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Veröffentlicht am 18.10.2019

Ein Mörder geht um im viktorianischen London....

Hurenmord - Die Rose von Whitechapel
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Der zweite Teil der Trilogie von Tabea Koenig - "Hurenmord - Die Rose von Whitechapel" steht seinem Vorgänger, Band 1 "Hurentochter - Die Distel von Glasgow" in nichts nach, ist jedoch anders konstruiert ...

Der zweite Teil der Trilogie von Tabea Koenig - "Hurenmord - Die Rose von Whitechapel" steht seinem Vorgänger, Band 1 "Hurentochter - Die Distel von Glasgow" in nichts nach, ist jedoch anders konstruiert als der erste Band. Hier agieren die beiden HauptprotagonistInnen des Vorbands (Hurentochter) Emily (nun Countess of Suthness) und ihr Ehemann Liam nur in Nebenrollen; die Hauptrolle wird in diesem teils auf wahren Fakten um den nie gefassten Mörder "Jack the Ripper" (London, 1888) die einstige Weggefährtin Christine Gillard einnehmen, die wir hier besser kennenlernen.

Einst in Glasgow einzige Überlebende der "Kentwood"-Affäre und Prostituierte, traf sie ihr Lebensglück in Form eines älteren Herrn, Henry, der ihr nicht nur half, das Frauenhaus "Renfield Eden" in London aufzubauen, sondern sie auch ehelichte. Wir treffen sie hier kurz nach dem Tod Henrys an und Christine trauert noch sehr um ihren Mann, den sie aufrichtig liebte, als grauenhafte Morde geschehen: Huren, die kurz oder zeitweise im Renfield Eden wohnten, werden bestialisch umgebracht und Inspektor Pike, einstmals auch in den Kentwood-Prozess verwickelt und seither befördert, da er aktiv helfen konnte, den Fall aufzuklären, trifft bei den Ermittlungen auf Christine: Auch er hat den Verlust von Frau und Familie zu verkraften und die Autorin spinnt ein dichter werdendes Liebesverhältnis um die beiden, das die Morde und deren Beschreibung etwas zu konterkarieren vermag.

Als eine Vertraute von Christine vermisst wird und sämtliche Morde auf das Renfield Eden hinweisen, fällt ein Verdacht sogar auf Christine selbst: Was hat Rosalie, die Vertraute, gewusst und weshalb ist sie verschwunden?
In welchen Reihen, welchem Milieu ist der stets gut gekleidete Gentleman mit Zylinder, der jedoch niemandem bekannt ist, zu suchen? Wird Inspektor Pike ihn finden?

Unterhaltsam und sehr spannend weiß Tabea Koenig zu erzählen; ihren Figuren gibt sie stets klare Konturen und Christine wie auch Inspektor Pike sind Sympathieträger. Der in der viktorianischen Zeit angesiedelte - ich würde fast sagen historische Kriminalroman - transportiert auch neben der spannenden Handlung um die Morde des "Jack the Ripper" viele Informationen, was mir sehr gefallen hat, da der Anspruch der Autorin über die eigentliche Handlung hinausgeht, wenn sie den Leser etwa über Frauenrechte aus dieser Zeit (dürftig bis Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem Aufmarsch der Sufragetten) oder über die unterschiedlichen Erbrechte in Schottland und England informiert; die Lebensverhältnisse in Armut und Elend - wie in Reichtum und Dekadenz bildhaft gegenüberzustellen weiß oder andere historisch Ereignisse wie der Bau des Eiffelturms oder der Tower Bridge und die Weltausstellung in Paris ebenfalls Erwähnung findet. Dies bettet den Roman in eine Zeit ein, die die Morde des Rippers sprichwörtlich nebelverhangen werden lassen.

Tabea Koenig lässt im Plot statt Emily, die kurz vor ihrer Niederkunft im fernen Schottland ist, Liam nach London fahren, der als Ex-Boxer der gemeinsamen Freundin Christine zu Hilfe eilt. So fehlt es nicht an spannenden Wendungen, die sehr unterhaltsam, wenn auch fiktiv sind und durch eine List (und mit reichlich Mut) soll es Christine letztendlich gelingen, den Mörder zu überführen.

