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Veröffentlicht am 25.02.2017

Von der Kunst der Vivisektion des menschlichen Geistes

Das Buch der Spiegel
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Richard Flynns Manuskript-Anfang weckt das Interesse von Literaturagent Peter Katz – Stil und Inhalt sind gut, anders. Er und wir lesen über ein Ereignis, das sich während Flynns Zeit in Princeton zutrug, ...

Richard Flynns Manuskript-Anfang weckt das Interesse von Literaturagent Peter Katz – Stil und Inhalt sind gut, anders. Er und wir lesen über ein Ereignis, das sich während Flynns Zeit in Princeton zutrug, über Flynns Mitbewohnerin Laura Baines und über den charismatischen Psychologie-Professor Joseph Wieder. Flynn schreibt über seine Beziehung mit Baines und deren und seine Arbeit für Wieder.

Warum sollte das jemanden interessieren? Nun, Wieder wurde ermordet, kurz vor Weihnachten. Und an genau dem Abend, als Wieder ermordet werden wird, endet der Ausschnitt aus dem Manuskript - als sich Flynn auf den Weg zu Wieders Haus macht. Und die Verdächtigen? Zuhauf. Da wird gesagt „Für jemanden wie Richard Flynn…existieren die Grenzen zwischen Fiktion und Realität nicht oder sind sehr durchlässig.“ S. 151f Und zu Laura heißt es „Stand ihr aber jemand im Weg, war der ein Hindernis und musste weggeräumt werden.“ Und das Opfer selbst soll die „Kunst der Vivisektion des menschlichen Geistes“ S. 217 beherrscht haben – und obendrein geheime Experimente für das US-Militär durchgeführt haben.

Warum ist das ein fesselndes Buch? Autor E.O. Chirovici (gesprochen „Kirowitsch“ laut Verlag, danke) schreibt dieses Buch aus mehreren Perspektiven. Er leitet ein mit dem Literaturagenten Katz, wechselt zum Manuskript-Flynn, zwei weitere Personen kommen noch zu Wort. Und mit jeder neuen Perspektive wechselt auch der Schreibstil, weshalb der Roman zum einen literarischer ist als der Durchschnittskrimi, und, was noch mehr ist: die Informationen rücken von Seite zu Seite in ein jeweils neues Licht, nicht nur durch die Erzähler, mehr noch durch die verschiedenen Personen, die diesen Erzählern Auskunft geben zu den damaligen Ereignissen.

Aber - warum „Das Buch der Spiegel“ lesen und nicht einen x-beliebigen Krimi? In den meisten spannenden Büchern gibt es ein einfacheres Weltbild. Da ist der Ermittler(-trupp), dem gegenüber die Verdächtigen, deren Aussagen von den „Guten“ sozusagen durch diese objektiviert aufgenommen werden. Menschliche Fehler durch subjektive Wahrnehmung sind quasi ausgeschlossen. Das widerspricht natürlich der Realität – lässt sich aber gut (und auch meistens von mir gerne) lesen – ist jedoch gelegentlich doch eher schlicht. Entsprechend lege ich an die Bewertung von spannender Literatur durchaus geringere Maßstäbe an als an anspruchsvolle Bücher. Chirovici durchbricht diese Begrenzungen – und dennoch bleibt sein Roman genauso spannend und locker-fix lesbar wie das Genre.

„One man’s truth is another man’s lie“ wird der englische Originaltitel „The Book of Mirrors“ beworben – im Buch selbst heißt es am Ende „Alle hatten sich geirrt und durch die Fenster, in die sie zu spähen versuchten und die sich am Ende alle als Spiegel herausstellten, nur immer sich selbst und ihre eigenen Obsessionen gesehen.“ S. 307 Was Agatha Christies Poirot zum Ende meist vor einem Kamin vornimmt, wenn er über die diversen Lügen und Verschleierungsmotive zum Mörder gelangt, davon gelingt Chirovici mit seinem Ende gewissermaßen die Potenzierung.

Veröffentlicht am 18.02.2017

Nein, dieses Buch will ich NICHT mit jedem teilen – dazu ist es zu einzigartig!

