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Veröffentlicht am 26.12.2017

Ein Klassiker für die ganze Familie - auch als Hörbuch

In 80 Tagen um die Welt
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Das Leben des britischen Gentleman Phileas Fogg ist bestimmt von Regelmäßigkeit, Pünktlichkeit und ohne tiefere Gemütsregungen. Täglich sucht er seinen Club zur gleichen Zeit auf, um dort Whist zu spielen ...

Das Leben des britischen Gentleman Phileas Fogg ist bestimmt von Regelmäßigkeit, Pünktlichkeit und ohne tiefere Gemütsregungen. Täglich sucht er seinen Club zur gleichen Zeit auf, um dort Whist zu spielen – solange, bis er sich auf eine Wette einlässt, schließlich ist er Brite.

Der Klassiker ist vermutlich den meisten wohlbekannt, das Buch wird häufig gerne als Jugendbuch verschenkt, gerade mit einer Eignung auch für Jungen (Abenteuergeschichte, nicht zu lang, männliche Hauptfigur, fremde Länder, ein Hauch Technik). Ich habe selbst schon eine Version als Graphic Novel für genau diese Gruppe genutzt, das nur am Rande. Weitere Bekanntheit erlangte das Werk durch die vielen Verfilmungen. Von den Werken Jules Vernes ist es eines derjenigen, das sich nicht durch phantastische Elemente auszeichnet.

Ich habe mit der Familie auf mehreren längeren Autofahrten das Hörbuch genossen, eine ungekürzte Version, die nur als Download verfügbar ist, gelesen von Reinhard Kuhnert, mit einer Dauer von 7 Stunden und 55 Minuten.

Die Übersetzung, die der Lesung zugrunde liegt, ist sicherlich älter, so ist völlig sinnbefreit die Rede vom „schottischen Hof“ – hatte ich zuerst gar nicht verstanden: Scotland Yard. Gleichzeitig wird von „Mrs. Auda“ gesprochen, so viel mehr hätte man also auch dem deutschen Publikum zutrauen dürfen (sonst mag ich das ja, wenn die etwas betulicher wirkenden Formen beibehalten werden, davon gibt es sonst noch einige, die mehr Freude bereiten). Die Zeit, in der das Buch geschrieben wurde, darf man als Hörer nicht außer Acht lassen: da gibt es den jüdischen Kaufmann, der nicht mit sich handeln lässt, die Papua, die auf der niedrigsten Stufe menschlicher Bildung stehen, die „Wilden“ (Indianer) überfallen den Zug.

Ich habe auch den Verdacht, dass in meiner editierten Kinderbuchversion von früher keine zwei Hunde auf dem Weg in den Reform Club von der Kutsche totgefahren wurden, und an den Rädern des Zuges dürften nicht Blut und Fleisch der Indianer gehangen haben. Ehrlich gesagt, angesichts der Gewöhnung an political correctness führte das dazu, dass sich die Erwachsenen im Auto köstlich amüsierten, wir werden uns also für den Rest des Tages um Karma-Punkte bemühen. Einiges hat der gute Jules Vernes definitiv nicht so ganz hinbekommen, die Wintersonnenwende wird von ihm auf Ende Oktober verlegt, San Francisco ist die Hauptstadt Kaliforniens, und auf dem Weg nach Shanghai wird immer wieder gesagt, man sei auf dem Weg nach Yokohama (das ursprüngliche Ziele, das nun mit Umweg über Yokohama angesteuert wird).

Generell wurde das Hörbuch von Reinhard Kuhnert wirklich toll vorgelesen, er lässt klar die unterschiedlichen Sprecher hervortreten. Ich würde allerdings annehmen, dass er die TV-Verfilmung mit Peter Ustinov als Figgs kennt – das geht schon sehr in die Richtung. https://www.youtube.com/watch" target="_blank">https://www.youtube.com/watch" target="_blank">https://www.youtube.com/watch" target="_blank">https://www.youtube.com/watch?v=Jt6-ITbNIl4 Im offiziellen Trailer taucht er leider nur kurz und stumm auf, daher https://www.youtube.com/watch" target="_blank">https://www.youtube.com/watch" target="_blank">https://www.youtube.com/watch" target="_blank">https://www.youtube.com/watch?v=hBF162RClAQ
In vielen Filmen erscheinen Luftschiffe oder Zeppeline oder Ballons – nein, nicht im Text. Dafür fehlt in den Filmen praktisch immer der Segelschlitten.