Ein Unterhaltungsroman mit Tendenz zum Genre "historischer Kriminalroman", dem wahre historische Fakten um "Jack the Ripper" zugrunde liegen und wiederum durch die spannende und authentische Erzählweise der Autorin punkten kann. Ich empfehle ihn sehr gerne weiter und vergebe 4,5 *
Auf den dritten Band, der Anfang Dezember 2019 erscheinen wird, bin ich natürlich schon mehr als gespannt!

Veröffentlicht am 25.09.2019

Wenn Löwen erwachen - zweiter Fall für Jackson Lamb

Dead Lions
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Aktuell ist der zweite Band der Agententhriller-Reihe des englischen Autors Mick Herron erschienen; "Dead Lions" (UT in der deutschen Übersetzung) 'Ein Fall für Jackson Lamb') erschien (HC, gebunden) im ...

Aktuell ist der zweite Band der Agententhriller-Reihe des englischen Autors Mick Herron erschienen; "Dead Lions" (UT in der deutschen Übersetzung) 'Ein Fall für Jackson Lamb') erschien (HC, gebunden) im Diogenes-Verlag, 2019.

Dieser "Fall", in dem es um Schläfer aus Zeiten des Kalten Krieges in Großbritannien geht und um einen russischen Ölmagnaten, der ein Treffen mit Spider Webb, seinerzeit Kollege von River Cartwright beim MI5 (Secret Service) anberaumt und zwei seiner russischen "Gorillas" vorschickt, um die Lage zu erkunden: Das Treffen soll in "The Needle" stattfinden, ein stattliches imposantes Hochhaus im Zentrum von London....
Um die Lage seinerseits auszukundschaften, beauftragt Spider Webb zwei Mitarbeiter des "Slough House", Louisa Gay und Min Harper, die Machenschaften von Piotr und Kyril genau zu beobachten.

Jackson Lamb, dem Chef der Abservierten, erscheint es merkwürdig, dass ein ehemaliger Wegbegleiter von ihm, Dickie Bow , der wie er damals kurz vor dem Mauerfall in Berlin eingesetzt, durch einen Schlaganfall in einem Bus zu Tode kam: Wurde da nachgeholfen, wenn auch alles wie ein unspektakulärer Tod aussah? Es wird bereits zu Beginn ersichtlich, dass hier keiner dem anderen traut, manch einer sich eine weitere Karrierestufe hochangeln möchte (Spider Webb) und andere ihren Buckel hinhalten sollten, falls etwas schiefgeht: Am besten eignen sich hier natürlich die Mitarbeiter im Slough House, dem abseits gelegenen heruntergekommenen Stützpunkt der lahmen Gäule, die sich um ihren Chef Jackson Lamb scharen:

Wie im ersten Band in deutscher Übersetzung lernt der Leser die Agenten im Slough House kennen; allen voran Jackson Lamb, der selbst so heruntergekommen und recht fettleibig aussieht wie das Haus, dessen Verstand jedoch jedem Vergleich zu den Kollegen im Regent's Park standhält (auch den von Diana Tearner, die noch etwas gutzumachen hat bei ihm) und manche gar überflügelt. Die altbekannte Truppe, bereits im ersten Band vorgestellt, wie River Cartwright, Louis Guy und Min Harper, Catherine Standish wie auch der Computerexperte Roderick Ho erscheinen allesamt wieder auf der Agenten-Bildfläche; wobei Marcus Longridge und Shirley Dander als neue "Slow Horses" dazugekommen sind. Sie alle haben es auf die eine oder andere Weise "vermasselt" und wollen gerne wieder zurück in den Regent's Park - allein bei Jackson Lamb bin ich mir da nicht sicher; gibt ihm die Außenstelle der lahmen Gäule auch mehr Spielraum als zuvor, was seinen teils unkonventionellen Ermittlungsmethoden durchaus zugute kommt.

