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Veröffentlicht am 28.01.2017

Hinter der schillernden Fassade tun sich Abgründe auf

Bourbon Kings
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Charlemont, Kentucky: Das Kentucky-Derby steht vor der Tür, und auf dem Easterly-Anwesen bereitet der Bradford-Clan den alljährlichen Derby-Brunch vor. Den generösen Lebensstil und den Platz an der Spitze ...

Charlemont, Kentucky: Das Kentucky-Derby steht vor der Tür, und auf dem Easterly-Anwesen bereitet der Bradford-Clan den alljährlichen Derby-Brunch vor. Den generösen Lebensstil und den Platz an der Spitze der Kentucky-High-Society verdanken die Bradfords / Baldwines dem traditionsreichen Familienunternehmen: sie betreiben seit Generationen eine Bourbon-Destillerie, die astronomische Gewinne abwirft.
Doch unter der aalglatten Oberfläche brodeln Hass, Betrug, Verrat und Intrigen...

Müsste ich dieses Buch mit einem Satz beschreiben, könnte ich mich nicht entscheiden, ob ich "Das ist Game of Thrones für Leute, die keine Drachen mögen." oder doch lieber "Wie Dallas mit einem kleinen Hauch von Fackeln im Sturm." wählen würde, denn es trifft beides zu.
Es gilt, ein geschickt gesponnenes Netz aus Verrat und Intrigen, sowohl innerhalb der Familie als auch innerhalb der Firma, zu entwirren. Oft sind die Dinge nicht so, wie sie scheinen - als Leser muss man jede neue Nuance mit Vorsicht genießen, denn manchmal kann man erst hundert Seiten später beurteilen, ob es sich dabei wirklich um eine Tatsache, oder vielleicht doch um einen geschickten Winkelzug mit falschen Informationen gehandelt hat. In diesem Punkt haben wir also schon mal beides: Dallas und Game of Thrones - der Hauch Fackeln im Sturm ergibt sich aus dem atmosphärischen Südstaaten-Setting. Auf Easterly tummeln sich Southern Belles mit ihren Mint Juleps an einem der Pools, während der zigarrenrauchende Patriarch William Baldwine bei einem Bourbon on the Rocks die Familiengeschicke lenkt.

Im ersten Viertel des Buches habe ich mich ein wenig schwer getan, denn wie es sich für eine solche Saga über eine Familiendynastie gehört, gibt es unheimlich viel Personal, und die Verbindungen zwischen den Figuren sind sehr komplex. Mehr als einmal habe ich mir ein Personenregister gewünscht, um einfach mal kurz jemanden nachschlagen zu können. Aber nach etwa hundert Seiten war ich völlig abgetaucht in die Irrungen und Wirrungen rund um den Bradford-Clan, es ging also auch ohne. Falls man sich in den ersten Kapiteln ein wenig überfordert fühlt: Das Durchhalten lohnt sich definitiv!

Die von J. R. Ward erdachten Personen machten für mich einen Großteil der Unterhaltung aus, sie sind echte Typen, aber ohne dabei stereotyp zu wirken. Die Perspektiven wechseln oft, was zum einen Abwechslungsreichtum garantiert, und zum anderen den Nebeneffekt hat, dass der Eindruck, den man von einer Person gewonnen hat, sich von einem Kapitel zum nächsten radikal ändern kann. Dabei treten manche Figuren mehr in den Vordergrund als andere, was bei mir großes Interesse an den Personen, die sich bisher im Hintergrund hielten und die damit noch kaum einzuschätzen sind, geweckt hat.
Gerade zum großen Finale hin entwickelt sich die Spannungskurve rasant nach oben, was hauptsächlich an der Dynamik aus den zwischenmenschlichen Beziehungen liegt.

Bourbon Kings ist der Auftaktband zu einer Reihe, und ist nicht in sich abgeschlossen. Im Laufe dieses ersten Bandes wurden schon viele Geheimnisse aufgedeckt und offene Fragen beantwortet, aber das Buch endet (natürlich!) mit einem fiesen Cliffhanger, der bei mir auch schon die Vorfreude auf den nächsten Band (Bourbon Sins soll am 28.06.2017 und Bourbon Lies am 24.11.2017 erscheinen) extrem angefacht hat.
Leider ist noch nicht bekannt, ob es bei einer Trilogie bleiben wird, oder ob noch weitere Folgebände zu erwarten sind. Nach dem ersten Eindruck und wenn die Autorin diese Qualität halten kann, dürfte es für mich gerne mehr als drei Bücher über die Bradfords geben.