Fazit: ein Spaß für die ganze Familie, auch wenn ich mir gewünscht hätte, dass man kleinere Fehler ausmerzt, daher nur sehr gute 4 Sterne.

Edit: gewühlt und die heimische Ausgabe gefunden, war meiner Erinnerung nach Teil eines Bundle mit Abenteuerbüchern vom Kaffeeröster, daher mit wenig "normalen" Angaben, um ein Buch zu identifizieren. Die Indianer kleben nicht an den Rädern, dafür gibt es auch gedruckt kein Pardon für Bello.

Und SO spielt man generell Whist https://www.youtube.com/watch" target="_blank">https://www.youtube.com/watch" target="_blank">https://www.youtube.com/watch" target="_blank">https://www.youtube.com/watch?v=9v5UxlUg55Y

Veröffentlicht am 16.11.2017

Glas ist wie die Liebe

Winterengel
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„Glas ist wie die Liebe“, so hat es die 18jährige Anna von ihrem verstorbenen Vater gesagt bekommen, „…Beides, Liebe und Glas, muss gefühlvoll behandelt werden, wenn es nicht zerbrechen soll.“ S. 5 Es ...

„Glas ist wie die Liebe“, so hat es die 18jährige Anna von ihrem verstorbenen Vater gesagt bekommen, „…Beides, Liebe und Glas, muss gefühlvoll behandelt werden, wenn es nicht zerbrechen soll.“ S. 5 Es ist 1895, Spiegelberg in Schwaben. Anna hat von ihrem Vater noch das Handwerk erlernt, sollte seine Glaswerkstatt erben, doch mit dem Niedergang der Glasindustrie in der Region durch die Konkurrenz aus Holland und den Wechsel des Geschmacks der Fürsten werden kaum noch die Dienste der Spiegelmacher benötigt. Die Familie ist verarmt, Werkstatt und Haus gepfändet, Anna muss sich ein gemietetes Zimmer mit der Mutter und der 12jährigen Schwester Elisabeth teilen. Die kaum Erwachsene hat Arbeit gefunden in der Werkstatt eines Kollegen ihres Vaters, als Zubrot fertigt und verkauft sie kleine Glasfiguren, Winterengel. Durch diese erweckt sie tatsächlich die Aufmerksamkeit von Queen Victoria und erhält einen geheimnisvollen Brief…

Wintergeschichte, historischer Roman, Krimi und Liebesgeschichte, das alles ist der Roman von Corina Bomann. Ich habe Anna schnell ins Herz geschlossen, die junge Frau, die es sich verbietet, noch Träume zu haben, sondern lieber etwas Anständiges zum Essen auf dem Tisch haben will. Dennoch wird ihr genau das hier präsentiert, die Chance, ihr Leben zu wenden, satt zu werden UND ihre Träume zu erfüllen. Das birgt ein großes Risiko: wenn sie geht, die Engel in England zu präsentieren, riskiert sie ihre sichere Anstellung in Deutschland. Doch das eigentliche Risiko erweist sich als noch größer, in Gefahren für ihr Leben, ihre Zukunft und…

Gerne habe ich diesen Roman gelesen, hielt auch den befürchteten Kitschfaktor nach der Leseprobe für gering. Wie sagt die Mutter zu Anna? „Ich mache mir immer Sorgen um dich, da kannst du sagen, was du willst“, entgegnete Mama. „Ich mache mir Sorgen, wenn du morgens aus dem Haus zum Arbeiten gehst. Wenn du in der Glaswerkstatt bist. Wenn du in der Dunkelheit die Landstraße entlanggehst. Wenn du auf dem Markt bist. Du bist meine Tochter, und ich glaube, es wird nie aufhören, dass ich mir Sorgen mache.“ S. 79 Das ist nachvollziehbar, eher nicht kitschig. Somit habe ich die Lektüre genossen, bis, ja bis auf die letzten knapp 100 Seiten. Liebesgeschichten sind zugegebenermaßen nicht meins, und die spezielle war mir dann doch etwas zu vorhersehbar, watteweich und, ja zu kitschig. Das ist jetzt nicht so, dass es mir den vorangegangenen Teil komplett verleidet, mir aber einen zu stark zuckrigen Geschmack im Mund zurücklässt. Dazu mag ich vielleicht bei dem Paar am Buchende an ein Chance bei so unterschiedlichem Hintergrund glauben, weniger jedoch daran, dass einer Frau mit einem Ehemann aus dieser Gesellschaftsschicht dieser spezielle Berufswunsch möglich war.

