber nicht in meine Bewertung einfliessen wird: im Buch sind aussergewöhnlich viele Sätze mit fehlenden oder überzähligen Worten (vor allem Vorsilben) anzutreffen. Als wären einzelne Sätze mehrmals umgestellt und dann nicht mehr genau kontrolliert worden. Dies hat Jamie nicht so sehr gestört (obwohl es ihr auch aufgefallen ist), aber ich bin einige Male über solche Sätze gestolpert und habe noch nie so viele Fehler bei einem Buch der Frankfurter Verlagsverstalt bemerkt und möchte dies - vor allem in Hinblick auf die fast 50 Franken, die ich für dieses Buch bezahlt habe - hier doch noch erwähnt haben.

"Auch wir waren Kinder der Zeit, auch wir waren ihr versprochene Bräute. Sie hielt uns fest umklammert, und doch wollten wir ihr an jenem Tag entkommen, wollten sie überlisten und ihr einen Streich spielen, wir fühlten uns unbesiegbar, denn wir waren verliebt, und Verliebte dürfen das Recht für sich beanspruchen, von der Welt unberührt zu bleiben."
S. 485, Das mangelnde Licht - Nino Haratischwili

Aufbau der Handlung:
Mir ist der Einstieg in die Geschichte schwerer gefallen, als erwartet. Obwohl mich die Sprache von Anfang an verzaubert hat, musste ich mich zuerst ein wenig zurechtfinden. Wir befinden uns mitten im Jahr 1987 in Tbilissi und springen dann ziemlich oft zwischen dieser "Vergangenheit" und der Gegenwart in Brüssel (2019) hin und her, was es mir anfangs ein wenig erschwert hat, voll in die Szenen einzutauchen.
Keto erzählt nämlich in Rückblenden von ihrer Kindheit, von der Freundschaft zur furchtlosen Dina, welche das Leben der vier Freundinnen sowie zahlreiche Kriegshandlungen in der Region als Fotografin festhält und somit zum unfreiwilligen Mittelpunkt der Gruppe wird. Nene, deren männliche Verwandte zu den gefürchtetsten Kriminellen der Region gehören und die kluge und stille Ira, welche immer wieder die Stimme der Vernunft sein muss, ergänzen das Kleeblatt. Die tragischen Ereignisse - welche im Detail geschildert werden - die Zeit, verschiedene Lebensentscheide und auch Verluste haben die vier Freundinnen auseinandergetrieben und bei der Begegnung in Brüssel, bei der die Fotografien von Dina ausgestellt werden, blickt Keto auf ihr gemeinsames Leben zurück.
In einzelnen Erinnerungsfetzen und mit vielen Unterbrüchen, bei denen stets wieder ein neues Bild und dessen Geschichte in den Fokus rückt, erzählt Keto nach und nach von tragischen Verlusten, von Verrat und Liebe, von ihrem kurzen Glück bei ihrer Arbeit ausserhalb Georgiens und der turbulenten Geschichte dieses Landes, das immer wieder zum Spielball von Grossmächten geworden ist.
So sehr mich dieses Buch mitgenommen hat, so sehr hat es mich auch unterhalten und ich habe mich zeitweise gefühlt, als würde ich Keto, Dina, Nene und Ira kennen, als wäre ich Teil ihrer Gruppe, ihrer Freundschaft, ihrer Geschichte gewesen und als ich das Buch (mit Tränen in den Augen) zugeschlagen habe, hatte ich das Gefühl, mich gerade von liebgewonnenen Menschen verabschiedet zu haben. Schon jetzt weiss ich, dass ich mir für dieses Buch stets wünschen werde, was ich mir auch für "Das achte Leben (für Brilka)" schon so oft gewünscht habe: ich wünsche mir so sehr, dieses Buch noch einmal zum ersten Mal lesen zu können und lieben lernen zu dürfen.

Schreibstil:
Nino Haratischwilis Sprache ist einfach einzigartig. Sie schafft es, detaillierte Beschreibungen, historische Ereignisse und Personen, Schicksale, Spannung, Familiendrama, Romantik und wunderschöne Wortpoesie zu einem Gesamtkunstwerk zu verweben.
Die Ereignisse und Kriegsszenen sind erschreckend aktuell, die Ängste der Menschen sehen wir täglich in unseren Nachrichten und die geschilderte Gewalt ist keine leichte Kost. Und trotzdem ist dieses Buch wunderschön erzählt, manchmal sogar tröstend, aber immer sehr poetisch und auf eine ganz eigene Weise fesselnd, spannend und sehr, sehr klug und kurzweilig.

Meine Empfehlung:
"Das mangelnde Licht" hat mich in die tiefsten menschlichen Abgründe, an Kriegsschauplätze und in Drohenhöhlen geführt, es hat mir aber auch ganz viel Liebe und Freundschaft und einen weiteren spannenden und wichtigen Teil der Geschichte Georgiens erleben lassen. Es hat mir intensive und packende Lesestunden beschert und ist mir ans Herz gewachsen, weshalb ich es euch auch dringenst empfehle.

