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Veröffentlicht am 13.06.2017

Richtig guter „Zwitter“ aus Kriminal-, historischem und Hamburg-Roman – sehr spannend!

Der Schieber
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„Die alte Hutkrempenregel: Verletzungen, die durch einen Sturz verursacht werden, liegen am Kopf stets so, dass man sie sehen würde, hätte das Opfer einen Hut auf. Die meisten Schädelverletzungen hingegen ...

„Die alte Hutkrempenregel: Verletzungen, die durch einen Sturz verursacht werden, liegen am Kopf stets so, dass man sie sehen würde, hätte das Opfer einen Hut auf. Die meisten Schädelverletzungen hingegen befinden sich höher am Schädel.“ S. 214 So lernen Leser und Frank Stave gleichermaßen, der Hamburger Oberinspektor, der doch viel lieber wie vor dem Krieg „Kommissar“ heißen würde. Die Schädelverletzungen hat das bereits zweite Opfer – oder sind es gar drei Opfer? Alle sind Jugendliche – alle hatten zuvor bereits ihre Eltern an den Zweiten Weltkrieg verloren. Hamburg, ab dem 30.05.1947. Die Stadt liegt in Trümmern, steht unter britischer Verwaltung.

Cay Rademacher lässt das Nachkriegs-Hamburg plastisch auferstehen mit seiner Zerstörung, dem Schwarzmarkt, der Rationierung und Knappheit von fast allem – aber auch schon mit den ersten Gewinnlern und denen, die dauerhaft alles verloren haben: entwurzelten Kindern, die durch Bombenangriffe in Hamburg selbst oder auf der Flucht aus deutschen Ostgebieten ihre Eltern verloren haben, die von klein auf nur den Lebenskampf erlernt haben und sich so nicht mehr einfügen können in die „neue Zeit“. Da wird der Roman fast zur Gesellschaftsstudie, ohne erhobenen Zeigefinger, aber mit etlichen eingeflochtenen Persönlichkeiten des wahren Lebens, wenn sich sein Personal durchschlägt, wenn die Briten Blohm und Voss demontieren lassen, den früheren Konkurrenten, wenn es schiefe Blicke der Nachbarn gibt angesichts neuer Beziehungskonstellationen nach dem Verlust der alten, wenn die Alpträume kommen und die Heimkehrer aus den Gefangenenlagern. Der Text versetzt mich als Leser sehr plastisch hinein.

Und dennoch: Er bleibt Kriminalroman, rasant dazu, mit seiner unmittelbaren Wirkung auch durch das durchgängige Präsens des Textes, der sich nach meiner Meinung für Liebhaber des Genres als auch für Liebhaber historischer Romane gleichermaßen eignet und viel über Hamburg berichtet, besonders aus dem Milieu der Werften. Es ist kein klassischer „Whodunnit“, bei dem der Leser über Informationen zum Miträtseln verfügt, vielmehr begleitet er Stave und seinen britischen Gegenpart, Lieutenant James MacDonald, bei den Ermittlungen, wie auch schon im ersten Band der Reihe – in diesem Falle inklusive Showdown zum Ende, das Buch hat mir eine Nacht doch reichlich zum Tage gemacht. Ich hatte den ersten Teil vorher gelesen https://www.lesejury.de/cay-rademacher/buecher/der-truemmermoerder/9783832161545, jedoch ist das nicht zum Verständnis erforderlich; es gibt kurze Zusammenfassungen, ohne dass Autor Rademacher dabei zu ausschweifend wird.

Klare Leseempfehlung für Spannung, sympathische Protagonisten, eine nach meiner Meinung klug gewählte Auflösung, viel Zeit- und Lokalkolorit und dafür, dass ich neues gelernt habe sowohl über düstere Vergangenheit (Wolfskinder) als auch über (historisches) Arbeitsleben (Tallymann, Schauerleute, Stauer,…!). 5 Sterne, da Band 2 mir noch einen Tick besser gelungen erscheint als Band 1.

Veröffentlicht am 29.05.2017

Die Suche danach, was Frankreich, vielleicht unser aller globalisiertes Leben, ausmacht

Die Schuld der anderen
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„Wir brauchen keine Gerechtigkeit. Ein Kompromiss ist uns lieber als der gerechte Krieg.“ S. 328 Eine ernüchternde Aussage ernüchterter Menschen, die nicht zu den Gewinnern gehören, aber einmal nicht zu ...