Also: Für die Liebhaber von Liebesgeschichten, die über das Genre hinausgehen wollen: perfekt. Für die, die einen geringen Anteil von Liebesgeschichte ertragen: immer noch. Für mich war es eher ein kurzweiliger Schmöker für nebenbei, der mir dann direkt am Heiligabend leichter durch die Fingerkuppen gerutscht wäre…
4 Sterne. Das Buch kann ja nix dafür…

Veröffentlicht am 02.10.2017

Die Seite des Lichts und die Seite der Dunkelheit

Das blaue Medaillon
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Die Seite des Lichts und die Seite der Dunkelheit bezieht sich auf S. 264

Der „Unterricht“ lief gut – die 21jährige Alessa hat es unbemerkt geschafft, hoch an venezianischen Hauswänden und über Dächer ...

Die Seite des Lichts und die Seite der Dunkelheit bezieht sich auf S. 264

Der „Unterricht“ lief gut – die 21jährige Alessa hat es unbemerkt geschafft, hoch an venezianischen Hauswänden und über Dächer zu klettern, ein geschlossenes Fenster und schließlich ein Schloss zu öffnen. Ihre Kletterkünste sind es, wofür der Großvater, Meisterdieb der alten Schule, sie wenig schmeichelhaft „Gecko“ nennt; sie setzt die Familientradition fort wie schon ihre früh verstorbenen Eltern. Die einzige, die aus der Familientradition ausbrach, war ihre Tante, eine Schauspielerin, die jetzt im Sterben liegt, nicht jedoch, ohne dafür zu sorgen, dass Alessa von dem Familiengeheimnis erfährt: die Eltern waren ermordet worden, weil sie bei der „Arbeit“ an kompromittierende Unterlagen gelangt waren. Der „Schlüssel“ für deren Versteck ist ein blaues Medaillon, das jetzt an die Nichte geht. Doch direkt nach der Heimkehr aus dem Trauerhaus findet die junge Frau daheim ihren Großvater vor, ermordet. Der Mörder ist noch im Haus…

In diesem Roman über das Jahr 1676 zwischen Venedig und Celle verwebt Autorin Martha Sophie Marcus geschickt fiktives Personal mit historischen Persönlichkeiten sowie dem Brauch, zur Unterhaltung bei Hofe Künstlertruppen auftreten zu lassen und sich selbst an dem Schauspiel zu beteiligen, ehrlich gesagt das erste Mal, dass ich die Figuren der Commedia dell’arte nachvollziehbar fand. Der Roman selbst ist ein angenehmer Zwitter aus historischem und Abenteuer-Roman mit einem Schuss Romantik, bleibt jedoch weitgehend frei von Kitsch und rührseliger Melodramatik (das erste, was für mich etwas „weniger“ hätte sein dürfen, war:„…nur einen Wimperschlang später küssten sie sich, als wäre es in ihrem Gespräch nie um etwas anderes gegangen, als den richtigen Zeitpunkt für einen Kuss zu finden.“ und kommt erst auf Seite 169, also, sei’s drum). Dafür gibt es als Ausgleich sehr viele ziemlich humorvolle Stellen, herrlich die Szene mit den Hosen (man lernt gelegentlich eine mildere Version von Kempf kennen, dem man eine solche Aktion wünschte).

Ja, die Romantik war mir (wie meistens bei Romantik) ein klein wenig vorhersehbar, viele der spannenden Wendungen so jedoch gar nicht, womit man mit diesem Buch schlicht eine breite Zielgruppe an breiter Front glücklich machen dürfte; insgesamt jedoch wohl eher ein „Frauenschmöker“, sorry Jungs, der mir Spaß gemacht hat: Allein aufgrund der weiblichen sympathischen Hauptperson, die aufgrund ihrer besonderen „Profession“ und ihrer Tarnidentität sicher über mehr Freiheiten verfügte als für Frauen der Zeit üblich. Wie häufig, ziehe ich selbst aus historischen Romanen, die in der früheren Neuzeit in Deutschland handeln, für mich persönlich meist etwas weniger das Gefühl heraus, wirklich extrem viel in das Zeitgefühl einzutauchen (das liegt aber wohl an mir, bei historischen Krimis gelingt es meist), eher sind es für mich die Details, die ich gerne aufnehme, wie hier – gut gemacht – die „echten“ Charaktere, die „mitspielen“, die aufwendigeren Reisen, die Kleidung, die Standesunterschiede, die venezianische Schauspieltradition, die aufgeführte „Wirtschaft“, die Ränkeschmiede am Hof, Wie bemerkt Alessa so schön: „Ich glaube nicht, dass jemals ein Herrscher für längere Zeit mächtig blieb, der nicht bereit war, seine Macht auch durch Erpressung und Mord zu verteidigen.“ S. 344