Hier ist wirklich alles drin, was man sich von einem spannenden Buch wünscht: Sex & Crime in rasantem Tempo, toll geschrieben - eine Reihe, an der ich todsicher dranbleiben werde!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Gefühl
  • Charaktere
  • Lesespass
  • Handlung
Veröffentlicht am 25.12.2016

Neuer Filz im Isar-Athen

Wintergewitter
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München, 1920: Kommissär Reitmeyer ermittelt wieder! In einer Gastwirtschaft wird am Fuß der Kellertreppe die Leiche einer jungen Frau gefunden - auf den ersten Blick wirkt ihr Tod wie ein Unfall: eine ...

München, 1920: Kommissär Reitmeyer ermittelt wieder! In einer Gastwirtschaft wird am Fuß der Kellertreppe die Leiche einer jungen Frau gefunden - auf den ersten Blick wirkt ihr Tod wie ein Unfall: eine angetrunkene Frau erwischt auf der Suche nach der Toilette die falsche Tür und stürzt unglücklich. Doch auch dieses Mal wirft der zweite Blick des Gerichtsmediziners Fragen auf, denn Cilly Ortlieb starb an einer Überdosis Heroin. War das Filmsternchen in Spe drogensüchtig? Oder war sie jemandem im Weg?

Ich habe bereits Reitmeyers ersten Fall Der eiserne Sommer förmlich inhaliert. Und auch die Fortsetzung hat mich sofort in ihren Bann gezogen, es war sehr schön, so vielen der vertrauten Figuren wieder zu begegnen, auch wenn der große Krieg nicht ganz spurlos an ihnen vorübergegangen ist. Besonders der Protagonist Sebastian Reitmeyer hatte mein Herz bereits im Sturm erobert - seiner trockenen, pragmatischen Art mit den Widrigkeiten seines Berufsalltages umzugehen, kann man einfach nicht widerstehen. Auch ihn hat der Fronteinsatz verändert, er ist ein Kriegszitterer - das was ihm zu schaffen macht, würde man heute eine posttraumatische Belastungsstörung nennen. Da er nicht als Krüppel dastehen möchte, versucht er, seine Erkrankung (die damals nicht als solche wahrgenommen wurde, schließlich hat er überlebt und ist im Gegensatz zu vielen anderen sogar in einem Stück nach Hause gekommen) vor seiner Umwelt zu verbergen.
Rattler ist nach all den Jahren immer noch Polizeischüler, da sein Fronteinsatz und die anschließende Rekonvaleszenz seine Ausbildung unterbrochen haben. Er hat aufgrund von Gasverletzungen Probleme mit der Lunge, aber ansonsten ist er noch ganz der Alte und strapaziert die Nerven seiner Kollegen gerne mit Vorträgen über neue Erkenntnisse und Verfahren der Kriminaltechnik, die er nachwievor aus unzähligen Fachartikeln kennt. Steiger hat einen Arm verloren, und Brunner musste nicht an die Front, weil er ja zuvor schon beschädigt war. Alles in allem ist es schon eine ziemlich angeschlagene Truppe rund um den Kommissär, aber sie stürzen sich mit gewohntem Schwung in ihren neuen Fall, obwohl sie schon wieder in Richtungen ermitteln, die ihren Vorgesetzten wenig zusagen.