„Wir brauchen keine Gerechtigkeit. Ein Kompromiss ist uns lieber als der gerechte Krieg.“ S. 328 Eine ernüchternde Aussage ernüchterter Menschen, die nicht zu den Gewinnern gehören, aber einmal nicht zu den Verlieren zählen wollen. Und dann gibt es andere, Menschen wie Marc Rappaport und wie Emilie Thevenin, die nicht nachgeben wollen. Das wenig begüterte Provinz-Mädchen Emilie geht nach Paris zum Geschichts-Studium, lässt sich ein auf das schnelle Geld für die schnelle Nummer und wird ermordet, 1984. Nur eine weitere tote Prostituierte – doch DNA-Spuren führen jetzt, dreißig Jahre später, weiter. Marc wittert eine Geschichte dahinter und beginnt, zu graben, er ist „Einer, der noch nicht gelernt hatte, sich mit Kompromissen herumzuschlagen wie jedermann.“ S. 24

Er wird tief graben in diesem Buch, das die französische Geschichte der Gegenwart darstellt, ohne dass man sich dafür großartig anstrengen muss, in einem Frankreich, das gewaltige Umbrüche erfahren musste, den Niedergang der traditionellen Industrien, der ganze Regionen veränderte. Einige Gymnasien erlauben neben dem Erwerb des Abiturs parallel den Abschluss einer Berufsausbildung, strikt auf die Bedürfnisse der lokalen Konzerne ausgerichtet. „Die Erfahrung der Arbeitslosigkeit saß der Provinz zu tief in den Knochen, hatte zu sehr die Erbsubstanz verändert, als dass einem eingefallen wäre, diese Kinder etwas lernen zu lassen, das kein sicheres Einkommen gewährte.“ S. 191
Eine Umverteilung der Macht und der Freiheit hat längst stattgefunden – die Konzerne entscheiden. Warum musste Emilie sterben? Welche Rolle spielt ihr Geburtsort? Im Verlauf der Recherche wird Marc von Prinzipien abweichen, in die Schusslinie geraten, unerwartete Wendungen erleben, Erschütterung.

„Der ganze Trick…ist, die Welt mit den Augen deiner Personen zu sehen.“ S. 304 so erklärt Marc, wie er es schafft, bei der Recherche die winzigen Details nicht zu übersehen. Wie ein Süchtiger taucht er in seine Recherche ein – und der Leser mit, in die Abgründe von Reise- und Zwangsprostitution, gesellschaftlichem Wandel, von Konzernen ohne Gewissen, von der Angst um den Arbeitsplatz, von Lücken in der Gesetzgebung, der Bündelung von Macht, den sinnlosen Gewaltexzessen, der Islamisierung. „Die gesamte journalistische und politische Elite nahm schon lange nicht mehr am gesellschaftlichen Leben ihres Landes teil. Sie war so isoliert wie Strafgefangene, nur dass sie sich selber ausgeschlossen hatte.“ S. 302. Emilies Vater war einer der Verlierer dieser Entwicklung.

Lustiger vertraut darauf, den Leser die Welt mit den Augen Marcs sehen zu lassen, aber nicht durchgängig. Zwischendurch kommen erklärende Absätze, lässt sie Marc philosophische Erwägungen anstellen. Das hebt das Buch weit über das Krimigenre, wenngleich es spannend bleibt, kommt jedoch nicht ganz ohne den erhobenen Zeigefinger aus. Und auch jüdische Identität muss erörtert werden, fast schon „Attack“-ähnliche Schlüsse müssen gezogen werden „Der Produktionsfaktor Mensch ist schon lange ersetzbar.“ S. 381. Ich mag dafür nur einen halben Stern Abzug geben, weil sie es so grandios schreibt, auch wenn sie gar viele Themen bedient und häufig glauben macht, die Komma-Taste der Tastatur am liebsten bedienen zu wollen: „Und obwohl es als Lob gedacht war, als Anerkennung seiner Fähigkeiten, diese Frau ergattert zu haben, hätte er den Eindringling, der unbefugt an etwas teilgenommen hatte, was er, Marc, alleine hatte genießen wollen, am liebsten zusammengestaucht.“ S. 144

„Französische Verhältnisse“ überschreibt der Verlag den Text auf der Rückseite. Das heißt statt StayFriends „Copain d’avant“ oder RTT Réduction du temps de Travail, das System der französischen Bildung – aber das wenige, was Lustiger nicht sofort erklärt, lässt sich fix nachschlagen. Was mich ernüchtert zurückließ war, wie stark sich bestimmte Muster auch bei uns finden. Da bemühen sich Menschen, sich nicht die Missgunst anderer zuzuziehen, während die Nivellierung sozialer Unterschiede zweitrangig ist „Gleichheit war schon seit Jahrzehnten ein Synonym für Neid geworden.“ S. 70. Überhaupt, die Bilder, die Sätze, die Gila Lustiger erschafft. Unverzichtbar für jeden, der sich für das aktuelle Frankreich interessiert – ein Gewinn, falls man zu aktuellen Themen angeregt werden möchte.