Die Stierin
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Ich bin beeindruckt nach der Lektüre. Teilen will ich das Buch NICHT mit jedem – dieses Buch möchten bitte nur die Leser zur Hand nehmen, die bereit sind, sich auf ein ganz spezielles Erlebnis einzulassen. ...

Ich bin beeindruckt nach der Lektüre. Teilen will ich das Buch NICHT mit jedem – dieses Buch möchten bitte nur die Leser zur Hand nehmen, die bereit sind, sich auf ein ganz spezielles Erlebnis einzulassen. Sie werden belohnt werden.

Grandios: Doppelbödig, mythologische Komponenten, fesselnd, verstörend, sehr eigen, (heraus-)fordernd, komplex, lässt innehalten: belohnt

Mythologische Komponenten:
Die keltische Maeve, Halbgöttin und Königin, ist eine zentrale Figur der irischen Mythologie, für ihre Mannstollheit bekannt, stark und unerbittlich. Im wohl bekanntesten Epos Irlands will Maeve mit ihrem Mann gleichziehen, der im Gegensatz zu ihr einen sehr starken Stier besitzt. Als sie den von ihr daraufhin erworbenen Stier in den Kampf gegen seinen schickt, endet das für beide Tiere mit dem Tod.

sehr eigen: Maeve trifft auf Maeve, die keltische Sage wird transponiert in die Gegenwart. Die Maeve der Gegenwart besitzt einen Käseladen. Die keltische Maeve wurde mit einem Stück Käse getötet. Ein Chor. Das klingt eigen und ist es, ist aber (ganz definitiv) kein Fantasyroman, sondern ein von den reinen Worten her nicht abgehobener, aber sehr literarischer, sehr reicher und symbolhafter Text, denn was hier gemein(sam) ist, ist

verstörend: es wird berichtet von männlicher Gewalt, damals – und heute. „Vor einigen Tagen zwang er mich auf die Knie und ich musste so verharren. Das war alles.“ S. 22 Das bleibt nicht „alles“. Beide Frauen verschweigen die Tat. „Man hätte sie mit Mitleid, mit Gerüchten und abschätzigen Blicken ein zweites Mal in den Schmutz getreten.“ S. 124

(heraus-)fordernd, komplex, lässt innehalten: die „nur“ 176 starken Seiten habe ich aus der Anregung einer Leserunde in drei Abschnitten gelesen. Diese haben mir gut getan; die wenigen Seiten sind so komprimiert, dass ich vielfach zurück- und vorgeblättert habe. Der Text ist unglaublich überdacht konstruiert, da ist nichts Zufälliges – selbst die Symbole über den Texten zum Chor haben ihren Sinn.

Ich habe drei Abende lang gelesen – immer wieder musste das Buch hingelegt werden, um Platz zu schaffen für die hervorströmenden Assoziationen und Gedankenspiele, die mich auch durch die Tage begleiteten. Da geht es um männliche Gewalt und weibliches (Er-)Dulden, um Rache, um Kampf, um weiblichen Neid, um Selbstwert. Ich fühle mich belohnt – und empfehle die Lektüre, bitte erst nach Austesten anhand der Leseprobe. Dieses Buch ist zu toll, um schlechte Bewertungen anhand einer falschen Erwartungshaltung zu verdienen. http://www.kremayr-scheriau.at/assets/buxmedia/9c9f9fb47562fc98e341896908b85a91.pdf

Veröffentlicht am 16.02.2017

“It occurred to me there was not much which escaped Hercule Poirot.” (AC novel 6-book7; Poirot 3+1)

Alibi
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Rezension bezieht sich auf die genannte englischsprachige Ausgabe

Original title: ‘The Murder of Roger Ackroyd‘, Collins published this classical 'whodunit' first in 1926 (and again in 1936, within the ...

Rezension bezieht sich auf die genannte englischsprachige Ausgabe

Original title: ‘The Murder of Roger Ackroyd‘, Collins published this classical 'whodunit' first in 1926 (and again in 1936, within the Detective Story Club, along with the movie version starring Austin Trevor as Poirot - play and film go by ‘Alibi‘); the German title is ‘Alibi‘ (1928). This is Agatha Christie‘s 6th novel (7th book, where you have to count in the short stories collection ‘Poirot investigates‘). It is Christie’s third novel featuring Hercule Poirot (4th book; again including the short stories).