Durfte man im letzten Buch in die späte Vorkriegszeit eintauchen, als die Welt noch in Ordnung war und schneidige Offiziere sich in Glanz und Gloria sonnten, entführt Angelika Felenda ihre Leser nun in die unruhigen Nachkriegszeiten. Die Bevölkerung leidet noch immer unter den Rationierungen, für die Bezugsscheine gibt es nur eine Reihe von Ersatzlebensmitteln und auch Brennmaterial ist mehr als knapp. Die Inflation hat bereits eingesetzt, und Reitmeyers Gehalt kann mit den steigenden Preisen nicht mithalten. Freikorpstruppen treiben unter den Augen der Politiker und Behörden ihr Unwesen, Fememorde und Waffenschiebereien sind an der Tagesordnung. Der ideale Nährboden für Hitlers Hassparolen, die er zu dieser Zeit in München verbreitet und der so seine ersten glühenden Anhänger verzeichnen kann.
Angelika Felenda zeichnet den historischen Hintergrund für Reitmeyers Ermittlungen so gekonnt, dass man sehr leicht in diese politisch und wirtschaftlich chaotische Zeit abtauchen kann, ohne die Krimihandlung aus den Augen zu verlieren.

Besonders gern mochte ich wieder die lebendigen Dialoge, die mir die Figuren besonders nahebrachten. Die allgemeine Lage im Jahr 1920 war wirklich nicht rosig, und ohne eine gehörige Portion Galgenhumor wohl kaum zu ertragen - was sich auch in den Unterhaltungen widerspiegelt und mir beim Lesen regelmäßig ein Grinsen entlockt hat.

Definitiv eine gelungene Fortsetzung voller interessanter Historie mit einem verwickelten Kriminalfall. Hoffentlich bekomme ich bald Reitmeyers dritten Fall zu lesen!

Veröffentlicht am 07.12.2016

Das Ende einer Ära

Der Sturz des Doppeladlers
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Wien, November 1916: Der große Krieg ist bereits zwei Jahre alt, aber immer noch hoffen die Österreicher auf den Sieg.
Kindermädchen Berta, aus einfachsten Verhältnissen, trauert um den verstorbenen Kaiser, ...

Wien, November 1916: Der große Krieg ist bereits zwei Jahre alt, aber immer noch hoffen die Österreicher auf den Sieg.
Kindermädchen Berta, aus einfachsten Verhältnissen, trauert um den verstorbenen Kaiser, als sie die Nachricht erhält, dass ihr Verlobter gefallen ist. Auch Ferdinand von Webern, Sektionschef im k. und k. Ministerium für Äußeres trauert um seinen einzigen Sohn, ebenfalls gefallen. Oberleutnant Julius Holzer kämpft unter schwersten Bedingungen an der Dolomitenfront gegen die italienischen Alpinos - sein Cousin Andrea, der im Trentino geboren ist, steht auf der gegnerischen Seite. Und dann gibt es noch Familie Belohlavek: der despotische Vater August dient als Rittmeister, und kämpft stets gegen Vorurteile wegen seines exotischen Familiennamens. Seine Frau Ernestine hält zuhause in Wien die Stellung, doch Sophie, ihre Älteste, hat sich - und damit auch ihre gutbürgerliche Familie - in Schwierigkeiten gebracht, die den Ruf der Belohlaveks ruinieren werden.

Der erste Weltkrieg ist definitiv ein historisch hochinteressantes Thema, und in den letzten Jahren sind ja auch diverse Romane erschienen, die sich mit eben dieser Zeit auseinandersetzen. Birgit Mosser weicht mit ihrem Debütroman von ausgetretenen Pfaden ab und thematisiert einige Aspekte, die dem Leser ansonsten eher selten begegnen:
Die Handlung setzt nicht, wie in den meisten anderen Romanen, vor Kriegsbeginn ein, sondern erst zu einem Zeitpunkt, als die erste Euphorie längst verflogen ist. Österreichs Bevölkerung kämpft bereits mit Rationierungen, trauert um Gefallene, oder bangt um Vermisste und Kriegsgefangene. Als Leser ist man also gleich mittendrin, weil die Hintergründe, die sowieso schon in diversen anderen Romanen beleuchtet wurden, vorausgesetzt werden.
Die Handlungsstränge um die unterschiedlichen Protagonisten gewähren einen Einblick in die Lage verschiedenster Bevölkerungsschichten. Angefangen bei Berta, die in Diensten steht und fast ihr gesamtes Einkommen an die verwitwete Mutter schickt, damit die die jüngeren Geschwister durchbringen kann, über die gutsituierten Holzers und Belohlaveks, bis zu den adligen von Weberns. Hierbei fand ich besonders gelungen, dass es sowohl Kapitel gab, die sich mit dem Kriegsgeschehen an der Front oder den Bedingungen in Gefangenenlagern befassten, als auch Abschnitte in denen die politischen Hintergründe oder eben auch die Situation der Angehörigen der Frontsoldaten beleuchtet werden.
Und last but not least war ich begeistert, endlich mal einen Roman über den ersten Weltkrieg zu lesen, der aus der Perspektive Österreichs geschrieben wurde. Der letzte Funken am europäischen Pulverfass war nun mal das Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand, darum fand ich hier das Setting sehr interessant - bisher habe ich nur Romane gelesen, die aus deutscher oder englischer Sicht geschrieben wurden und die sich infolgedessen zum größten Teil mit dem Stellungskrieg in Belgien und Frankreich befassten. Dass auch zwischen Österreich und Italien eine Frontlinie mitten durchs Hochgebirge verlief, ist dagegen hierzulande weniger bekannt.