So glaubt er auch nicht an den natürlichen Tod des früheren Agenten - und er und seine Mitarbeiter heften sich auf diverse Fährten Verdächtiger; Cartwright begibt sich undercover in die Cotswolds und erkennt, dass in dem beschaulichen Dorf Upshott nicht alles so ist, wie es scheint; Min und Louisa beschatten die 'Gorillas' und besonders Louisa soll später ein persönliches Interesse daran finden, den russischen Ölmagnaten Arkadi Paschkin sehr genau unter ihre Lupe zu nehmen, als es zu dem geplanten Treffen - und dem Showdown im 2. Teil des Agententhrillers, der wie gewohnt von Beginn an spannend und stimmig zu lesen ist, kommt: Die vorhandene Spannung nimmt noch einmal kräftig an Fahrt auf und neben den markigen Sprüchen des Autors (die für mich diese Agententhriller zum wahren Lesegenuss machen) fehlt es auch nicht an gesellschaftskritischen Seitenhieben, die Mick Herron in das Doppelspiel unserer Agenten einbezieht.

Auch ein Schmunzeln ist immer wieder unumgänglich, etwa wenn der Autor konstatiert, dass Roderick Ho (ein Genie im IT-Bereich, jedoch ohne jeglichen sozialen Kompetenzen) "lieber im Internet tiefgetaucht wäre, als die Treppen bis zum 77. Stockwerk des abgeriegelten "The Needle" nehmen zu müssen" ..... Solche schwarzhumorigen Anmerkungen finden sich immer wieder; die Inhalte dieses wiederum unglaublich spannenden, mit durchaus sympathischen Agenten im Slough House personalisierten Krimis sollte man sich selbst erlesen. Um nicht zu spoilern, gehe ich daher nicht weiter auf den Verlauf der Handlung ein, um geneigten LeserInnen (von denen es hoffentlich nur so wimmelt!) keine Pointen vorwegzunehmen.

An diesem "Fall für Jackson Lamb" gefiel mir besonders die Tatsache, dass Mick Herron zu Beginn eine Katze die Räume des Slough House besuchen lässt und den Leser zu den einzelnen Agenten mitnimmt (falls Band 1 noch unbekannt) und am Ende eine Maus durch die Räume trippelt - um am Ende im Büro des Chefs, Jackson Lamb, anzukommen: Dazwischen verbirgt sich ein hochspannendes Doppelspiel der Agenten, das mit Zeiten des Kalten Krieges, dem Mauerfall 1989 und dem britischen Geheimdienst MI5 (nebst seinen "Abservierten" lahmen Gäulen, die jedoch zu Topform auflaufen können, hinter der sich jeder Mitarbeiter im 'Regent's Park' nur verstecken kann) zu tun hat. Hauptsächlich geht es hier um tote Löwen - eben Dead Lions - und ihrem Wiedererwachen:

"Wenn Löwen gähnen, heißt das nicht, dass sie müde sind. Es heißt, dass sie aufwachen." (Zitat S. 58)

Ich für meinen Teil freue mich bereits auf den Folgeband und spreche hiermit eine absolute Leseempfehlung aus - verbunden mit 4,5 Sternen und 96° auf der "Krimi-Couch". In sprachlicher wie auch inhaltlicher Hinsicht ein absoluter Lesegenuss und eine hochspannende wie auch mit schwarzem Humor versehene Lektüre, zu der ich nur ganz viel Lesespaß wünschen kann!

Veröffentlicht am 22.09.2019

Menschen neben dem Leben - Zille lässt grüßen....

Menschen neben dem Leben
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Nach der literarischen Wiederentdeckung von "Der Reisende" ist nun der erste (und leider auch letzte) Roman des Autors (man lese seine tragische Biografie und erfährt den Grund) auf Deutsch erschienen: ...

Nach der literarischen Wiederentdeckung von "Der Reisende" ist nun der erste (und leider auch letzte) Roman des Autors (man lese seine tragische Biografie und erfährt den Grund) auf Deutsch erschienen: "Menschen neben dem Leben" ist ein literarisch stimmungsvoller und in die Tiefe gehender Ausflug ins Berlin der frühen 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts und wurde wiederum vom Verlag Klett-Cotta (HC, gebunden, 2019) herausgegeben.