My edition is from May 2016 – a ‘facsimile edition‘ to reproduce the original „The Detective Club‘ look and feel to commemorate the 90th birthday of this novel (though it would have been only the 80th of the Detective Club layout, but, fine); a very nice and inexpensive hardcover re-edition indeed with an extra introduction (though I rather recommend to read that after the actual story).

Same as with Sherlock Holmes and same as with the very first novel written by AC, ‘The missing link‘, the starting point is that the story comes as a written report, this time, not from Hastings (who is reported to live in the Argentine), but from Doctor Shepard. The Doctor tells the story as first-person narrator and soon finds himself to in the role normally embodied by Hastings – aide to the great master detective Hercule Poirot. He is to notice more than once ‘It occurred to me there was not much which escaped Hercule Poirot.’ p. 195

Up to the murder of wealthy Roger Ackroyd, Hercule Poirot had been quietly enjoying retirement in the small (fictional) village of King’s Abbot . Now he is summoned back to business by Flora, Ackroyd’s niece, who hopes to take suspicion off her fiancé Ralph. The young man happens to be both Ackroyd’s stepson and adopted son – and potential heir. The reader learns that there are suspects in abundance and most persons involved have something to hide for a variety of reasons. There are Flora and her mother, widow to Ackroyd’s late brother, both as much in lack of money as is Ralph. Guest and big-game hunter Hector Blunt probably had his issues as did the other members of the household – why was Ackroyd angry with Ursula Bourne, the maid? And what is the story behind Ackroyd’s secretary Raymond or his butler Parker? Did not the housekeeper Miss Russel have a special interest in him? Is there any link to Mrs Ferrar’s death? And what is the connection to a wedding ring, a quill, a phone call and a mysterious stranger?

I admit to enjoy the Christie-touch with the classical gathering of suspects at the end – in this case, with some extras. Ninety years and this classic detective novel is still - rightfully! - considered a masterpiece. For a Poirot novel, there might yet be more entertaining ones (I admit to generally preferring Miss Marple over Hercule Poirot). What makes this book stand out still:
First, this marks Christie’s real breakthrough.
Second, its solution and ending were at that time both, controversial and still rather innovative – even today, one cannot help to experience the effect. It even contradicted to the self-imposed rules of ‘The Detective Club‘ and thus stirred some alienation between the club and Christie (no, I will NOT spoil how and why…)

Contemporary:
Well, 90 years show, but surprisingly little. The vocabulary includes wireless for radio, mail coming in more than once a day and at predictable hours (I would love that) and some old-fashioned wording the likes of ‘bunkum‘ – and one sentence that would not pass editing today, made by Doctor Sheppard and concerning Mrs Ackroyd’s debtors ‘They are usually Scotch gentleman, but I suspect a Semitic strain in their ancestry.” p 135 Do not forget, this is 1926 - Christie wrote another novel that was first called 'Ten Little Niggers'.

Trivia (taken from Wikipedia)
The novel was voted the best crime novel of all time in 2013.
Due to the relatively innovative ending, the novel is considered to be one of Christie's best known and most controversial ones, and had quite an impact on the genre.
According to Christie’s 1977 autobiography, the original idea of the novel came from her brother-in-law, James Watts of Abney Hall, who brought up the basic idea of the role of the murderer (sorry, any further explanation of mine would go to far).
The novel followed a first publication as a multi-part serialisation in newspapers in the year before with slightly different chapters and some minor amends (mostly due the character of serialisation; what starts in the novel like ‘he said’ would have been specified in the serialisation as e.g. ‘Poirot said’, of course).
The dedication “To Punkie, who likes an orthodox detective story, murder, inquest, and suspicion falling on every one in turn!” is directed to Christie’s eldest sibling Margaret (Madge) ‘Punkie’ who had once challenged her younger sister to not being able to write a classic detective story – indeed, Margaret even wrote a play herself.