Man merkt einerseits deutlich, dass die Autorin, die auch schon Sachbücher geschrieben hat, ihr fundiertes Wissen über das Ende der k. und k. Monarchie in diesen historischen Roman eingebracht hat, aber andererseits ist ihr auch eine spannende Familiensaga mit lebendigen Figuren und ihren kleinen Alltagsproblemen und -katastrophen gelungen - als Leser bekommt man also beides, gut recherchierte Historie und eine fesselnde Geschichte.

Mein einziger Kritikpunkt (der allerdings nicht in die Bewertung eingeflossen ist) ist das dröge Cover, das mich überhaupt nicht anspricht. Die Farbkomposition ist leider gar nicht gelungen, und die abgebildete Dame bringe ich auch nicht in Einklang mit einer der weiblichen Protagonistinnen. Von daher wirkt es auf mich etwas lieblos gestaltet, auch wenn es wenigstens immerhin der titelgebende Doppeladler, wenn auch recht unauffällig und Ton-in-Ton mit dem Hintergrund, auf das Cover geschafft hat. Zum Glück bin ich über die Leseprobe gestolpert, ansonsten wäre mir "Der Sturz des Doppeladlers" wohl entgangen.

Veröffentlicht am 15.11.2016

Tina vs. Titan

Die Assistentinnen
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Die 30-jährige Tina Fontana arbeitet seit sechs Jahren als persönliche Assistentin des Medienmoguls Robert Barlow. Obwohl sie einen College-Abschluss hat, besteht ihr Arbeitsalltag hauptsächlich daraus, ...

Die 30-jährige Tina Fontana arbeitet seit sechs Jahren als persönliche Assistentin des Medienmoguls Robert Barlow. Obwohl sie einen College-Abschluss hat, besteht ihr Arbeitsalltag hauptsächlich daraus, Kaffee zu kochen, Drinks zu servieren und Roberts exzentrische Wünsche vorauszuahnen und zu erfüllen. Von ihrem mickrigen Gehalt kann sie sich im teuren New York gerade so eine winzige Bruchbude und ein Netflix-Abo leisten, aber ihren Studienkredit trägt sie schon seit Jahren nur tröpfchenweise ab.
Eines Tages erhält sie aufgrund einer fehlerhaften Spesenabrechnung einen Scheck über beinahe 20.000 Dollar. Peanuts für Robert, aber für Tina könnte dieser Betrag ein Befreiungsschlag sein, denn sie könnte auf einen Streich zumindest schuldenfrei werden. Bisher hat Tina immer nach den Regeln gespielt, und wohin hat sie das gebracht? Die Versuchung, das Geld einfach zu behalten ist groß - zu groß...