Die Weltwirtschaftskrise (1929) liegt noch nicht weit hinter den Menschen und hat ein Heer von Arbeitslosen, Prostituierten und Bettlern hinterlassen, die auch das Stadtbild von Berlin mitprägen. So besteht das Romanpersonal aus einigen Entwurzelten, die und deren Geschick und Vergangenheit hier näher kennenlernt:

Boschwitz stellt seine HauptprotagonistInnen nach und nach vor; im Romanverlauf lernt man sie immer besser kennen. Der Beginn ist in Walter Schreibers Keller, in dem er mit Gemüse handelt und einen kleinen Raum für wenig Geld an Fundholz und Tönnchen zum Schlafen vermietet: Fundholz ist ein gutmütiger, immer noch sozialer Mensch, dem sich Tönnchen einst anschloss, da dieser ihn "mitversorgt". So begleiten wir beide - oder nur Fundholz - durch Berlin und seinen "Schnorr-Alltag" - immer auf der Hut vor der Polizei.
Während Fundholz einmal Heim und Frau hatte, war das Schicksal Tönnchen gegenüber weniger gnädig: Bis zum Alter von 12 Jahren ein normaler Junge, hatte er ein traumatisches Erlebnis, das ihn das Leben hätte kosten können und ihn für viele Jahre in die Klapse brachte. Dieser Vorfall hat die Verbindung zwischen seinem Denken und Handeln vollständig unterbrochen und der einzige Lebensinhalt ist das Essen; daher wohl auch sein Spitzname....
Diesen beiden schließt sich Grissmann an; ein über sein eigenes Schicksal der Armut erboster junger Mann, der im Gegensatz zu Fundholz jedoch noch nicht mit dem Leben abgeschlossen hat, nichts mehr erwartet. Seine Besuche in der Bibliothek sind nicht dem Motiv einer Weiterbildung zuzuordnen wie es bei vielen anderen Arbeitslosen der Fall ist, sondern um ein Gegenmittel gegen die Langeweile zu finden - und Menschen zu treffen, die wie er einen absonderen erotischen Hang zu Fotografien haben, die dort getauscht werden und mit denen er kleine Geschäfte macht. Im Grunde schlummert jedoch eine kriminelle Ader in ihm und seine Vorbilder sind die Ganoven amerikanischer Kriminalromane, die "immer davonkommen". Solch ein Ganove möchte er sein, weiß jedoch, dass er die Gewieftheit eines größeren "Dings" nicht wirklich umsetzen kann. Denn im Grunde ist er ein ängstlicher Mensch...
Bis er Elsi, die Frau des blinden Sonnenbergs trifft und mit ihr tanzt sowie das viel schönere Minchen Lindner, das ihn jedoch kalt abweist. Denn letztere hat Gefallen an dem "schönen Wilhelm" gefunden, den wiederum die geistig verwirrte Frau Fliebusch für ihren seit 20 Jahren verschollenen Wilhelm hält und an dessen Tod im 1. Weltkrieg sie nicht glaubt: Sie glaubt hingegen, dass alle Menschen niederträchtig sind und sie belügen. Daher trägt sie auch in zwei Koffern seine Uniform immer bei sich, in der Hoffnung lebend, ihn wiederzusehen...

All diese tragischen Gestalten werden kurz angetroffen, bevor sich der Autor ihnen dann auf einer sehr einfühlsamen, warmherzig-emotionalen Ebene nähert und dem Leser das oftmals leidvoll erlittene Schicksal der ProtagonistInnen beschreibt, uns daran teilhaben lässt und Verständnis hat für die jeweilige "Überlebensstrategie", ohne einen moralischen Zeigefinger. Ausser Grissmann und auch dem alten Sonnenberg, der über den Verlust seines Augenlichts im 1. Weltkrieg wütend und verbittert ist, dies auch seine Frau spüren lässt, sind die übrigen Figuren, die sich letztendlich im "Fröhlichen Waidmann" treffen, durchaus sehr sympathisch. In einer Nebenfigur skizziert Boschwitz auch die bereits vorhandene Ablehnung gegenüber Juden, die in den frühen 30er Jahren (und auch zuvor) in Form von bestehendem Antisemitismus durchaus vorhanden war und die nicht unerheblich zum Entstehen des nationalsozialistischen Denkens beitrug.