Eine passende Lektüre (vor oder nach diesem Buch) ist Karine Tuil: Die Zeit der Ruhelosen https://www.lesejury.de/karine-tuil/buecher/die-zeit-der-ruhelosen/9783550081750?tab=reviews&s=1&o=5#reviews (Dîner du Siècle, Judentum, Banlieues, Aufstieg, französische Eliten, Islamismus, Macht), wobei die in Frankfurt geborene und seit 1978 in Paris lebende Lustiger dem deutschsprachigen Leser das Hintergrundwissen (dadurch zugänglicher) mitliefert und sich dieses Buch hier wohl besser als erstes von beiden Büchern für nicht sehr tief mit Frankreich vertraute Leser eignen dürfte.

Veröffentlicht am 21.05.2017

The Monkey Trap (Harry Hole 11)

Durst
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...ich habe die englischsprachige Version gelesen namens "The Thirst"

So this is my first Harry Hole – no 11, no problem coming from not (yet) knowing the others.

So this is….
…a thriller. I could not ...

...ich habe die englischsprachige Version gelesen namens "The Thirst"

So this is my first Harry Hole – no 11, no problem coming from not (yet) knowing the others.

So this is….
…a thriller. I could not put it down. There were calmer parts – and then the level would suddenly rise again, with lots of unexpected turns.

So this is a who-dunnit. Normally, with a thriller it is about an offender more or less mysterious. Then it is about the hunt – unlike with crime stories where you guess along „who dunnit“. Here at some point, unexpectedly, you find you know about as much as the investigators – and start your own chase…

So this is about a pychotic killer on the loose. The murders are evil, the victims will not be “simply“ killed, there is a portion of sexual assault – but the descriptions keep some of it at a distance, describing what forensic says more often than dwelling too long in the actual situation. So: low ick factor (in terms of no Agatha Christie, more for a Mankell-fan than for Cody McFadyen). You won’t be spared nail biting and shock. „He used one of the dentist’s own drills to force her to take off her nylon stockings and put them over her head. First he raped her in the dentist’s chair, then he set fire to the stockings.“ p 170f No further detail, just your imagination.

So this is about some more complexity than mostly. Not really about the language level – although I enjoyed the dry sarcasm. The characters are great – who else has it that the loser will have his chance to become the heroe? Who will depict the heroes to be morally so questionable (sex, alcohol, family)? Who will risk popular figures? I am buying them all. And, again, the sarcasm, like when dry alcoholic Harry considers „An alcoholic hates and curses drink because it ruins his life. But at the same time it is his life.“ p 284

So this has some portion of love story – without the kitsch. Some portion of father-son-conflict – without giving you the creeps of feeling to endure pseudo-psycho-babbling. Some portion of inherent criticism in society in general and Norway to some degree without feeling lectured. Some portion of profiling, some of forensic analysis, some good old footwork, a little car chase…Did I mention complexity?! I wanted to have it all, do it all: yell at Harry when he looked at the bottle, hug him when his beloved Rakel gets in danger, stop him when he offered himself as…psst…

So this is good. Tinder and 3-D-printers as weapons, investigators living a life style no less risky than that of the victims of crime, thus blurring the frontier between “good“ and “bad“, a psychopath running wild, and a very special plot.

So this is my first Harry Hole – I had the chance to read the English version as the German is only due to come in October 2017 „Durst“ (there are 11 – two were described as early ones; so feel free to recommend whether to start with „The Bat“ / „Der Fledermausmann“ or rather „The Redbreast“ / „Rotkehlchen“).

Veröffentlicht am 12.05.2017

Wohlfühlbuch mit einem Hauch Magie, viel Nostalgie und voller Humor und Zuversicht

Mr. Peardews Sammlung der verlorenen Dinge
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„Charles Bramwell Brockley reiste allein und ohne Fahrkarte in dem Zug um 14.42 Uhr von London Bridge nach Brighton. Die Keksdose von Huntley & Palmers, in der er reiste, schwankte bedenklich auf dem Rand ...