Um die Einschränkung für mich zu erklären: mir fällt das Eintauchen in historische Szenarien am leichtesten, je mehr Aufwand ich dafür betreiben muss, z.B. Osmanisches Reich = fremde Region, Kultur, Religion UND Zeit. Das ist aber „Nörgeln auf hohem Niveau“, innerhalb des Genres hat das Buch definitiv sehr gute 4 von 5 Sternen und ich würde auch mehr von Martha Sophie Marcus lesen, deren blaues Medaillon für mich so eine Art Überraschungs-Ei ergab: spannend, süß (wenn auch nicht so heftig wie das Schoko-Original), und viel Spiel… in einem überraschend angenehmen Mix. Übrigens schreibt sie ihre Romane abgeschlossen, nicht als Reihen, was fast schon ein Alleinstellungsmerkmal ist, wenn – wie mich – Reihen-Zwänge gelegentlich nerven (wobei ich mir vorstellen könnte, dass Alessas „Ausbildung“ auch in einem Folgeband mit einem ganz speziellen Partner und einem ganz speziellen Auftraggeber helfen könnte, so eine Art Spionage… – nun, das möchte jeder selbst nach der Lektüre beurteilen).

Besonders hervorheben möchte ich hier die Autorin, die die Leserunde wirklich fantastisch begleitete und dabei Fragen beantworte und Einblicke gab zu Recherche, ihrer Arbeitsweise und letztlich Entstehung des Romans, das war ein besonderes Vergnügen und ich danke für die lobenswerte Geduld beim immer freundlichen geduldigen Beantworten wirklich vieler Fragen.

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Veröffentlicht am 27.09.2017

„Alles, was der Schiedsrichter nicht sieht, geht irgendwie in Ordnung.“

Kakerlaken
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„Alles, was der Schiedsrichter nicht sieht, geht irgendwie in Ordnung.“ Zitat von S. 174

In Thailand wurde der norwegische Botschafter tot aufgefunden, mit einem Messer im Rücken, in einem Bordell. Er ...

„Alles, was der Schiedsrichter nicht sieht, geht irgendwie in Ordnung.“ Zitat von S. 174

In Thailand wurde der norwegische Botschafter tot aufgefunden, mit einem Messer im Rücken, in einem Bordell. Er war ein langjähriger Freund und Weggefährte des Ministerpräsidenten, also will man einen Skandal verhindern: Auftritt Harry Hole, der extra von der norwegischen Polizei geschickt wird. „Er kannte das Geheimnis, wie man mit hoher Luftfeuchtigkeit umging. Sie musste einem einfach scheißegal sein.“ S. 47 Doch an diesem Fall kommt Harry einiges nicht geheuer vor: warum waren keine Kondome vorhanden? Warum hatte der Botschafter weniger Bargeld dabei, als üblicherweise an diesem Ort nötig? Dazu wird ein Koffer mit kinderpornographischen Fotos gefunden…

In diesem zweiten Fall der Reihe ermittelt Harry gemeinsam mit seinen thailändischen Kollegen, voran Thai-Amerikanerin Liz Crumley und ihr Team. Im Nacken haben beide diverse Politiker und Botschaftsangehörige, die feuchtschwüle Hitze und den unübersichtlichen Verkehr der Hauptstadt Bangkok. Bald wird ihm klar, dass nicht nur der Täter wenig Interesse daran haben kann, dass die Wahrheit ans Licht gerät; auch in Norwegen hat man ihm nicht alle Details mitgeteilt. Während er langsam lernt, lokale Sitten bei seinen Ermittlungen respektieren zu müssen, tritt er bereits einigen Figuren der Unterwelt kräftig auf die Zehen – was nicht nur gesund für ihn ist. Doch dann kommt es zu einer dramatischen Entwicklung, und während sich fast alle mit den präsentierten einfachen Lösungen zufrieden stellen lassen, gibt Harry den Ermittlungen noch eine entscheidende Wende…

