Profilbild von StefanEAWagner

StefanEAWagner

aktives Lesejury-Mitglied
offline

StefanEAWagner ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit StefanEAWagner über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 26.02.2017

Literarisch und verstörend

Tampa
0

Alissa Nutting, Dozentin für English Literature aus Ohio, legte 2013 ihren ersten Roman "Tampa" vor, der Anfang 2014 auf Deutsch erschien. Es handelt sich um ein in hohem literarischen Stil geschriebenes, ...

Alissa Nutting, Dozentin für English Literature aus Ohio, legte 2013 ihren ersten Roman "Tampa" vor, der Anfang 2014 auf Deutsch erschien. Es handelt sich um ein in hohem literarischen Stil geschriebenes, zutiefst verstörendes und irritierendes Meisterwerk.

Im Zentrum der Handlung steht Celeste, eine junge High-School-Lehrerin Ende Zwanzig, die ihren Beruf keineswegs aus pädagogischer Berufung ergriffen hat, sondern die einzig und allein aus dem Zweck in die Schule geht, um dort nach Jungen Ausschau halten zu können, die sie in ihrer Freizeit missbrauchen kann. Anders gesagt: Die Lehrerin ist pädophil und nutzt ihren Beruf als Deckmantel, um ihre abseitigen Neigungen ausleben zu können.

Als ich zum ersten Mal von dem Roman erfuhr, war mein erster Impuls, ihn nicht zu lesen und ihn in eine Schublade mit anderen vermeintlich skandalösen Werken zu stecken wie etwa dem unsäglichen und unerträglich schlechten, langweiligen und oberflächlich nach Aufmerksamkeit gierenden "Feuchtgebiete" von Charlotte Roche. "Tampa" ist jedoch absolut das Gegenteil.

Ja, der Roman ist pornographisch – sehr sogar. Ja, der Roman behandelt ein verbotenes, daher selbstverständlich skandalträchtiges Thema. Aber "Tampa" ist so gekonnt, in einem solch literarischen Stil geschrieben, dass das Lesen fast einen Genuss darstellt. Die Beschreibungen sind göttlich, das sanfte Dahinplätschern des Erzählens wirkt sich prächtig auf den Lesefluss aus. Die Story ist spannend geschrieben und ebenso inszeniert, der Leser wird buchstäblich zum Verschlingen des Buches animiert. Ich hatte es nach eineinhalb Tagen durch.

Von seiner moralischen, über die Handlung hinausweisenden Aussage hat der Roman ebenfalls viel zu bieten. Zunächst einmal natürlich die Thematisierung der Pädophilie, die Darstellung der Auswirkungen auf die traumatisierten Kinder (vor allem am Ende) und die Selbstgerechtigkeit und eigentliche Gefühllosigkeit, wenn Celeste ihre Opfer mehr wie Fleischstücke beim Metzger behandelt als wie Mitmenschen.

Dann aber – und das ist auch ganz wichtiger meiner Meinung nach – die Thematisierung des in unserer westlichen Gesellschaft so eigenen und charakteristischen Hasses allen Unattraktivem und Älteren gegenüber: Celeste zeigt sich angewidert, wenn eine hässliche Schülerin sie anspricht: "Ihre Augen und ihre Nase waren so klein und nichtssagend, dass man fast nur die Zahnspange sah. Wie gern hätte ich sie... gefragt: Darf man überhaupt so aussehen wie du?" (S. 19). Die vom Sex regelrecht besessene Lehrerin beschreibt die Hand einer Kollegin, die sie nicht mag, als "Schweineklaue" (S. 69) und mokiert sich über "irgendein grausiges Geschöpf, dessen Kinn und Füße im Vergleich zum restlichen Körper monströs erschienen" (S. 20).

