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Veröffentlicht am 15.03.2017

Von den Wechsel“fällen“ des Lebens

Dinge, die vom Himmel fallen
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S. 114 „Wenn ich den Laden betrete, erinnert sich jeder Kunde daran, dass uns zu jeder Zeit der Himmel auf den Kopf fallen kann.“ so schreibt Hamish an Tante Annu. Alle, alle in diesem Buch, machen diese ...

S. 114 „Wenn ich den Laden betrete, erinnert sich jeder Kunde daran, dass uns zu jeder Zeit der Himmel auf den Kopf fallen kann.“ so schreibt Hamish an Tante Annu. Alle, alle in diesem Buch, machen diese Erfahrung persönlich. „Dinge, die vom Himmel fallen“ ist nicht nur der Titel – da kommen in der Handlung Eisklumpen herunter oder Blitze, letztere sogar mehrfach. Menschen sterben – oder eben nicht, nie dadurch, andere werden wie vom Blitz getroffen durch einen Lottogewinn, den Verlust eines geliebten Menschen oder durch die für sie selbst schwer nachvollziehbare Tatsache, trotz allem, was vom Himmel herunter kommt, immer noch am Leben zu sein.

„Wenn ich den Laden betrete, erinnert sich jeder Kunde daran, dass uns zu jeder Zeit der Himmel auf den Kopf fallen kann.“ Auch das ist eine Tatsache – was noch nicht für die Charaktere des Buchs an sich ein Problem ist, wird dazu durch die Menschen um sie herum. Da sind die überforderten Lehrer, die die Mitschüler eines plötzlich mutterlosen Mädchens Bilder ihrer Ängste malen lassen, mit denen sie dann selbst nichts anzufangen wissen. Da sind die Nachbarn, die ausweichen, von Vorsehung sprechen oder Strafe. Die anderen Schwangeren scheinen Angst vor einem Überspringen von Unglück zu haben – Menschen lassen andere Menschen schlicht im Stich - teils sicherlich ohne Not, teils, weil sie es wie der in Depressionen versinkende Vater im Moment nicht vermögen. „Wenn ich sage, meine Mutter beugt sich übers Bett, ist sie hier bei mir. Wenn ich sage, sie beugte sich übers Bett, bewegt sie sich schon weg. Mein Vater redet nicht über sie, weil er es nicht schafft zu sagen, sie beugte sich übers Bett. Er kann über Mama nicht in der Vergangenheit sprechen.“ S. 27 Selbst einem kleinen Mädchen schaut hier niemand in die Augen.

Warum? Ist es das Gefühl des Versagens? Vielleicht ist das ein Teil davon, so wie Saara über Pekka sagt: „Mein Vater versuchte immer, uns zu beschützen, aber das reichte am Ende nicht. Er hat sich zu sehr auf die Wände konzentriert und dabei den Himmel vergessen.“ S. 81 Aber das wird nicht der einzige Grund sein, das Buch regt zum Nachdenken an. Während die ersten Ereignisse eher herausfordern dazu, auf die „Wunder“, die unwahrscheinlichen Ereignisse verzichten zu wollen, wird aus Kristas Situation heraus genau so ein Wunder wider besseres Wissen herbei gesehnt.

Selja Ahava hat keinen leichten Text geschrieben, auch wenn er nicht kompliziert zu lesen ist. Der Ton ist melancholisch, Stil und Perspektive wechseln – von der Sicht der kleinen mutterlosen Saara über den Briefroman zwischen ihrer Tante und dem Fischer Hamish zu Krista, der neuen Partnerin von Vater Pekka und wieder zurück zum Teenager Saara. Die Wechsel schaffen dabei ebenso Distanz wie die märchenhaften Einschübe und Traumsequenzen, regen mich aber zum eigenen Nachdenken an wie der nicht eindeutige Text. Die irgendwie sowohl parallel als auch komplementär verlaufenden Ereignisse verschränken sich beim genauen Hinsehen an mehr Stellen, als man zuerst sieht. Kein leichtes Thema, Erwachsene machen hier häufig keine gute Figur, das Kind Saara stellt sich seinen Ängsten und Nöten meist unmittelbarer. Ein ungewöhnlicher Text, der die Bereitschaft voraussetzt, sich ihm öffnen zu wollen.

Veröffentlicht am 05.03.2017

„Was ich ihm gebe, kann er nicht festhalten. Was er mir gibt, halte ich mit aller Kraft fest.“

Der alte König in seinem Exil
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„Was ich ihm gebe, kann er nicht festhalten. Was er mir gibt, halte ich mit aller Kraft fest.“ S. 178

„Hier hast du deinen Hut.“
„Das ist recht und gut. Aber wo ist mein Gehirn?“
[…]
„Dein Gehirn ist ...

