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Veröffentlicht am 09.05.2023

Erkundung Afrikas aus der Luft

Fünf Wochen im Ballon
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Dr. Samuel Fergusson ist Forschungsreisender mit Leib und Seele. Viel ist er schon in der Welt herumgekommen. Doch nun reizt ihn der afrikanische Kontinent. In den 1860ern befindet sich noch immer in dessen ...

Dr. Samuel Fergusson ist Forschungsreisender mit Leib und Seele. Viel ist er schon in der Welt herumgekommen. Doch nun reizt ihn der afrikanische Kontinent. In den 1860ern befindet sich noch immer in dessen Mitte ein riesiges unerforschtes Gebiet. Doch Fergusson ist allen anderen Weltentdeckern einen Schritt voraus, denn er beginnt seine Fahrt mit einem großen Ballon. Mit dabei: alles was ein ordentlicher Entdecker braucht, seinen Freund Richard Kennedy und seinem treuen Diener Joe.

Der erste der Romane aus dem Zyklus der Reisebeschreibungen Jule Vernes entführt die Leserschaft sogleich in ein fast unberührtes Afrika. Zwar bekommen wir auf sehr trockene und nüchterne Art erst einmal die drei Protagonisten und die Hintergründe zur Reise präsentiert, doch recht schnell schlägt der sprachliche Stil Vernes in einen leitfüßigen Trab um, der es dennoch nicht versäumt, einem beim Lesen die Schönheit der Wildnis und die Sichtungen von Flora, Fauna und lokaler Bevölkerung zu beschreiben. So hat sich bei mir ein enormes Lesetempo ergeben und die Seiten fliegen nur so an mir vorbei. Denn gerade diese Beschreibungen dessen, was unsere drei Ballonfahrer sehen, habe ich nur so in mich aufgesogen. Auch mit technischen Details in Hülle und Fülle wartet der Autor nur so auf. Nach heutigem Verständnis von Technologie und Physik sind diese nicht sehr schwer nachvollziehbar, fraglich, ob das auch zu Entstehungszeiten des Romans so war. Man bedenke, dass das Buch aus dem Jahr 1863 stammt. Das gilt sowohl für den gerade angesprochenen Punkt und denjenigen, mit dem ich mich als nächstes auseinandersetzen werde.

Denn man muss wirklich sagen, dass das Buch einfach ein Kind seiner Zeit ist. Zwar werden im Buch keine explizit pseudowissenschaftlichen Theorien vertreten, allerdings merkt man, dass den afrikanischen Ureinwohnern kaum positive Eigenschaften zugesprochen werden. Die Ballonfahrer philosophieren immer wieder darüber, wie primitiv und kulturlos die Eingeborenen doch sind. Auch scheint es kaum einen Stamm zu geben, der laut Dr. Fergusson keinen Kannibalismus zu praktizieren scheint. Immer wieder kommen die drei in Situationen, in denen sie sich aus den Fängen der Einheimischen befreien müssen, wobei auch der eine oder andere von ihnen dabei unwiederbringlich zu Bruch geht. Nichts desto trotz kommt man gut damit klar, auch wenn es für uns sehr befremdlich ist, so war es für die damaligen Europäer:innen einfach Alltag so zu denken. Ein weiterer Punkt, mit dem ich nicht ganz klargekommen bin, ist die Schiesswütigkeit, die unser lieber Richard Kennedy an den Tag legt. Den er ist leidenschaftlicher Jäger, was sich im Buch stellenweise sehr stark niederschlägt. So meint der gute Herr immer wieder einmal unbedingt den sicheren Ballon verlassen zu müssen, um seine animalischen Triebe des Tötens ausleben zu können. Rückwirkend - mit dem Bewusstsein des ökologischen Desasters, den der Kolonialismus in Afrika angerichtet hat und immer noch anrichtet - wirklich unverständlich.

Eine Kleinigkeit noch wäre, dass unsere drei Protagonisten zwar jeweils einen sehr eindeutigen Charakter attestiert bekommen, wir als Leserschaft aber aufgrund dessen, dass es an zusätzlichen Infos mangelt, auf charaktertechnischer Ebene ziemlich auf dem Trockenen sitzen. Man hätte sich einfach gewünscht, mehr über die drei zu erfahren, seien es optische Merkmale, oder was bis jetzt in ihrem Leben bereits so geschehen ist.