Nichts hasst Celeste so sehr wie ältere, verwelkende und imperfekte Körper: "Wie bei einem Kind löste der Gedanke an Paare mittleren Alters... Entsetzen und Abscheu in mir aus" (S. 47). In solchen Passagen erinnert Celeste nur zu brutal an uns selbst, an unsere heutige Gesellschaft, in der nur vermeintlich gut aussehende Menschen, nur schönheitsoperierte Top-Models und gutaussehende Menschen eine Chance haben und alle anderen verteufelt werden und in der Versenkung verschwinden.

Letzten Endes ist "Tampa" daher ein zutiefst moralisches Buch. Celeste Price gleicht einer Fleisch gewordenen Anklage an unsere westliche, auf Konsum, Sex und Äußerlichkeiten reduzierte Welt und beinhaltet gleichzeitig den Aufruf, uns endlich wieder zu mäßigen. Insofern stellt "Tampa" nicht nur eine flammende Streitschrift gegen die Pädophilie dar, sondern Alissa Nutting hält uns auch den Spiegel vor und hinterfragt unsere eigenen moralisch-ästhetischen Grundsätze. Gerade in einer Zeit, in der in Deutschland sogenannte "Teenie-Bordelle" im Kommen sind, sollten wir uns fragen, ob wir unsere sexuelle Offenheit und unsere übersexualisierte Dauer-Hedonie nicht endlich einmal auf den Prüfstand stellen sollten.

Ich war auf ein oberflächlich um Aufmerksamkeit heischendes Möchtegerndebüt gefasst. Alissa Nuttings "Tampa" ist jedoch tief sensibel, tragisch berührend und hochintelligent; ich möchte sogar fast sagen, es ist in unserer Gesellschaft überfällig geworden.

Veröffentlicht am 26.02.2017

Gute biographische Übersicht

Caesar
0

Es handelt sich um eine Biographie zu Caius Julius Caesar, Anti-Held diverser Asterixheftchen, Lover von Cleopatra und Initiator des "Julianischen Kalenders“.

Die Biographie ist Teil einer von Manfred ...

Es handelt sich um eine Biographie zu Caius Julius Caesar, Anti-Held diverser Asterixheftchen, Lover von Cleopatra und Initiator des "Julianischen Kalenders“.

Die Biographie ist Teil einer von Manfred Clauss herausgegebenen Reihe von Kurzbiographien zu dominanten Persönlichkeiten der Antike. Beispielsweise werden auch beleuchtet: Ramses II, Kleopatra VII., Sulla, Augustus, Septimius Severus und viele andere.

Caius Julius, genannt "Caesar“ ist bis heute eine der interessantesten Persönlichkeiten der Weltgeschichte geblieben. Was den Reiz dieser Person ausmacht, fasst Will bereits auf einer der ersten Seiten zusammen: "... ständig drohte er zu scheitern und fand doch in letzter Minute immer einen Ausweg“ (Seite 13). Von Sulla, der Rom in den 80-er Jahren v. Chr. beherrschte, war er bereits auf die Proskriptionsliste gesetzt worden, finanzielle Schwierigkeiten zwangen ihn zu einer hohen Verschuldung, um seine Karriere fortsetzen zu können.

Als römischer Promagistrat in der Gallia Narbonensis (heutige Provence) zettelte er vollkommen willkürlich und nahezu ohne jeden Grund einen siebenjährigen Krieg an, an dessen Ende die vollkommene Unterjpochung ganz Galliens (ganz Galliens? Asterix wäre anderer Meinung) und die Versklavung tausender bis dahin freier Menschen stand. Mit der Überschreitung des von Christian Wulff im Jahr 2012 zitierten und auf eine Mailbox gewullften Rubikons begann der Bürgerkrieg, der in den Schlachten von Pharsalos (48 v. Chr. gegen Pompeius), Alexandria (47 v. Chr. gegen Gnaeus Ptolemaios), Zela (47 v. Chr. gegen Pharnakes II. von Pontos; anlässlich dieses Sieges fiel auch der berühmte Ausspruch: "veni, vidi, vici“) und Munda (45 v. Chr. gegen Sextus Pompeius) entschieden wurde. Hochmütigkeit und diverse politische Fehleinschätzungen führten schließlich dazu, dass Caesar an den Iden des Monats März im Jahr 44 v. Chr. ermordet wurde.