In der Eskalation zwischen Sonnenberg und Grissmann, in der die aufgestaute Wut beider Ausdruck findet, beide "unter den Rädern des Lebens" liegend, nimmt der Roman eine überaus dramatische Wendung; Boschwitz vergleicht den Kampf der beiden Unterdrückten mit dem Krieg von Nationen und sieht die Zukunft, in der noch mehr Vernichtungserfolge in Kriegen zu finden sein werden, sehr realistisch: Er sollte Recht behalten, was beim Lesen mehr als betroffen macht.
Während die beiden Kontrahenten keinen Ausweg sehen, ihrer Wut zu entkommen und auch Fundholz nicht schlichten kann, endet das Zusammentreffen in einer Katastrophe: Für andere wiederum gibt es Hoffnung auf ein besseres Leben als jenes, das sie nicht mehr führen möchten: Wird Minchen Lindner, deren Ersparnisse aus ihrer Edelprostitution stammen, mit dem früheren Zuhälter Wilhelm einen Kolonialwarenladen führen können; werden beide heiraten? Wir wissen es nicht, aber zu hoffen wäre es.

Ein sehr berührendes Gesellschaftsportrait der oftmals in schuldlos unwürdigen Lebensverhältnissen lebenden Menschen im Berlin der frühen 30er Jahre, in dem der Autor es zutiefst menschlich versteht, jeder Romanfigur Respekt, Aufmerksamkeit und Würde entgegen zubringen, dem man sich als Leser nicht entziehen kann. Ein Roman, der nachhallt - und dessen Personal an "Zille sein Milljöh", an Hans Fallada ("Kleiner Mann - was nun?") und an Döblin's "Berlin Alexanderplatz". Eine absolute Leseempfehlung von mir und ein Dank an den Herausgeber Peter Graf, dessen brillantem Nachwort zum Roman ich mich gerne anschließe! 4,5*

Veröffentlicht am 22.09.2019

Ein bewegender literarischer "Stolperstein" aus Norwegen

Vergesst unsere Namen nicht
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Dieser wichtige literarische "Stolperstein", der in diesem Falle Hirsch Komissar gewidmet wurde und von dessen Leben und seinen Peinigern im besetzten Norwegen (ab 1940) der Nationalsozialisten handelt, ...

Dieser wichtige literarische "Stolperstein", der in diesem Falle Hirsch Komissar gewidmet wurde und von dessen Leben und seinen Peinigern im besetzten Norwegen (ab 1940) der Nationalsozialisten handelt, erschien im Eichborn-Verlag, August 2019. Es ist inhaltlich keine leichte Kost und lässt den Leser - gerade in der heutigen Zeit, im Erstarken von Populisten in ganz Europa - sehr nachdenklich zurück; aber das Lesen dieses ungewöhnlich geschriebenen Romans lohnt sich für historisch interessierte LeserInnen sehr!

"In der jüdischen Tradition heißt es, dass ein Mensch zwei Mal stirbt. Das erste Mal, wenn das Herz aufhört zu schlagen und die Synapsen im Gehirn erlöschen wie das Licht in einer Stadt, in der der Strom ausfällt. Das zweite Mal, wenn der Name des Toten zum letzten Mal gesagt, gelesen oder gedacht wird, fünfzig oder hundert oder vierhundert Jahre später. Erst dann ist der Betroffene wirklich verschwunden, aus dem irdischen Leben gestrichen.

Ein auf wahren Begebenheiten basierender Roman, der achtzig Jahre Geschichte und vier Generationen umfasst. Eine Erzählung über den Holocaust, über Familiengeheimnisse und über die Geschichten, die wir an unsere Kinder weitergeben." (Quelle: Verlagstext)

Ausgangspunkt des Romans und der Aufarbeitung einer Familienchronik ist ein Stolperstein (Steine der Erinnerung, die vor dem jeweiligen Haus platziert wurden, in dem eine oder mehrere jüdische Familien vor dem 2. Weltkrieg und dem Holocaust wohnten). Es ist der im Roman vom Verfasser mit "du" angesprochenen Hirsch Komissar, der mit seinen Eltern einst aus Russland emigrieren musste und in Norwegen mit seiner Frau Marie einen Textilladen aus dem "Nichts" erschuf. Der Familie geht es gut, bis Norwegen von den Deutschen besetzt wird und der Vater von Gerson und Lillemor denunziert und verhaftet wird. Kurzzeitig wird er als Dolmetscher, des Russischen mächtig, in Nordnorwegen eingesetzt, um dann wieder nach Falstad, einem Gefangenenlager der Nazis, verbracht zu werden. Im Zuge eines Vergeltungsschlages wegen eines Angriffes des norwegischen Widerstands wird Hirsch Komissar mit 9 weiteren unschuldigen Gefangenen im Oktober 1942 erschossen.