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Veröffentlicht am 08.04.2022

Wichtig, eindringlich, grandios erzählt

Die Wut, die bleibt
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TW: Suizid, sexualisierte und körperliche Gewalt, Essstörung, selbstverletzendes Verhalten

Inhalt:
Es wird ihr alles zu viel. Der Mental Load, der scheinbar in einer Parallelwelt lebende Ehemann, die ...

TW: Suizid, sexualisierte und körperliche Gewalt, Essstörung, selbstverletzendes Verhalten

Inhalt:
Es wird ihr alles zu viel. Der Mental Load, der scheinbar in einer Parallelwelt lebende Ehemann, die Kinder, welche stets verlangen, rufen, toben, die Pandemie, die Einsamkeit und der Satz "Haben wir kein Salz" am viel zu lauten, viel zu vollen Esstisch. Und Helene steht auf, geht auf den Balkon und springt wortlos in den Tod, verlässt ihre Familie, ihre beiden kleinen Söhne Maxi und Lucius ihre fünfzehnjährige Tochter Lola, ihre beste Freundin Helene.
Und diese Menschen versuchen, weiterzuleben. Sarah übernimmt allzu schnell und allzu leicht Helenes Rolle und merkt erst nach Wochen, was schief läuft, Lola kann vor Verachtung für die Frauen in ihrem Leben nicht mehr essen und schlafen und so sucht jede ihren Weg, mit der Trauer umzugehen oder ihr Ventil, um die Wut zu kanalisieren.

Der Beginn:
Natürlich war es klar, dass ich dieses Buch einfach lesen musste, nachdem mir "Dunkelgrün fast schwarz" so sehr und "Das Licht ist hier viel heller" immer noch sehr gut, wenn auch weniger gut gefallen hat. Angefixt durch die begeisterten Rezensionen, die lobenden Worte, die tiefgründigen, lauten, wütenden, rotzigen, packenden Schnipsel, welche Mareike Fallwickl bei Instagram bereits veröffentlicht hatte, habe ich mir das Buch vorbestellet und hielt es dann wenige Tage nach dem Erscheinungstermin in den Händen. Aber die ersten Seiten haben nicht das geweckt, was ich zu spüren erwartete. Einige schrieben von Tränen, von Schmerz, mir war dieser Anfang zu schlicht und offensichtlich. Bei mir dauerte das ein wenig länger, aber dann wurde ich um so heftiger gepackt.

Die Wut, die bleibt:
Irgendwann kam die Wut. Vielleicht, als Sarah plötzlich beginnt, bei Helene zu putzen, vielleicht, als Helenes Mann Johannes einmal mehr mitten im grössten Chaos das Haus verlässt und sich um nichts kümmert, auch nicht um seine Kinder, vielleicht, als diese kleinen Kinder nicht mehr aufhören, sich gegenseitig zu ärgern, vielleicht, als Lola und ihre beste Freundin erleben müssen, wie ihre Grenzen von Männern nicht respektiert werden.
Was wurde ich - einmal mehr - wütend auf eine ganze Generation von Frauen, welche sich ganz selbstverständlich in den Haushalt hineingefügt, ihrem Mann den Rücken freigehalten, ihre Kinder bespasst und dabei ihre eigenen Ziele und Träume aufgegeben haben. Ohne zu fordern, ohne für sich einzustehen, ohne ihren Kindern gute Vorbilder zu sein, ohne diesen eigentlich genau die Werte mitzugeben, welche sie ihnen mitgeben wollten, weil es schlicht nur zum Überleben gereicht hat. Und was wurde ich wütend auf diese Männer, welche - von ihren Müttern so erzogen (und diese unendliche Wut auf diese Mütter) - nur fordern, nur verlangen, nur Raum einnehmen, nur laut sind, stark, gewalttätig. Die es gewagt haben, unsere Gesellschaft nach ihren Rahmenbedingungen zu formen.