Besagte Kritikpunkte halten sich im Rahmen, auch wenn sie von mir gerade ausschweifend erörtert wurden, denn es ist keinesfalls so, dass der gesamte Lesespaß getrübt worden wäre. Das Buch ist einfach gut geeignet, sich in einer unbekannten und längst versunkenen Welt zu verlieren und sich selbst als Abenteurer vorzustellen. Mit Jules Verne wird man einfach wieder zum Kind.

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Veröffentlicht am 29.07.2023

Charleston im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg

Celia Garth
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Die junge Celia Garth stammt zwar aus feinem Haus, muss sich ihr Geld jedoch als Schneiderin in Charleston verdienen, da ihre Verwandtschaft sie, nachdem ihre Eltern starben, nur bis zu einem gewissen ...

Die junge Celia Garth stammt zwar aus feinem Haus, muss sich ihr Geld jedoch als Schneiderin in Charleston verdienen, da ihre Verwandtschaft sie, nachdem ihre Eltern starben, nur bis zu einem gewissen Zeitpunkt mitversorgen wollten. In ihrer Anstellung als Schneiderin kommt sie ständig in Berührung mit den gehobeneren Kreisen Charlestons. Und so lernt sie eines Tages Jimmy kennen und zwischen der Schneiderin und dem Offizier entsteht ein zartes Band der Liebe. Doch vor den Toren Charlestons zeiht die Britische Flotte auf, um die Stadt zurück in den Schoß des Empire zu führen.

Ich hatte wieder einmal Lust auf leichte Unterhaltungslektüre, die in den Amerikanischen Südstaaten spielt. und so kam mir das Buch gerade gelegen. Man findet auch sehr schnell in die Geschichte hinein, da man sehr schnell in der Handlung ist, und vor allem, weil die Atmosphäre Charlestons sehr ansprechend und pulsierend herübergebracht wird. Gleichzeitig wird auch der Konflikt in der Bevölkerung zwischen den Tories, die den König unterstützen, und den Patrioten, die die Unabhängigkeit der Kolonien anstreben sehr anschaulich dargestellt. Eben abseits der Schlachtfelder versuchen die jeweiligen Unterstützer ihre Gesinnung in kleinen Gesten zu Ausdruck zu bringen. Besonders spannend wird es auch mit der Belagerung Charlestons und der Anschließenden Besetzung der Stadt. Hier gefällt mir, dass sich die Autorin nicht nur auf die Liebesgeschichte besinnt, sondern historischen Fakten bzw. deren Umsetzung und Darstellung in den Fokus rücken.

Ein Aspekt, den ich definitiv kritisieren muss, ist der Umgang mit Sklaverei und der Afroamerikanischen Bevölkerung bzw. den dunkelhäutigen Protagonist:innen der Geschichte. Im Buch wird immer das N-Wort verwendet und die versklavten Personen werden kaum realitätsnah dargestellt. Mit Marietta und Amos haben wir zwei versklavte Charaktere in der Geschichte. Allerdings wirken diese beim Lesen kaum als solche. Die Existenz der Leibeigenschaft wird im Buch irgendwie sehr gut ausgeblendet. Hinzu kommt, dass dadurch, dass die Sklav:innen immer sehr willenlos bzw. als unbedingt folgsam gegenüber ihrer Herrschaft, die die Protagonist:innen der Geschichte dargestellt werden, erscheint für mich der Eindruck, dass die Autorin versucht die Konfliktfrage der Problematik der Sklaverei bzw. der Verherrlichung des Antebellum-Südens zu umgehen, falls dies für sie überhaupt eine Konfliktfrage darstellen würde. Dazu muss man wissen, dass das Buch bereits im Jahr 1959 erschienen ist und die Autorin gebürtig aus den Südstaaten stammt, also in einer Zeit aufgewachsen und sozialisiert wurde, in der Sklaverei nicht so kontrovers betrachtet wurde wie es heutzutage wird. Dabei ist das Buch keineswegs Rassistisch, wenn man vom inflationären Gebrauch des N-Wortes absieht, das einfach im damaligen Sprachgebrauch (meine Ausgabe des Buches stammt im Übrigen glaube ich aus den 80ern) standardmäßig verwendet wurde.