Auch wenn Simon Stranger einem sehr eigenwilligen Stil folgt: Seine kurzen Kapitel beginnen in alphabetischer Reihenfolge, denen jedoch entsprechende Worte vorangehen, die - wenn auch zeitlich sprunghaft - jedem Kapitel sinngemäß voranstehen, versteht er es sehr prätentiös und eindringlich, zuweilen auch beklemmend, etwaige Gedankengänge, aber auch real Erlebtes von Komissar (wie vielen weiteren unschuldig Inhaftierten) immer wieder in den Roman einfließen zu lassen. Der Hauptprotagonist ist jedoch ein Mann namens Henry Oliver Rinnan, dessen Lebensgeschichte so bizarr klingt wie das Ausmaß seiner Grausamkeiten, nachdem er es schaffte, zum Schlimmsten aller norwegischen Nazis zu werden, mit den Deutschen zu kollaborieren (dadurch die von ihm längst ersehnte "Anerkennung" zu finden),und im Jonsvannsveien 46, dem sog. "Bandenkloster" zahlreiche Menschen, die des Verrats oder des Widerstands gegen die Nazis beschuldigt wurden, grausam folterte und ermordete.

Gibt dem Leser bereits die Kindheit und Jugendzeit dieses Verbrechers sehr zu denken, der bedingt durch seine Körpergröße von 161 cm Probleme hat, sich durchzusetzen, "unauffällig" bleibt und dennoch immer mehr Gewaltpotential, Wut und Hass in sich zu mehren, so ist man im Erwachsenenalter von Rinnan zuweilen an der Grenze der eigenen Belastbarkeit, die Zeilen über seine Macht- und Gewaltfantasien, die bald in die Realität umgesetzt werden können, zu lesen: Er ist skrupellos und bar aller Gefühle, ebenso wie sein Handlanger Karl Dolmen: Mit einigen anderen versuchen sie, die Netzwerke des Widerstands zu infiltrieren, Waffen aufzuspüren und - sich gegen die eigenen Landsleute wendend - diese aufs Grausamste zu foltern und auch zu ermorden. Das Haus im Jonsvannsveien 46, das leider im Internet nur Informationen auf norwegischer Sprache preisgibt, nicht aber auf deutschen Seiten, hat eine sehr dunkle Epoche erlebt: So wundert es nicht, dass Ellen, die Frau Gersons, in diesem Haus immer mehr erschaudert und eigentlich eine andere Wohnung finden möchte, ihr Mann dies aber herunterspielt und nicht erkennt, wie sehr seine sensible Frau leidet. In diesem Zusammenhang konnte ich die Gefühle und das Verhalten von Ellen sehr gut nachvollziehen, jedoch Marie, die Frau des ermordeten Hirsch Komissar, missfiel mir sehr: Egozentrisch und leichtfertig vermittelte sie ihnen dieses Haus der Folter und der Angst, um ihren Sohn Gerson im Laden zur Hilfe zu haben.
Es geht um Flucht (nach Schweden) und um Fluchthelfer, die gerade jüdischen Flüchtlingen halfen, über die Grenze zu kommen und oft ihr eigenes Leben damit aufs Spiel setzten. Es geht um Angst der Flüchtenden (auch heute ein aktuelles Thema, denn seit dem Ende des 2. Weltkrieges gab es nicht mehr so viele Flüchtlinge auf der Welt wie seit einigen Jahren), aber auch um das Überleben. Das Weiterleben, wobei dem Leser nach dieser auf Wahrheit basierenden Lektüre sehr bewusst wird, wie viele Leben durch den Krieg zerstört wurden - und Lebenswege, Möglichkeiten sich für immer veränderten. Er ruft letztendlich dazu auf, zu verzeihen, da dies der Weg in die Zukunft sei.