So, despite for some lengthier portions to the novel, it still IS highly entertaining, off-standard in its solutions even today – and simply mandatory to read in its importance to both the genre in general and the works and success of Agatha Christie in particular

Veröffentlicht am 12.02.2017

„Den Ungläubigen eine Dosis Glauben injizieren und den Gläubigen eine Dosis Skepsis“

Der Geruch des Paradieses
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Ich habe mit der Lektüre von „Der Geruch des Paradieses“ (viel!) mehr erhalten, als erwartet, und bin sehr begeistert. Gehofft hatte ich auf einen scharfsichtigen, gerne auch unterhaltsamen und gut lesbaren ...

Ich habe mit der Lektüre von „Der Geruch des Paradieses“ (viel!) mehr erhalten, als erwartet, und bin sehr begeistert. Gehofft hatte ich auf einen scharfsichtigen, gerne auch unterhaltsamen und gut lesbaren Einblick in das aktuelle Leben in der urbanen Türkei – die Leseprobe hatte diesen Blick versprochen, das Buch konnte das (mehr als) halten.

Der Leser begleitet Hauptperson Peri, Ehefrau und Mutter Mitte Dreißig in Istanbul, in ihr (Luxus-)Leben mit bockiger Teenie-Tochter, nie zufriedener Mutter, Terminen mit langweilig-oberflächlichen Geschäftspartnern des Ehemanns und dem allgegenwärtigen Chaos in Straßenverkehr und öffentlichem Raum. Soweit auch ein vertrautes westliches Thema, wäre da nicht die spezielle kulturelle Note – könnte man zuerst meinen; es kommt sogar einiges mehr; dazu dienen auch Rückblicke auf Peris Heranwachsen und Auslands-Studium mit den sie formenden Begegnungen und Erlebnissen, die schließlich in der Gegenwart kulminieren – die Erinnerung entzündet sich an einem Foto aus der Vergangenheit.

Über die Geschichte der Familie wird ein Teil der türkischen Geschichte angerissen: Peri erlebt ihre Eltern als finsteren Gegensatz „wie Schenke und Moschee“ S. 30 – der Vater Kemalist, dem Alkohol zugetan und weltlich veranlagt, fördert ihre akademische Bildung nach Kräften. Ein Bruch kommt mit der Verhaftung des ältesten Sohnes als angeblicher kommunistischer Terrorist – noch wird im System gefoltert. Der Vater braucht mehr Alkohol – die Mutter mehr Religion. Die Tochter ist „Schlachtfeld rivalisierender Weltanschauungen“; „Von allen unbemerkt, löschte sie ihr inneres Feuer, bis nur mehr Asche übrig war.“ S. 36. Am Rande werden bei der Mutter Depressionen angedeutet – so etwas gab es damals noch nicht; ein weiterer familiärer Verlust wird später enthüllt. Die Mutter ist zu abergläubisch, der Vater zu rational um Peri zu helfen – sie lernt, um Entschuldigung zu bitten, keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen – niemanden zu verärgern. Aber auch so kann man enttäuschen.

Schon allein dieses Figurenbild ist schlüssig und beeindruckend gezeichnet – der Text geht weiter. Die Bildhaftigkeit der Sprache ist stark, pointiert, eingängig. Das Buch von 2016 ist auch mit seiner Gegenwart in diesem Jahr angesiedelt – Shafak erläutert den Wandel vom entspannten „Muslimus modernus“, der die Religion in die Moderne integrierte, ihr quasi den traditionellen Rahmen gab, zur heutigen Polarisierung der Gesellschaft in entweder streng religiös oder streng säkular – ohne Schnittpunkte (S. 145 f, weitere). Damit einher geht ein wahres Minenfeld speziell bezüglich weiblicher Verhaltensregeln.
Wir lesen vom Jungfräulichkeitsnachweis vor der Ehe (S. 259 „..die uralte Tradition, die den Wert einer Frau zwischen ihren Beinen suchte…“).
Wir erleben eine Übergriffigkeits-Bereitschaft („Im Nahen Osten gab es einen Typ Mann, der gereizt reagierte, wenn man seine sexuellen Avancen zurückwies, in dessen Augen man andererseits jedoch sofort an Wert verlor, sobald man leidenschaftlich auf seine Wünsche einging. Egal, ob die Frau ‚Nein‘ oder ‚Ja‘ sagte, sie verlor immer.“ S. 175).
Zwischen Geschäftsfrau oder Versorgungsehe, traditioneller Beziehung, partnerschaftlicher Ehe und „Trophy-Wife“ erweisen sich Frauen untereinander oft als am wenigsten solidarisch. „Frauen schauten. Betrachteten, taxierten, prüften, forschten offen und verdeckt nach den Schwachstellen der anderen Frauen.“ S. 18 Letzteres auch kein türkisches Privileg.