Nach diesem kleinen Exkurs über die meiner Meinung nach verzerrte Darstellung der Sklaverei möchte ich noch ein wenig auf die Charaktergestaltung eingehen. Man wird sehr schnell mit einer großen Menge an Männern der Charlestoner Gesellschaft und den dazugehörigen Damen konfrontiert vermag es aber sehr schnell, diesen Dschungel zu durchblicken, sodass sich nur anfangs eine leichte Verwirrung ergibt. Ansonsten sind die Protagonist:innen typisch für solch einen Roman gestaltet: charismatisch und heldenhaft. Man mag sie, ich habe aber keine sonderlich große Bindung zu ihnen aufgebaut. Und dann haben wir dann noch Celia, den Stern unserer Geschichte. Bei ihr habe ich mir wirklich manchmal gefragt, ob sie sich einmal zu oft den Kopf gestoßen hat. Sie wirkt von der Gestaltung her auf mich wie ein naives und verzogenes kleines Kind, dass versucht mit Emotionalität mehr zu erreichen, als mit ihrem Kopf. Kurzum einfach nervig. Nach dem ersten Schock habe ich mich mit der Zeit an sie gewöhnt, sodass die zweite Hälfte des Buches nicht mehr so anstrengend war. Den Lesefluss hat ihr Verhalten zum Glück kaum getrübt, da die Geschichte bzw. die Spannung nicht von ihr abhängig ist.

Kurzum ist das Buch ideal als kurzweilige und leichte Lektüre, die mittlerweile auch schon ein wenig in die Jahre gekommen ist, was man leider merkt. Dennoch unterhaltsam und interessant. Gerade für Menschen, die auch so gerne Südstaatenromane lesen, eine wahre Empfehlung.

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Veröffentlicht am 28.03.2023

das schlagartige Ende einer Kindheit

Blumen der Finsternis
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Mitten im Zweiten Weltkrieg sind die Würfel für die Vernichtung der Juden gefallen. Tag für Tag verschwinden mehr und mehr Juden. Dementsprechend versuchen Eltern immer verzweifelter ihre Kind in Sicherheit ...

Mitten im Zweiten Weltkrieg sind die Würfel für die Vernichtung der Juden gefallen. Tag für Tag verschwinden mehr und mehr Juden. Dementsprechend versuchen Eltern immer verzweifelter ihre Kind in Sicherheit zu bringen. So wird auch der zwölfjährige Hugo von seiner Mutter zu einer alten Schulfreundin gebracht. Bei dieser lebt er nun Tag ein, Tag aus in deren Abstellkammer. Doch Mariana ist nicht der Typ Mensch, den man als idealen Umgang für seine Kinder bezeichnen würde. Denn Mariana verdient ihr Geld als Prostituierte. Hinzu kommt noch, dass sie ihre psychischen Probleme zunehmend in Alkohol ertränkt.

Irgendwie bin ich gerade in einer melancholischen Stimmung und habe das Bedürfnis über Verfolgung im Dritten Reich bzw. die Shoah zu lesen. Dementsprechend kam mir diese literarische Aufarbeitung des Autors gerade gelegen. Denn der Autor beschäftigt sich in all seinen Werken mit der Judenverfolgung im Zweiten Weltkrieg, die er selbst am eigenen Leib erfahren hat müssen.

In diesem Roman tritt die Shoah aber zunehmend in den Hintergrund, gibt mehr das Setting an. Denn der Handlungsort beschränkt sich weite Teile des Buches über nur auf Marianas Zimmer und der dazu gehörenden Abstellkammer. Viel mehr liegt der Wandel Hugos vom Kind hin zum Erwachsenen im Vordergrund. So erscheint es für die Leserschaft erschreckend, wie Hugo tagtäglich Alkoholkonsum und sexuellen Missbrauch erlebt, ohne selbst verstehen zu können, was gerade geschieht. Auch wird er von Mariana zunehmend psychisch belastet. Sie sieht in ihm den Anker, der sie im Leben hält; das Tor durch dass sie für wenige Momente ihrem traurigen Alltag entfliehen kann.