„Charles Bramwell Brockley reiste allein und ohne Fahrkarte in dem Zug um 14.42 Uhr von London Bridge nach Brighton. Die Keksdose von Huntley & Palmers, in der er reiste, schwankte bedenklich auf dem Rand des Sitzes, als der Zug in Haywards Heath ruckelnd anhielt. Aber gerade, als die Dose nach vorn rutschte und auf den Boden des Waggons zu fallen drohte, wurde sie von zwei rettenden Händen aufgefangen.“ So lauten die ersten Sätze – die weiteren habe ich im Verlauf eines Tages inhaliert.

Das Buch wird keinen Preis für hohe Literatur gewinnen – aber viele Leserherzen so wie meines. Das Bindeglied, der Kitt, die die vielen kleinen Geschichten im Buch verwebt und schließlich zusammenbringt, ist Anthony Peardew – und das Lied der Frau, die er geliebt hatte, Therese. „Anthony überraschte nichts mehr, doch ein Verlust, ob groß oder klein, bewegte ihn immer.“ Er hat seine über alles geliebte Therese verloren – und auch, was sie ihm zur Aufbewahrung gegeben hatte. Dafür sammelt er, was andere verloren haben, wie besagte Dose mit Charles Bramwell Brockley, ordentlich etikettiert, mit dem Ziel der Rückgabe. Jetzt sieht er seine Kräfte schwinden – aber da ist seine Assistentin, Laura. Auch sie hat Verluste erlitten – eine Fehlgeburt, die gescheiterte Ehe – am meisten aber hat sie sich selbst verloren, die Zuversicht, das Zutrauen in sich selbst, ihre früheren Pläne.

Das Buch wechselt die Zeitebenen und die Perspektiven zwischen diesen und noch weiteren Protagonisten, man beginnt dabei immer mehr zu erahnen, wie viele dieser Handlungsstränge zusammenführen könnten. Dabei scheut die Autorin deutliche Worte nicht, wie zum verlorenen großen blauen Knopf – Margaret. „Sechsundzwanzig Jahre waren sie verheiratet, und er hatte sich Jahr für Jahr die größte Mühe gegeben, Margaret zu zeigen, wie sehr er sie liebte. Er liebte sie mit seinen Fäusten und seinen Füßen. Seine Liebe war die Farbe ihrer Prellungen.“ Oder, wiederkehrend, der Handlungsstrang mit Eunice und Bomber: „Bomber sagte, das Wunderbare an Büchern sei, dass sie Filme seien, die sich im Kopf abspielten.“ Ja, das war ein wunderbares Kopfkino.

Autorin Ruth Hogan baut geschickt die Bögen, Brücken und Nebenstraßen ihrer Welt, die durchaus magische Komponenten hat – so wie Sunshine, die Tochter der Nachbarn, die von Kindern früher gehänselt und als behämmert beschimpft wurde, die aber nicht nur erstaunlich klar sieht, sondern auch den wahren Charakter von manchen Dingen intuitiv erfasst, so wie die Geschichten über die verlorenen Gegenstände, von denen doch eigentlich keiner wissen kann, oder wie die Musik, die plötzlich erklingt. Einem anderen als diesem bezaubernden Buch würde ich Kitsch vorwerfen – sollte das hier jemand versuchen, könnte ich mir gut vorstellen, dass dieser Mensch sicher nicht nur keine Hunde mag, keine Gimlets oder keine gute Tasse Tee, aber dafür ihn doch bitte nächtliche Musik heimsuchen möge: Al Bowlly: The very thought of you.

Perfektes Getränk zum Buch: Eine gute Tasse Tee – und später ein Gimlet.
Perfekter Film nach dem Buch: Einer flog über das Kuckucksnest.
Ich könnte mir vorstellen, dass dieses Buch den gleichen Lesern gefallen könnte wie „Mr Gwyn“ von Alessandro Baricco (ohne die verschlungenen Gedankengänge) und vielleicht auch den Lesern von „Ein Mann namens Ove“ von Fredrik Backman, primär bezüglich der emotionalen Komponente.

Veröffentlicht am 10.05.2017

Achtung, Erwartungshaltung: Wirklich gut, doch eher Psychodrama denn Psychothriller

Wenn das Eis bricht
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„Wieder stellt sich dieses Gefühl ein: Ich bin in einem Film, bewege mich durch einsame Kulissen, auf dem Weg zu irgendeiner Lösung. Aber was für ein Film das ist, weiß ich nicht. Ein Drama, ein Thriller? ...