Camille Perri ist eine junge amerikanische Autorin, die mit ihrem Debütroman "Die Assistentinnen" auf Anhieb einen Volltreffer gelandet hat. Obwohl das Buch leicht und locker geschrieben ist, und Ich-Erzählerin Tina Fontana mit ihrem selbstironischen Humor und ihren unkonventionellen Situationsanalysen den Leser verzaubert, hält man hier keinen seichten ChickLit-Titel in den Händen.
Es wird ein ernstes Thema aufs Tapet gebracht: Heutzutage kann ein junger Mensch oft nicht mehr das erreichen, was der Elterngeneration noch gelungen ist. Viele Stellen, die früher von Mitarbeitern mit einer soliden Berufsausbildung besetzt wurden, setzen heute selbstverständlich ein Studium voraus. Trotzdem ist der Verdienst im Vergleich zu früher gesunken. Der Spagat zwischen beruflichem Erfolg einerseits, Erwerb von Wohneigentum und Familiengründung andererseits, ist für einen großen Teil der jungen Berufstätigen einfach nicht mehr zu realisieren. In den USA kommen obendrein noch die horrenden Kosten für ein Studium dazu, Kredite, an denen die Absolventen oft ein Leben lang abbezahlen.
Zuerst fand ich das Thema des Romans sehr amerikanisch, denn bei uns in Deutschland gibt es ein Studium im Vergleich ja praktisch zum "Schnäppchenpreis".
Im Rückblick finde ich allerdings, dass das Thema auch hier brisant ist, man spricht nicht umsonst von der "Generation Praktikum" und sinkende Reallöhne kann man schlicht nicht wegdiskutieren. Wer auf Bafög angewiesen ist, weil die Eltern nicht zu den Besser-Betuchten gehören, hat auch bei uns schon als Berufsanfänger ein Darlehen am Hals, das erst einmal abbezahlt sein will.
Hier wird also ein ernstes Thema mit einem Augenzwinkern in einen unterhaltsamen Roman gepackt - eine beachtliche Leistung, wie ich finde.

Tina Fontana war für mich eine absolut überzeugende Figur: bodenständig, sympathisch und erfrischend un-tussihaft. Ihre Probleme sind echte, existenzielle Probleme, sie nervt den Leser nicht mit Luxusproblemchen à la: "Ich hab für ein tolles Date nichts anzuziehen" oder "Ich verdiene so wenig, dass ich mir nicht mal Jimmy Choos leisten kann!". Bei Tina heißt es eher: "Zahle ich jetzt die Stromrechnung oder doch lieber die Miete?" Ihr innerer Konflikt zwischen ihrer Loyalität zu ihrem Chef Robert und dem Wunsch, ihre finanziell angespannte Lage endlich in den Griff zu bekommen, war für mich jederzeit nachvollziehbar.
Auch die Nebenfiguren, allen voran Emily, Wendi und Margie, ebenso wie Robert Barlow wirkten auf mich sehr lebensecht und sie verleihen dem Roman, obwohl aus Tinas Ich-Perspektive verfasst, zusätzliche Facetten und Standpunkte und machen eine ausgewogene Geschichte daraus.

Ein toller Roman, der den Leser trotz des ernsten Grundthemas nicht deprimiert, sondern zum Lachen bringt - notfalls eben mit einer gehörigen Portion Galgenhumor!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Charaktere
  • Gefühl
  • Lesespass
  • Erzählstil
Veröffentlicht am 06.11.2016

Tiefgründiger Krimi vor der Kulisse des zweiten Weltkriegs

Der Angstmann
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Dresden, 1944: Kriminalinspektor Max Heller wird zu einem grausigen Tatort gerufen, eine junge Krankenschwester wurde auf brutale Weise ermordet. Die Leiche wurde von zwei Jungen gefunden, die Heller zum ...

Dresden, 1944: Kriminalinspektor Max Heller wird zu einem grausigen Tatort gerufen, eine junge Krankenschwester wurde auf brutale Weise ermordet. Die Leiche wurde von zwei Jungen gefunden, die Heller zum ersten Mal erzählen, der "Angstmann" ginge um.
Heller kämpft gegen widrige Umstände: Fast alle seine Kollegen wurden eingezogen, es fehlt an jeglicher Ausrüstung und obendrein am Interesse seines Vorgesetzten Klepp - ein ehemaliger Metzger, der sich bei der SS verdient gemacht hat und mit einem leitenden Posten bei der Polizei belohnt wurde - in diesem Fall ordentlich zu ermitteln.
Auch die persönlichen Umstände sind in diesen letzten Kriegsmonaten schwierig, Heller und seine Frau Karin bekommen für ihre Marken kaum je genug zu essen, die beiden Söhne sind an der Front und die letzten Lebenszeichen liegen Monate zurück.
Trotzdem (oder gerade deswegen?) verbeißt Heller sich in diesen Fall, schon bevor die zweite Frau ermordet wird...