All das ist schwer zu ertragen und man kann sich glücklich schätzen, nicht Hugos ungewisses Schicksal teilen zu müssen. So ist Aharon Appelfelds Buch ein geschichtlich bedeutendes Stück Literatur im Kampf gegen das Vergessen.

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Veröffentlicht am 22.03.2023

Untergang im Amsterdam des Jahres 1705

Das Haus an der Herengracht
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Die achtzehnjährige Thea Brant liebt das Theater und besucht regelmäßig die neuesten Vorstellungen. Denn neben ihrer Liebe zum Theater arbeitet dort auch noch Walter, der Kulissenmaler, in den sich due ...

Die achtzehnjährige Thea Brant liebt das Theater und besucht regelmäßig die neuesten Vorstellungen. Denn neben ihrer Liebe zum Theater arbeitet dort auch noch Walter, der Kulissenmaler, in den sich due junge Frau verliebt hat. Doch als letzte Erbin eines mittlerweile verarmten Handelsgeschlechts hängt von Thea die Zukunft der ganzen Familie ab. Und so sucht Theas Tante Nella emsig nach einem geeigneten Heiratskandidaten. Mit Jacob van Loos wird dieser auch gefunden. Doch Thea wird nicht so richtig warm mit ihm, wo ihr Herz doch eigentlich für Walter schlägt. So stellt sich für sie die Frage, ob sie ihrer Familie einen Platz in der Oberschicht sichert, oder auf ihr Herz hört und der Liebe nachgeht.

Die Geschichte entführt die Leserschaft in das Amsterdam des anbrechenden 18. Jahrhunderts. Also gerade hinein in das Goldenen Zeitalter, in dem die Niederlande eine der führenden Kolonialmächte der Welt waren. Gerade über diese Pracht und das florierende Leben in der Handelsmetropole wollte ich etwas lesen. Die Ausgestaltung dieser Atmosphäre ist der Autorin sehr gut gelungen, sodass man sehr schnell in die Geschichte und das Setting eintaucht. Gespräche über Handel, das Auftauchen neuer, exotischer Früchte, die bei uns mittlerweile schon zum Alltag gehören, oder aber auch die Tatsache, dass Theas Vater aus der niederländischen Kolonie Suriname stammt und eine dunklere Hautfarbe hat, als der Großteil der Amsterdamer Bürger, werden grazil und sanft in die Geschichte mit eingeflochten, ohne dabei zu drückend oder zu gewollt zu wirken, sodass sich diese bezaubernde Stimmung ergibt.

Die Geschichte ist an und für sich recht ruhig anfangs zumindest, entwickelt dann aber im weitern Verlauf ziemliche Spannungsmomente. Liebe und Verrat sowie diplomatisches Geschick bestimmen die Handlung. Nicht zu vergessen dabei, die Geheimnisse, die jeder und jede der Hausbewohner:innen der Herengracht vor einander haben, sodass sich zusätzliche Spannung erzeugen, die die Geschichte voranbringen. Gerade die Protagonist:innen sind meiner Meinung nach einer der wichtigsten Träger der Geschichte. Sie sind authentisch und vielschichtig aufgebaut, sodass sie es vermögen, das Interesse der Lesenden an sich zu binden. Vor allem Theas Tante ist mir als besonders bemerkenswert in Erinnerung geblieben.

Dennoch blieb das Lesevergnügen auf meiner Seite nicht ungetrübt. Einerseits stellt sich heraus, dass der Roman mehr oder weniger einen Vorgänger hat. In "Die Magie der kleinen Dinge" geht es um Theas Tante Nella, als diese 18 Jahre alt war und ebenso wie Nella im aktuellen Roman vor wichtigen Entscheidungen des Lebens gestellt wird. Allerdings verabsäumt es der Verlag, online und vor allem auf dem Buch darauf hinzuweisen, dass wir einen großen Teil der jetzigen Protagonist:innen bereits aus einem anderen Roman kennen. Dementsprechend ging ich an das Buch mit der Erwartung heran, dass sich die beiden Romane auch getrennt von einander lesen lassen können. Schnell stellt sich aber heraus, dass die "Miniaturistin" die im ersten Buch eine tragende Rolle zu spielen scheint, auch hier von nicht zu unterschätzender Bedeutung zu ein scheint. Man stößt immer wieder auf Geschichten aus der Vergangenheit der Familie, die dem Lesenden eigentlich bekannt sein sollten, es aber aufgrund der Tatsache, dass eben diese teils essentiellen Informationen, die darüber hinaus noch recht spannend erscheinen, nur recht kurz abgehandelt werden. So hätte ich beispielsweise sehr gerne viel mehr über diese Miniaturistin erfahren, vor allem, was ihre Motive und ihre bisherigen Handlungen betrifft. Meiner Meinung nach hat hier der Verlag wirklich mangelnde Kommunikation mit der Kundschaft betrieben.