„Wieder stellt sich dieses Gefühl ein: Ich bin in einem Film, bewege mich durch einsame Kulissen, auf dem Weg zu irgendeiner Lösung. Aber was für ein Film das ist, weiß ich nicht. Ein Drama, ein Thriller? Eine Tragödie?“ S. 295 Emma, Hanne, Peter – aus der Sicht dieser drei Protagonisten, jeder als Ich-Erzähler, lesen wir diesen Roman. Auch, wenn der Satz nur von einem von ihnen stammt, könnte er doch für sie alle stehen. Emma ist Verkäuferin bei einer Bekleidungs-Kette, nachdem sie die Schule nicht beendet hatte, weil da zu viel in ihrer Kindheit war, Nagel, und ihre Eltern und der Alkohol ihrer Eltern. Jetzt hat sie eine heimliche Beziehung. Hanne, die Verhaltenspsychologin, brachte die letzten zehn Jahre die Energie nicht auf, ihren Mann zu verlassen, wie damals, vor zehn Jahren. Überall in der Wohnung sind kleine Merkzettel. Peter ist bei der Mordkommission und egal, was er tut, er wird die Toten nicht zurückbringen. Vor Beziehungen flüchtet er, da sind einfach zu viele Gräber auf dem Friedhof.

„Wer dein Freund und wer dein Feind ist, weißt du erst, wenn das Eis unter deinen Füßen bricht“ – dieses Sprichwort der Inuit ist dem Roman der schwedischen Autorin Camilla Grebe vorangestellt und in vielerlei Sicht für die Handlung programmatisch. Die Handlung ist kurz vor Weihnachten angesiedelt, es taut, aber meistens ist die Atmosphäre düster, bedrückend, sind die Protagonisten gefangen in ihrer jeweiligen Einsamkeit. Die Parallelen sind schon erschreckend, vor allem, wenn sich die Geschichten mehr und mehr offenbaren, sich die Handlungsstränge aufeinander zu bewegen.

Wollte ich das Buch als einen Psychothriller hier beschreiben, wäre das so: Was ist der Zusammenhang zwischen einem Mord auf Södermalm vor zehn Jahren, einer vor 3 Wochen niedergebrannten Garage eines umstrittenen Chefs einer erfolgreichen Bekleidungskette – und der Frau, die in seinem Haus gefunden wurde – tot, enthauptet, mit dem Kopf aufrecht daneben gestellt? Zwei Streichhölzchen bringen die Ermittlungen weiter.

Ja, das ist geschieht im Buch – aber es ist KEIN reißerischer Thriller, es wird nicht geschwelgt in Blut und Rache und Gewalt oder sexuellem Missbrauch, somit ist das Buch auch für empfindlichere Personen geeignet, auch wenn die Ermittlungen rund um diese enthauptete Frau aufgespannt werden. Für mich ist es weniger ein Psychothriller, die Tat ist quasi nur das Vehikel, anhand dessen das Drama hinter der Tat erzählt wird, und nicht nur dieses, sondern die Dramen aller Personen, in all ihrer bedrückenden Parallelität. Das ist gut geschrieben, ich brauchte nur, um zu schlafen, zwei Tage für die Lektüre – aber ich richte mich auch schon lange nicht mehr nach Klappentexten oder vorgeblichen Buchkategorien. Stattdessen hätte ich mir die Geschichte mit einem leicht anderen Fokus auch durchaus schlicht als anspruchsvollen Roman zu genannten Themen denken können, das sollte man als Leser wissen. Sprachlich hat die Autorin das drauf, auch wenn sie sonst bisher mit ihrer Schwester gemeinsam Kriminalromane geschrieben hat, in der Konstruktion, den Ideen und so schönen Erkenntnissen wie „Liebe ist ein Reflex, denke ich. Etwas, das wir einfach tun, wie schlafen oder essen. Und vielleicht verlieben wir uns in einen Menschen, der uns bekannt vorkommt, wie Heimat irgendwie. Der uns daran erinnert, wie das Leben war, ehe wir von all den Verlusten getroffen wurden.“ S. 570 Eine positive Überraschung, aber anders, als gedacht!

Kritikpunkte: könnte bitte ein Mann nicht einfach nur Bindungsängste haben (das soll es nämlich wirklich einfach so geben; ja, das meine ich zynisch), OHNE dass eine Tragödie erzählt und damit das Klischee des beschädigten Ermittlers bemüht werden muss? Außerdem moniere ich die Aufmachung des Buches: 608 Seiten finde ich nicht praktisch für ein Taschenbuch – das kann man nur sehr schwer ohne Leserillen auf dem Buchrücken lesen und überhaupt halten, auch wenn Klappenbroschur dafür schon die deutlich höherwertige Aufmachung ist und die hängenden Eiszapfen als Lack mit der leichten plastischen Wirkung sonst schön und passend zum Titel, Motto und der Jahreszeit im Buch ist.