Lola:
Ich denke, dass wir alle uns in unterschiedlichen Figuren in diesem Buch wiedererkennen und ich selbst habe mich Helenes Tochter Lola so unendlich verbunden gefühlt. Habe mich gefragt, wann Sarah sich für ihre "Dienste" endlich bezahlen lässt, endlich einmal aufbegehrt, für sich einsteht, reinen Tisch macht. Habe mich - einmal mehr - gefragt, weshalb Frauen Kinder haben mit Männern, die schon als Partner nichts taugen, nur eine Last sind, zusätzliche Arbeit machen. Und die sich dann irgendwann zwischen vollen Windeln und dem unerledigten Abwasch fragen, wo sie eigentlich falsch abgebogen sind.
Und wisst ihr, was meine Wut noch grösser gemacht hat?
Lola begehrt auf. Sie gewinnt die Kontrolle zurück über ihren Körper, sie nimmt ab, mehr und mehr. Ungesund viel, verletzt sich selber, leidet und entscheidet sich dann, zurückzuschlagen und wieder zuzunehmen und schliesslich auf die Ansprüche an den weiblichen Körper, die Rollenbilder und die Bewertungen zu scheissen. Und dies alles zeigt doch um so deutlicher, wie sehr wir alle in diesem Patriarchat unterdrückt sind, weil es eben genau dann, wenn wir entscheiden, sämtliche Bewertungen, alle diese Verletzungen und Einschränkungen nicht mehr zu akzeptieren, eben doch wieder um genau diese Einschränkungen geht und um die Menschen, welche dafür verantwortlich sind. Lola nimmt also nicht zu, weil sie selber einfach wieder so richtig Lust auf geile Gerichte hat, sie nimmt zu, um der Gesellschaft zu zeigen, dass es in Ordnung ist, zuzunehmen. Sie trainiert nicht, weil sie Freude am Sport gewonnen hat, sondern um ihre Wut und Angst zu kanalisieren und im Notfall zurückschlagen zu können.
Und so sind alle Frauenfiguren in diesem Buch durch eine gemeinsame traurige Wahrheit verbunden. Es ist die selbe traurige Wahrheit, welche uns alle vereint: wir werden oft erst aktiv und laut und wütend, wenn uns bereits etwas angetan worden ist, das unsere Welt erschüttert, unsere Grenzen, Körper und Seelen verletzt hat.

Der Humor:
Überrascht hat mich, wie humorvoll dieses Buch neben aller Ernsthaftigkeit ist. Es ist ein schwarzer aber mitten aus dem Leben gegriffener Humor. Ein Humor, der schallend lachen lässt und dann ein wenig Bitterkeit hinterlässt.
Vor allem diese eine Szene hat mich bestens unterhalten: Sarah betritt Helenes Wohnung und trifft eine laute Diskussion an, ein Kind, das ihr entgegenrennt und dabei einmal der Länge nach hinfällt und ein zweites Kind, das in der auf den Sturz folgenden Stille mitten ins Wohnzimmer kotzt, unmittelbar, bevor der Vater das Haus verlässt, um arbeiten zu gehen. Was habe ich gelacht, kannte ich doch genau solche und ähnliche Szenen von meiner jahrelangen Arbeit als Nanny. Der Unterschied zu einer Mutter oder einer besten Freundin genau dieser kürzlich vom Balkon in den Tod gesprungenen Mutter? Ich bin für meine Arbeit bezahlt worden, wenn auch nicht immer angemessen... (und jetzt seht ihr, wie die Bitterkeit ins Spiel kommt).

Die Sprache:
Ja, die Männerfiguren in diesem Buch sind und bleiben eher blass, unbeholfen und so gar nicht empathisch, ja, die (erwachsenen) Frauen im Roman sind ein wenig gar selber verantwortlich für die scheinbar ausweglose Situation, in die sie sich in ihrer Beziehung manövriert haben, aber dies spielt eine untergeordnete Rolle, vielmehr werden nämlich Lola und ihre Freundinnen ins Zentrum gestellt. Junge Frauen, welche sich nichts vorschreiben lassen wollen, welche zurückschlagen, sich wehren, ihre weiblichen Vorbilder hinterfragen und am Ende zusammenstehen. Und sich - auch wenn sie rational gesehen einen falschen Weg wählen, um ihre Wut auszudrücken - unterstützen anfeuern und damit sich selber und der älteren Generation Steine aus dem Weg räumen. Wortgewaltig reisst Fallwickl Fassaden ein, um Missstände aufzuzeigen und baut Brücken, um Frauen einander die Hand reichen zu lassen.
Wie Sarah immer noch mit ihrer besten Freundin Helene spricht, sich an gemeinsame Erlebnisse erinnert und Kraft aus diesen "Unterhaltungen" zieht, hat mich tief berührt. Die Lücke, welche Helene in Sarahs und Lolas Leben hinterlassen hat, ist permanent spürbar. Dieser Verlust, diese Liebe und dieser Schmerz sowie der Umgang und auch das Hadern mit diesem Verlust sind äusserst realistisch und bewegend beschrieben und in diesen Szenen wird fast schon zart erzählt, während andere Szenen brutal sind, roh, ungezähmt und messerscharf.

Meine Empfehlung:
Lest dieses Buch, sprecht darüber, sprecht über euch und eure Belastungen, sprecht über Ängste, Sorgen, Bedürfnisse, über angemessene Bezahlung und Freizeit und hört endlich auf, alle Probleme dieser Welt alleine lösen zu wollen, weil ihr anderen nicht zugestehen wollt, ihren Teil beitragen zu müssen. Aber noch einmal und vor allem: lest dieses Buch.

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