Im Generellen hat mir das Buch recht gut gefallen, mich für Stunden in eine andere Welt entführen können, und damit erfüllen können, wonach ich gesucht habe. Allerdings bin ich nicht vollends überzeugt und musste beim Lesen immer wieder auch eher trockenere Stellen durchwandern. Dennoch eine Empfehlung, auch wenn ich den vorhergegangenen Roman zu erst empfehle.

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Veröffentlicht am 07.01.2023

der altbekannte Hauch von Sowjet

Rote Kreuze
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Alexander beginnt nach einem Schicksalsschlag ein neues Leben in Minsk. Schnell lernt er auch seine neue Nachbarin kennen. Tatjana Alexejewna ist schon über neunzig Jahre alt und hat mehr und mehr Probleme ...

Alexander beginnt nach einem Schicksalsschlag ein neues Leben in Minsk. Schnell lernt er auch seine neue Nachbarin kennen. Tatjana Alexejewna ist schon über neunzig Jahre alt und hat mehr und mehr Probleme mit dem Vergessen. Die beiden kommen ins Gespräch mit einander und teilen gegenseitig ihre Schicksale. Denn die alte Dame teilt sich mit Russland das wechselseitige Schicksal des 20. Jahrhunderts. Und so teilt sie mit ihrem neuen Nachbar den ewigen Kampf gegen das Vergessen.

Der ehemalige Sohn, der 2021 auf Deutsch erschienen ist, konnte mich voll und ganz für sich begeistern und so war es klar, dass auch die anderen Bücher, die von Sasha Filipenko auf Deutsch erschienen sind, von mir gelesen werden müssen. Denn die unglaubliche Atmosphäre, die der Autor in seinen Büchern, die sich alle mit dem postsowjetischen Ostblock auseinandersetzen, kreiert hat mich damals wirklich begeistert. Diese starke Stimmung ist in diesem Buch sogar noch stärker und greifbarer, als in Der ehemalige Sohn. Und auch der allgegenwärtige Kampf gegen das Vergessen der dramatischen Schicksale und Verbrechen, die untrennbar mit dem Wort Sowjetunion in Verbindung stehen ist in diesem Roman unglaublich gut gelungen. Auch finden wir uns wieder mit einem jungen Protagonisten wieder, der die Leserschaft durch die Geschichte begleitet.

Allerdings muss ich sagen, treten die Schilderungen von Tatjanas Schicksal zu stark in den Vordergrund. Sie machen mehr als die Hälfte des Umfangs des Buches aus. Zwar sind diese Schilderungen spannend, aufreibend und irgendwie auch der Motor der Geschichte, allerdings fehlt mir sehr stark der Umgang der Gesellschaft damit. Protest und Unmut kommen bei weitem nicht so stark herüber, wie ich es mir gewünscht hätte. So kommt es mir mehr so vor, wie ein Ausharren im Schatten. Auch die Geschichte Alexanders konnte mich kaum berühren, und ich fand sie auch nicht sonderlich stark ausgebaut. Sie ist mehr so ein kleines Zusatzhäppchen, das dabei ist um Alexander mehr Gesicht und Gestalt zu geben.

Für alle, die sich mit Gedanken zu postsowjetischen Gesellschaftsentwicklungen auseinandersetzen wollen ist Shasha Filipenko immer ein guter Tipp, auch wenn mir das von ihm, was ich zuvor gelesen habe, besser gefallen hat.

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