Frank Goldammer hat mit "Der Angstmann" einen beeindruckenden Roman vorgelegt. Zum einen bekommt man hier eine sehr spannende Krimihandlung, bei der man als Leser wirklich lange im Dunkeln tappt, und zum anderen auch noch einen interessanten Einblick in die letzten Monate des zweiten Weltkrieges: Hunger, Kälte, Mangel an den grundlegendsten Dingen, lange Bombennächte im Keller.
Obwohl ich den Krimianteil wirklich für raffiniert geplottet und gut durchdacht halte, hat mich der zweite Aspekt der Handlung noch weit mehr gefesselt. Der Autor hat die düstere und gedrückte Stimmung im verdunkelten Dresden sehr gut eingefangen, sehr bildhaft berichtet er über die schwerste Bombardierung im Februar '45, bei der die ganze Stadt in Schutt und Asche gelegt wurde.

Da sich die Ermittlungen über einen langen Zeitraum erstrecken, wird im zweiten Teil des Romans die Besatzung durch die russische Armee thematisiert - immer noch herrscht riesiger Mangel an Nahrungsmitteln, Kleidung und vor allem an Wohnraum, weil im ausgebombten Dresden kaum noch ein Stein auf dem anderen steht und die Stadt zudem von Flüchtlingen förmlich überrollt wird. Hier findet man durchaus auch Bezüge zum Hier und Jetzt - denn die damaligen Umstände sind mit den heutigen kaum vergleichbar, schließlich hungerten die Dresdner schon monatelang und viele waren selbst obdachlos.
Dazu kam dann noch die tägliche Angst vor den Rotarmisten, die mit Nazis oder Mitläufern nicht gerade zimperlich umgingen.

Der Protagonist Max Heller ist sicher kein "Superbulle" - er dürfte etwas über 50 sein, hat selbst im ersten Weltkrieg gekämpft und wurde auch verletzt. Seine Posten bei der Kripo hat er trotz fehlendem Parteibuch noch - vermutlich weil er als Veteran und Kriegsversehrter ein gewisses Ansehen genießt. Aber die SS-Männer und NSDAP-Mitglieder bei der Polizei begegnen ihm mit Misstrauen und Geringschätzung, weil er seine politischen Ansichten nicht preisgibt und generell versucht, einfach nicht negativ aufzufallen. Wenn andere sich ihm gegenüber kritisch über das Nazi-Regime oder die Kriegsfortschritte äußern, bleibt er stets vorsichtig - nur mit seiner Frau Karin redet er offen.
Im zweiten Teil steht der russische Offizier Saizev an Hellers Seite - weniger als Unterstützung bei den Ermittlungen, sondern eher um den potenziellen Nazi im Auge zu behalten. Durch ihn kommt auch eine neue Perspektive in das Buch: die Sicht von außen auf die Nazi-Deutschen. Saizev hat seine ganze Familie verloren, seine Heimatstadt wurde von der Wehrmacht ausradiert und auf seinem Marsch nach Westen hat er in den befreiten KZ unvorstellbare Gräuel gesehen. Er hasst die Deutschen, und seit er an der Entnazifizierung beteiligt ist, kommt auch noch ein guter Anteil Verachtung dazu, weil plötzlich niemand mehr dazugehört haben will.
Durch die Einführung dieser Figur erhält der Roman den letzten Schliff und liefert geschichtlich gesehen ein recht ausgewogenes Bild, weil die verschiedenen Perspektiven für sich stehen und der Autor für keine der Seiten Partei ergreift - er stellt weder Heller als komplett unschuldig dar, noch werden alle über einen Kamm geschoren.

"Der Angstmann" wird als "Der erste Fall für Kriminalinspektor Max Heller" beworben, man darf also auf eine baldige Fortsetzung hoffen. Ich freue mich schon sehr darauf, da es mich sehr interessiert, wie es mit Heller nun nach Kriegsende weitergehen wird.