Ein interessanter und nachdenklich stimmender Einblick hat der interessierte Leser auch auf die antisemitischen Anfänge bis in die heutige Zeit; die historischen Hintergründe sind gut recherchiert worden und beginnen bereits in der römischen Zeit durch die ersten Judenpogrome. Der Roman beleuchtet wie ein Scheinwerfer die Angriffe auf jüdische Siedlungen, etwa auch im russischen Zarenreich, weshalb die Familie unseres Protagonisten, dessen Name nicht vergessen werden sollte, auch die Flucht aus Russland nach Norwegen antreten musste. Man bedauert, dass die Familie während des 2. Weltkriegs nicht im sicheren Schweden verblieb (wie die Schwester von Gerson, Lillemor) und die Geschichte dieser Familie sich durch ihre Rückkehr nach Norwegen für immer veränderte...

Manche Bücher müssen weh tun, mit solch' einem haben wir es hier zu tun: Dennoch sollte man sie - oder gerade deswegen - lesen, um die Menschen und Schicksale, die hinter den bisher insgesamt 67.000 in europäischen Städten eingelassenen "Stolpersteinen" stehen, niemals zu vergessen. Und nicht nur das: Um Sorge zu tragen, dass sich solch eine dunkle Zeit weder in Deutschland noch in Europa niemals wiederholen darf! Hart an der Schmerzgrenze, aber - oder gerade deswegen - 4,5* und ein Dank an den Autor Simon Stranger, der diesen Stolperstein umgedreht und ihm eine (Roman)form gegeben hat.

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Veröffentlicht am 24.04.2019

Die Geheimnisse jenes Sommers...

Das Leuchten jenes Sommers
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Zum Inhalt:

"August 1939: Auf dem malerischen Anwesen Summerhill in Cornwall lebt die junge Maddy zurückgezogen von der Welt und dem drohenden Krieg. Als ihre geliebte Schwester Georgiana von einer langen ...

Zum Inhalt:

"August 1939: Auf dem malerischen Anwesen Summerhill in Cornwall lebt die junge Maddy zurückgezogen von der Welt und dem drohenden Krieg. Als ihre geliebte Schwester Georgiana von einer langen Reise zurückkehrt, bringt sie ihren neuen Freund Victor mit. Maddy ist der düstere junge Mann auf Anhieb unsympathisch. Aber sie ahnt nicht, wie groß die Gefahr wirklich ist....

Sechzig Jahre später führt ein Auftrag die junge Fotografin Chloe nach Summerhill. Sie hat gerade erfahren, dass sie schwanger ist. Eigentlich eine freudige Nachricht, aber Chloes Gefühle sind gespalten. In Summerhill stößt sie auf ein Geheimnis, das Jahrzehnte zurückliegt - und das die Kraft hat, ihr gesamtes Leben auf den Kopf zu stellen....

(Quelle: Buchrückentext)

Dieser berührende Roman von Nikola Scott, die mich bereits durch ihr Début "Zeit der Schwalben" begeistern konnte, steht dem Erstlingswerk in Nichts nach: In einer prägnanten und sehr gefühlvollen Sprache lernen wir zum einen Madeleine Hamilton, genannt Maddy, immer besser kennen (im Erzählstrang Ende der 30er Jahre kurz vor Ausbruch des 2. Weltkrieges in Cornwall, England) - und zum anderen die Lebenswelt von Chloe MacAllister, die etwas beklemmend ist, da ihr Mann Aidan bereits früh den Unmut der LeserInnen auf sich zieht: Er lebt mit Chloe in einem sterilen weiß eingerichteten Haus, ist Arzt und zeigt seine Art von Liebe darin, dass er seine Frau am liebsten für sich alleine haben möchte. Eine äußerst subtile Form von Besitzanspruch kommt in der Beziehung immer stärker zum Tragen, woher verständlicherweise die gespaltenen Gefühle Chloe's herrühren.

Maddy, (16) die sich sehr auf ihre Schwester freut, begrüßt mit Georgiana auch eine illustre Gesellschaft junger Leute, die einige Zeit auf Summerhill verbringen möchten und gerne sowie ausgiebig feiern. Ihre Schwester Georgiana ist um die 20 und kehrt von einer Europareise zurück: Da beide elternlos sind; die Mutter die Familie früh verlassen hat und der Vater durch einen tragischen Unfall starb, haben die Geschwister eine sehr enge Beziehung zueinander.