Ich konnte dem Feminismus nie viel abgewinnen, sehe aber im Beschriebenen leider Parallelen durchaus auch für Deutschland: Von den 70ern, 80ern mit den gleichen Schultaschen, Pullis, Legos für alle haben wir uns „weiterentwickelt“ zu rosa Prinzessinnen ODER grinsenden Autos. Wichtiger als „Girls Day“ scheint vielmehr der größte Schuhschrank zu sein – natürlich wird politische Wahlfreiheit bei uns möglich, geht aber in West-Europa gleichzeitig gern mit Wahlverweigerung einher.

Die Autorin wurde angefeindet als „das Türkentum verunglimpfend“ – ja, sie beobachtet, sie deckt auf, zeigt Mut gegen Widerstände – dennoch ist die von ihr gezeigte Polarisierung erschreckenderweise keine türkische Domäne: Über Brexit, die Positionierung zum Umgang mit Flüchtlingen oder aktuell Donald Trump haben sich weltweit mehrere Nationen und ganze Familien entzweit. Andere Themen gerieten und geraten dabei ins Abseits (für die Türkei sagt die Autorin im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10.10.2016 unter der Überschrift Das letzte Abendmahl des türkischen Großbürgertums „Wenn wir zurückgehen, wenn wir den Säkularismus verlieren, wenn Gesellschaften religiöser und fanatischer werden, werden Frauen eindeutig mehr verlieren als Männer." http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/elif-shafak-und-ihr-roman-geruch-des-paradieses-14473320-p3.html).

Gegen Ende des Buches, das ich schon so, allein, uneingeschränkt empfehlen würde, führt die Autorin noch einen Kunstgriff durch. Sie lässt dem Leser „die Möglichkeit, selbst zu denken“. Ja, die Möglichkeit: ich habe dieses Jahr schon einiges gelesen, was zu viel wollte und dadurch unentschlossen endete, einiges, das hinter dem Möglichen zurückblieb und anderes, was ich als überfordernd empfand. Elif Shafak ist da klüger: sie stellt uns mit Peri eine sehr normale Hauptfigur zu Seite – gute, bemühte Ehefrau, Mutter, Tochter – gelegentlich überfordert, lieber daheim in ihren Büchern. Keine Extremata – sie fastet am ersten und letzten Tag des Ramadan, nicht dazwischen – sie ist „eher“ säkularisiert, pflegt am Glauben „eher“ die Tradition – damit dürfte sie ein moslemisches, türkisches Gegenstück zu dem sein, wie von sehr vielen die christliche Religion im Westen auch eher an den Feiertagen gelebt wird, überraschend wenig fremd. Aber Peri ist komplexer: immer schon ist sie eher eine Suchende, Fragende, vielleicht Verwirrte: sie glaubt und zweifelt gleichzeitig, aber sie setzt sich in jedem Falle auseinander – was viele, gleich welcher Glaubensrichtung oder –intensität nicht (mehr) tun.
In Oxford befreundet Peri sich mit Mona, der gläubigen muslimischen Feministin und freiwilligen Kopftuchträgerin, sowie mit Shirin, der Feministin, die Position bezieht, gegen Autoritäten, speziell solche, die sich auf Religion beziehen, die drei setzen sich in der Wohngemeinschaft auseinander.
Das Faszinosum: man kann gerade diesen letzten Teil des Buches auf verschiedenste Art und Weise lesen, ohne dass man sich hier künstlich verbiegen muss. Man könnte wieder einmal diverse Philosophen entdecken wie in Professor Azars Seminar und zum Beispiel „Sofies Welt“ hervorkramen. Auch in einem kirchlichen (oder besser noch, interkonfessionellen) Lesekurs würde sich Shafaks Buch wohlfühlen, zu Gottesbildern, zu Methoden und Wegen der Annäherung an Gott, zum Unterschied zwischen Gott und Religion – wobei man auch allein nachdenken kann: über die drei Frauen als mögliche Prototypen von Muslimas – oder Gläubigen generell, darüber, ob man (Frauen? Moslems? die „westliche Welt“) eindeutiger Position beziehen muss – wie Mona oder Shirin, nicht wie Peri? Oder ob gerade Peris Position die bessere ist – oder gerade nicht? Ob es funktioniert, so ein Sozialexperiment, bei dem die unversöhnbaren Seiten aufeinander zu gezwungen werden?