Die Biographie ist recht locker geschrieben, sehr leicht zu lesen und – da sie recht dünn ist – hat man sie auch sehr zügig durch. Auch die anderen Bände der Reihe sind sehr empfehlenswert. Ich persönlich fand das Buch echt gut.

Veröffentlicht am 26.02.2017

Netter und humorvoller Spaziergang durch die Geschichte der Partnersuche

Mr. Right und Lady Perfect
0

Dating- und Kennenlern-Ratgeber gibt es in unserer Kultur ja mittlerweile in Hülle und Fülle - vom gehobenen Guide zur funktionierenden Partnerschaft bis hin zum stereotypen und dummen Pick up-Ratgeber ...

Dating- und Kennenlern-Ratgeber gibt es in unserer Kultur ja mittlerweile in Hülle und Fülle - vom gehobenen Guide zur funktionierenden Partnerschaft bis hin zum stereotypen und dummen Pick up-Ratgeber neuzeitlicher Möchtegern-Casanovas wie Arne Hoffmann und Maximilian Pütz.

Was es bisher eher noch nicht gab, waren Bücher wie dieses, die einen kleinen Überblick über die Geschichte der Partnersuche geben: Annegret Braun stellt in diesem, mit Schwarzweißfotos garnierten, sehr kurzweilig geschriebenen Bändchen humorvoll und frisch all die amüsanten, missglückten oder doch noch erfolgsgekrönten Vermittlungs- und Findungsversuche im Lauf der Zeiten zusammen. Von Datingportalen im Internet, Cafés, Tanzbars, von Verkuppelungsversuchen von Freundin bis hin zu Heiratsanzeigen in der Zeitung ist alles dabei.

Besonders schön finde ich die zahlreichen Hinweise auf entsprechende Passagen in den Werken großer Literaten: Gleich am Anfang werden zwei große deutsche Werke zitiert - Fontanes "Effi Briest" und Thomas Manns "Buddenbrooks" - in denen die jeweiligen Protagonistinnen auf jeweils zeittypische Art und Weise ihren Partner vermittelt bekommen - in beiden Fällen jedoch zum nachmaligen Unglück Effis bzw. Antonies: Die eine bekommt einen konservativen Baron, die andere einen betrügerischen Großhändler...

Alles in allem ein sehr charmantes, kleines, schnell zu lesendes und garantiert nicht langweiliges Buch!!!!!

Veröffentlicht am 26.02.2017

Zynisch

Todesmarsch
0

Neben Amok und Menschenjagd gehört „Todesmarsch“ zu den besten Romanen, die Stephen King unter dem Pseudonym „Richard Bachmann“ schrieb. Das Werk enstand bereits im Jahr 1979 und wurde unter dem Titel ...

Neben Amok und Menschenjagd gehört „Todesmarsch“ zu den besten Romanen, die Stephen King unter dem Pseudonym „Richard Bachmann“ schrieb. Das Werk enstand bereits im Jahr 1979 und wurde unter dem Titel „The long walk“ zum ersten Mal veröffentlicht.

Die USA – in einer düsteren, dystopischen und grausamen Zukunft. Aus dem „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ ist ein totalitäter Staat geworden, angeführt von einem Mann, der sich selbst nur als „Der Major“ bezeichnet.

Um die Volksmassen zu unterhalten, lässt „Der Major“ ein ganz besonderes Spektakel veranstalten: Einhundert jugendliche Männer (die sich freiwillig gemeldet haben) werden auf einen Marsch quer durch Amerika geschickt. Ohne zu schlafen, ohne zu essen müssen sie marschieren – wer zu langsam wird oder ganz aufgibt, wird von nebenher mitfahrenden Soldaten erschossen. Der letzte Überlebende ist auch der Sieger in dieser zynischen Form der Massenbelustigung.