Während Maddy immer mit dem Zeichenblock unterwegs ist, denkt sich Georgiana Geschichten zu den Bildern aus: So entstehen später einige berühmte Kinderbücher, in denen es meist um Tiere wie einen kleinen Fuchs geht und die Geschichten auf dem herrlichen Anwesen Summerhill "am Ende der Straße" verortet sind, das Maddy so sehr liebt.

Mit dem Erwachsenwerden Georgianas hinterfragt diese ihr Leben und ihre Beziehung zu Maddy: Sie ist in Victor verliebt und merkt leider nicht, welche üblen Spiele dieser mit den Schwestern treibt, auch bleibt sein Motiv lange verborgen, weshalb er mit nach Summerhill reiste...

Ob Maddy noch rechtzeitig ihre Schwester warnen kann?

Auf der Erzählebene der Gegenwart erscheint das Leben von Chloe wie ein Alptraum: Vortäuschend, dass Aidan ja genug Geld verdient und sie ihren Job als Fotografin nicht wirklich braucht, ist er dagegen, dass sie ein Angebot annimmt, Fotos der berühmten Kinderbuchautorin Madeleine Hamilton aufzunehmen: Wird Chloe es schaffen, dem umfassenden Besitzanspruch Aidans zu entkommen? Wird sie auch Danny, ihren kranken Bruder, den sie sehr liebt, vor Aidans Bevormundung retten können, als dieser auch in Dannys Leben vollmächtig eingreifen will?

Meine Meinung:

Der atmosphärische Roman, der Spannung bis zuletzt aufbaut, in dem die Zeiten der beiden Erzählstränge immer wieder wechseln, ist sehr emotional und wundervoll sowie nachvollziehbar geschrieben: Es geht um viele Themen, die hier nicht nur angerissen werden, sondern in die Tiefe gehen:

Geschwisterliebe, traumatische Erlebnisse, Verluste, Vertrauen, Eigenständigkeit, Schuld und Unschuld, Rollen, in die man zuweilen als Kind "hineingedrängt" wird und die einen das ganze Leben mitunter (auch unbewusst) begleiten und prägen (können); aber auch Mut zu Veränderungen, wenn Liebe erdrückt - nicht mehr atmen kann.

So hat sich die Autorin besonders dem Thema der psychischen Gewalt in Beziehungen gewidmet, was ihr anhand der beiden Figuren Maddy und Georgiana sowie besonders Chloe sehr gelungen ist. Besonders beeindruckt hat mich die Passage, als sich Chloe und Maddy kennenlernen - und miteinander anfreunden, sich eine große Hilfe sind, trotz ihres Altersunterschieds. Ein Kernthema dieses Romans ist für mich, wie man sich einander nah sein kann, ohne den anderen in seiner Eigenständigkeit und Freiheit zu beschneiden. Hier durchleben beide Charaktere eine positive Veränderung, wohingegen Aidan überhaupt nicht aufzufallen scheint, wie sehr seine "Liebe" erdrückt und jedes Gefühl in Chloe mehr und mehr im Keim erstickt wird. Bedrückend finde ich, dass psychische Gewalt (auch in einer Ehe) erst seit einigen Jahren strafbar ist und besonders Frauen zuvor oftmals hilflos dieser ausgesetzt waren.

Die Figuren sind sehr facettenreich gezeichnet und bis auf Aidan MacAllister und Victor Deverill sympathisch: Je weiter der Roman voranschritt, desto mehr hat er mich begeistert, was ich dem wirklich guten Schreibstil und Spannungsaufbau von Nikola Scott zuschreibe. Die Anmerkungen der Autorin hierzu im Anhang fand ich als Ergänzung sehr informativ und bemerkenswert.

Fazit:

Ein berührender, gefühlvoller Roman über die zerstörerischen - aber auch tröstenden Kräfte, die sich Liebe nennen. Nikola Scott hat wunderbare Figuren geschaffen, die in ihrem Lebensweg aufzeigen, dass es sich lohnt, Eigenständigkeit und Authentizität zu bewahren, ganz besonders auch in Liebesbeziehungen! Eine klare Leseempfehlung und 4,5* von mir sowie ein herzliches dankeschön an sowohl die Autorin als auch die Übersetzerin Nicole Seifert für berührende und ergreifende sowie sehr unterhaltsame Lesestunden.