Elif Shafak bietet keine einfachen Lösungen, vorverurteilt nicht - und fordert vermutlich gerade dadurch heraus. Ein Gewinn, wenn man es zulässt.

Veröffentlicht am 11.02.2017

„Ich schreibe eigentlich nur noch Listen. Für alles andere fehlen mir die Worte.“

Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster
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Fred Wiener ist so neurotisch wie eine Hauptfigur in einem älteren Woody-Allen-Film: „War er irgendwo mit jemandem verabredet, was selten genug vorkam, schlenderte er immer ein wenig auf und ab und entfernte ...

Fred Wiener ist so neurotisch wie eine Hauptfigur in einem älteren Woody-Allen-Film: „War er irgendwo mit jemandem verabredet, was selten genug vorkam, schlenderte er immer ein wenig auf und ab und entfernte sich dann so weit, dass er den Treffpunkt noch gut im Auge behalten konnte, um sich bei der ersten Sichtung der anderen Person wieder dem Ziel zu nähern.“ S. 11 Für seine Kollegen ist er nur der Langweiler, das „Wienerwürstchen“ – und hat sich zum ehrenamtlichen Sterbebegleiter ausbilden lassen, aus Angst, sein Leben sei belanglos. So gerät er an Karla, die alles ist, aber nicht unentschieden oder „lauwarm“. Karla fordert ihn heraus in seiner Komfortzone. Auf „Was würden Sie denn gern tun mit der Zeit, die Ihnen noch bleibt?“ entgegnet Karla „Ist das Ihr Unterhaltungsprogramm für Sterbende, Herr Wiener?“

Phil ist der 13-jährige Sohn des alleinerziehenden Fred, viel zu klein für sein Alter, Schreiber von Gedichten und mit seinem Vater in einem „Nichtangriffspakt“ lebend, aus dem heraus Fragen nicht gestellt und Antworten nicht erwartet werden, besonders, was Phils Mutter betrifft. Auch er begegnet Karla: „Er suchte nach seiner Angst und fand sie weit hinter seiner Neugier und etwas anderem, das mit Bewunderung zu tun hatte.“ S. 76

Mit großem Einfühlungsvermögen für die Situation und für die Personen schildert Susann Pásztor ihre Geschichte dieses Aufeinandertreffens von wunderbaren Charakteren (wann schon kann man sich gleichzeitig in etlichen Zügen mit einem Teenager, einem Mann Mitte Vierzig und einer älteren Dame identifizieren?) – die feine Ironie dazu ist geradezu hinreißend. „Was sah sie [Karla] in ihm [Fred]? Einen Gesandten des Todes? Einen zukünftigen Beistand für schwere Stunden? Einen schwitzenden, übergewichtigen Mittvierziger?“ S. 13

Dieses Buch über eine Sterbebegleitung zelebriert doch vor allem das Leben, aber auf eine so mitreißende und bewegende Art, das ich es geradezu verschlungen habe. Für dieses Buch benötigt man Zeit – nein, es sind nur 288 Seiten, die sich noch dazu fix und leicht lesen lassen. Aber man möchte dieses Buch nicht unterbrechen MÜSSEN und daher sollte man es nur anfangen, wenn man miteinander auch ungestört sein kann; auch, um gelegentlich innehalten zu können.

S. 18 „Wenn ich Listen schreibe, dann sind es welche, auf denen steht, welche Todesarten mir noch weniger gefallen als die, an der ich sterben werde. Ich schreibe Listen mit meinen gebrochenen Versprechen und all den Dingen, an die ich nie geglaubt habe. Ich schreibe eigentlich nur noch Listen. Für alles andere fehlen mir die Worte.“

Und ich – muss eindeutig wieder einmal weniger Listen schreiben…