Raymond Garraty ist einer der hundert Männer. Eigentlich weiß er selbst nicht genau, was ihn zu diesem Vorhaben, am Todesmarsch teilzunehmen, bewogen hat, denn er hat alles, was er braucht: Eine intakte Familie, eine Freundin und einen Job. Doch als er schließlich auf dem Areal steht, auf dem es losgeht, gibt es für ihn kein Zurück mehr.

Wie alle Bachmann-Bücher ist auch dieses absolut hochwertig. Wo bei Amok noch psychologische Spielchen im Vordergrund stehen – und bei Menschenjagd ganz einfach die Action – so ist es hier die Entbehrung und die Not all jener, die auf dem Marsch sind. Hart, finster und zynisch werden die Strapazen des grausamen Weges geschildert – und der Leser leidet mit. Ein absolut gelungenes Werk.

Veröffentlicht am 26.02.2017

Sprachlich intensiv, inhaltlich bewegend

Unscharfe Bilder
0

Eine Hamburger Lehrerin entdeckt auf einem alten, reichlich verschwommenen und unscharfen Foto, das Wehrmachtssoldaten bei der Erschießung von russischen Zivilisten zeigt, ihren Vater als einen der Schützen.

Obwohl ...

Eine Hamburger Lehrerin entdeckt auf einem alten, reichlich verschwommenen und unscharfen Foto, das Wehrmachtssoldaten bei der Erschießung von russischen Zivilisten zeigt, ihren Vater als einen der Schützen.

Obwohl ihr Vater schon sehr alt ist und mittlerweile in einem Seniorenheim lebt, beschließt sie, ihn zur Rede zu stellen und herauszufinden, ob er auf dem Bild zu sehen ist oder nicht. Sie stellt ihm also die berüchtigte Frage, was er denn im Krieg gemacht hätte. Eine Reise in eine finstere Zeit beginnt...

Das Buch – ca. 280 Seiten dick – ist sehr schnell zu lesen; ich hatte es nach zwei Tagen schon durch. Natürlich wird man als Leser sofort von der Frage gepackt, ob denn wirklich der Vater auf den Bildern zu sehen ist – die Auflösung auf den letzten Seiten ist verhältnismäßig verblüffend.

Der Weg dorthin führt über ein abwechslungsreich erzähltes Kaleidoskop eines Soldatenschicksals in den vierziger Jahren an der Ostfront, grausamsten Krieg, den die Menschheit jemals erleiden musste. Ulla Hahn findet sehr durchschlagende, effektvolle Formulierungen, die den Horror von damals gut in Worte fassen:

„Als wir uns raustrauen, ist das Gelände mit den Leichen russischer Soldaten übersät. Ein Panzer rollt darüber. Ein zweiter, dritter durch den blutigen Brei. Grausige Überreste in den Raupenketten. Von Menschen. Sogar unser Feldwebel bebt vor Entsetzen. Dazu die Schreie. Schreie von Verwundeten, Schreie von Wahnsinnigen...“ (Seite 39 in meiner 2006 erschienenen, zweiten Auflage).

Der Stil des Buches ist unmittelbar und an Stellen wie der soeben zitierten ziemlich verstörend. Ich habe in Paul Carells Buch „Unternehmen Barbarossa im Bild. Der Russlandkrieg fotografiert von Soldaten (Berlin 1967)“ eine Fotographie gesehen, die dem geschilderten Bild oben recht ähnlich sieht, woran man die Realitätsnähe und Wirklichkeitstreue von Ulla Hahns Buch doch gut sehen kann.

„Unscharfe Bilder“ ist aber nicht nur ein grausiger Frontbericht, sondern auch eine unaufdringliche Lehrstunde über Schuld, Vergessen und Erinnerung. Ich habe das Buch nachdenklich und tief bewegt zur Seite gelegt, als ich es gelesen hatte.