Ich habe diesen zweiten Harry Hole in gut einem Tag gelesen und mag den sehr speziellen Humor von ihm und Autor Nesbø. Wiederum gibt es nach dem eigentlichen Ermittlungsende noch eine ganz neue Entwicklung, dieses Mal allerdings in deutlich geringerem Seitenumfange als bei Band 11 (mit dem war ich auf die Reihe gestoßen) und bei Band 1. Dafür stieg in diesem Band 2 dann natürlich die Komplexität der neuen Erkenntnisse, was nach meiner Meinung nicht notwendig durchgängig gut nachvollziehbar war (das „Ballett“ der Tatdurchführung wirkte wie in einigen Columbofilmen, inklusiver bestimmter technischer Geräte, Bekleidungen, etc.). Dafür erspart das Buch dem Leser weitere Details, die über die gefundenen Fotos hinausgehen. Ebenso gibt es zwar körperliche Auseinandersetzungen, aber keine größeren Gewaltorgien.

Genial, wie Harry seine Prinzipien erklärt – auch wenn alles andere dabei vor die Hunde geht. Die Figur ist wirklich konsistent gezeichnet und nachvollziehbar, auch wenn sich dieses Mal der Autor spart, die Erkenntnis zum Alkoholproblem langsam dämmern zu lassen: gleich zu Beginn wird Harry sternhagelvoll in einer Bar aufgesucht. Er trinkt gerade „kontrolliert“, also nur das ungeliebte Bier statt Jim Beam und nicht bei der Arbeit. Das nimmt dem Ganzen vielleicht die Überraschung, dennoch schafft das Buch den Drahtseilakt, sowohl die Verführung als auch die Konsequenzen des Konsums darzustellen. Und wieder kann man als Leser anhand der Ermittlungen mitkombinieren!

Während ich Buch 11 wirklich ohne jegliche Vorkenntnisse mit Genuss lesen konnte (Band 1 logischerweise sowieso), referenzierte Band 2 deutlich auf den Erstling, besonders auf die Ereignisse in Sydney sowie die beiden verstorbenen Lieben Holes, Birgitta und Kristin, ohne Band 1 dürfte das jedoch nicht nachvollziehbar sein; eine kleine Schwäche, die ich gerne verzeihe (die Alternative wäre gewesen, die Handlung des Vorbandes zu verraten, da erlebe ich lieber ein paar auftauchende vage Geister der Vergangenheit und schreite fort zu Band 3). Insgesamt damit jedoch knapp einen Stern schwächer als der Vorband und gute 4 Sterne von 5.

Veröffentlicht am 10.09.2017

Vom Glauben, Wissen und Fühlen

Die Salbenmacherin
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Tübingen, 1408. Ein finsterer Geselle schleicht durch die nächtlichen Straßen der Stadt, er hat einen Sack bei sich und er will töten.
Gleichzeitig in Konstantinopel. Olivera arbeitet mit ihrer Großmutter ...

Tübingen, 1408. Ein finsterer Geselle schleicht durch die nächtlichen Straßen der Stadt, er hat einen Sack bei sich und er will töten.
Gleichzeitig in Konstantinopel. Olivera arbeitet mit ihrer Großmutter in der Offizin, der Salbenküche, und ist ungeduldig: viel zu alt findet sie sich mit ihren schon 16 Jahren dafür, dass sie von ihrem griechischen Vater immer noch nicht verheiratet wurde, da dieser warten möchte. Und das, während gerade der heimliche Schwarm der jungen Frau zu Gast ist, der deutsche Fernhändler Laurenz Nidhard, mit seinem für sie ungewöhnlichen rotblonden Haar. Doch ihn verbinden Geschäfte mit Oliveras Vater, von denen die Männer den Frauen lieber nicht erzählen.

Fast hat man den Einstieg in das Buch vergessen, während sich die Handlung zwischen den jungen Leuten als Liebesgeschichte mit leidenschaftlichen Details entfalten könnte; nicht unbedingt mein Genre, selbst wenn es sich um einen historischen Roman handelt: zu häufig ist das historische nur das „Feigenblatt“ für schlicht einen Liebesroman mit viel Kitsch und wenig historischem Anteil. Nicht so hier, die Kombination aus Kriminalroman mit sehr viel historischem Hintergrund, speziell auch zum Thema der Salbenküche, und, ja, auch einem Anteil an Liebesgeschichte hat mir viel Freude bereitet. Mich belustigte, wie viele „wärmende Tränke“ es bereits zum Frühstück gab, aber in Ermangelung hygienischer Alternativen (und Heizungen) sicher realistisch.

Was nun die Verbindung zwischen Olivera und Laurenz sowie den Untaten in Laurenz‘ Heimatstadt angeht, da kam mehr, als ich erwartet hatte, viel mehr. Viel hat der Aberglaube der Zeit mit der Handlung zu tun und viel erfährt man auch über die Einstellung der Leute. Da ist das kosmopolitische Konstantinopel, wo Olivera gebildet heranwächst, wenn sie auch stark behütet wird und vor allem auf die Schicklichkeit geachtet wird. Und da ist das kleinstädtische Tübingen, das Fremde misstrauisch beäugt und schnell Aberglaube und Vorurteile zugrunde legt. Der Glaube, dass Armut und Krankheit als Strafe Gottes zu werten sind und damit ihre Bekämpfung als gotteslästerlich, wiegt vor. Geschickt fügt Autorin Silvia Stolzenburg Erklärungen zu vielen Begriffen und Zusammenhängen dadurch ein, dass Olivera sie Laurenz erklären muss oder umgekehrt.

Medizinisch-naturheilkundliche Themen interessieren mich und über den Beruf der Salbenmacherin hatte ich noch nichts gehört: Sie steht damit sowohl Hebammen zur Seite als auch dem Medicus, dem Apotheker oder als etwas, was man heutzutage wohl in einer Drogerie finden könnte, mit diversen Schönheitsmittelchen; faszinierend, wie deren Zubereitung aber auch die mittelalterliche Konstitutionslehre als Grundlage für Behandlungen mit einfließen (wer sich mit Shakespeare oder Molière beschäftigt hat, wird das lieben). Auch die Rolle der Frau fließt gebührend ein, herrlich die Ehevorbereitung durch die Oma: „Du weißt sicher, dass der weibliche Körper kälter, schwächer und poröser ist als der des Mannes“ Kapitel 12, wobei Oliveras Erziehung wohl eher recht modern ist, Konstantinopel und ihrer Herkunft entsprechend, im Gegensatz zu Tübingen.

Hervorragend: es gibt ein Glossar, das ich aufgrund der geschickten Textführung aber nicht brauchte, ausführliche Erläuterungen der Autorin zur Einordnung sowie ein Literaturverzeichnis, das ist richtig gut gemacht alles. Manko? Für den, den es stört: die Anteile Liebesroman sind schlicht genau das - wenn mich hier persönlich das auch in dem Gesamtkontext dann (fast zu meiner Überraschung) überhaupt nicht nervte. Und vielleicht fällt es mir nur auf, weil ich Christin bin: kann jemand mit Religion nichts anfangen, stört mich das nicht, hinterfragt jemand, finde ich das sogar gut und in dem vorhandenen historischen Kontext fände ich es sogar sehr angebracht, aber mir erwähnte Olivera etwas zu oft Sätze wie in Kapitel 2 „Doch war sie sich seit Langem sicher, dass Gott kein Ohr für die Anliegen der Frauen hatte.“ Es sind aber nur die wenigen Stellen; ich werde mir wohl den Folgeband trotzdem besorgen. Ach, und irgendwann war mir eine bestimmte Entwicklung für das Ende klar, einfach, weil es dem Kanon dessen entspricht, wie sich Hauptfiguren entwickeln „dürfen“, falls es sich denn nicht um einen Roman wie die „Buddenbrooks“ handelt, bei dem wir dem Niedergang aller beiwohnen dürfen (genauer geht es nicht, ohne zu spoilern). Ohne das überzubewerten, legen meine heißgeliebten Krimis wie auch andere Schmöker da wohl auch andere Erwartungshaltungen der Leser zugrunde als anspruchsvollere oder experimentellere Romane, aber deshalb wechsele ich ja auch gerne die Genres…

Gute 4 Sterne und eine echte Lesefreude unter Erweiterung des Wissens!