„Was ich ihm gebe, kann er nicht festhalten. Was er mir gibt, halte ich mit aller Kraft fest.“ S. 178

„Hier hast du deinen Hut.“
„Das ist recht und gut. Aber wo ist mein Gehirn?“
[…]
„Dein Gehirn ist unter dem Hut.“
Der Vater nahm den Hut ab, schaute hinein und erwiderte: „Das wäre aber ein Wunder.“

S. 130 Das ist nur eine der surrealen, fast kafkaesken Szenen in diesem Buch. Sein Vater erkrankt an Alzheimer – und darüber schreibt der Sohn, der österreichische Autor Arno Geiger, dieses kurze Büchlein.

Er schreibt über den Fortschritt der Krankheit, vom Beginn, vor der Diagnose, als mit dem Vater noch wegen vermeintlicher Sturheit geschimpft wurde, „…denn wir schimpften mit der Person und meinten die Krankheit.“ S. 7 Doch, natürlich, die Krankheit schreitet voran. Anhand der eigenen Erfahrungen der ganzen Familie – Geiger hat noch drei Geschwister, zu Beginn teilt man sich die Pflege – übermittelt die Lektüre ein Gefühl davon, was sich ändert, nur ein Gefühl, denn jeder Mensch und damit auch jeder Erkrankte ist anders. Die Bilder, die verwendet werden, lassen regelmäßig den Schriftsteller durchblicken, der den Umgang mit Sprache und sprachlichen Bildern gewohnt ist. So bezeichnet er den Zustand der mittleren Demenz: „Als wäre man aus dem Schlaf gerissen, man weiß nicht, wo man ist […] Man versucht sich zu orientieren, es gelingt nicht.“ S. 8f. Das ist hilfreich, weil solche Bilder eindringlicher sind, als viele Fachbücher dieses zu vermitteln vermögen.

Es wird auch über das Leben des Vaters erzählt, um Erklärungen für genau für ihn typische Verhaltensweisen bis in die Krankheit hinein zu liefern; natürlich sind diese Abschnitte nicht zu verallgemeinern. Aber sicherlich kann man aus dem Nachforschen Geigers die Lehre ziehen, zum einen die jeweilige Vergangenheit vor dem Vergessen zu retten, als auch immer das Individuum hinter dem Kranken zu sehen. Viele weitere Erfahrungen in der Pflege werden anderen helfen können.

An einigen Stellen war mir das bildhafte in der Sprache etwas zu viel; fast wirkt es, es betrachte der sprachbegeisterte Autor den Vater als eine Art Satz- und Wortfindungsmaschine, wobei natürlich jeder seinen eigenen Weg zum Umgang mit fordernden Situationen finden muss, soll und darf. Genau hier liegt für mich die Problematik solcher Bücher: vom aktuellen „In jedem Augenblick unseres Lebens“ von Tom Malmquist über die in weiten Strecken sehr amüsanten Erinnerungen von Joachim Meyerhoff bis hin zu Jan Philipp Reemtsma „Im Keller“: Wer bin ich, die Erinnerungen und Gefühle anderer in autobiographischen Texten zu bewerten? Andererseits wird natürlich niemand zu Niederschrift und Veröffentlichung gezwungen – und die liebevolle innewohnende Poesie dieser Niederschrift trägt durchaus recht weit.

Veröffentlicht am 04.03.2017

Die Suche nach dem Mittelpunkt des Universums

Der Architekt des Sultans
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„Die Feindseligkeit ist ein Käfig, das Talent ist ein gefangener Vogel. Zerbrich den Käfig, lass den Vogel frei und in die höchsten Höhen fliegen.“ S. 181 Diesen Rat gibt Meister Sinan seinem Schüler Jahan, ...

„Die Feindseligkeit ist ein Käfig, das Talent ist ein gefangener Vogel. Zerbrich den Käfig, lass den Vogel frei und in die höchsten Höhen fliegen.“ S. 181 Diesen Rat gibt Meister Sinan seinem Schüler Jahan, denn nachdem sein Stiefvater die Mutter getötet hatte, zermürben ihn Rachegelüste. Die Ausbildung bietet einen Ausweg, denn „Jeder Handwerker, jeder Künstler schließt einen Bund mit dem Göttlichen“

Unter jedem Bauwerk …liegt, tief unter dem Fundament, der Mittelpunkt des Universums. Dieses Wissen wird dich mit größerer Sorgfalt und Liebe arbeiten lassen.“ S. 213 Der Suche nach diesem Mittelpunkt des Universums nun begegnet Jahan immer wieder.

Im 16. Jahrhundert ist im Osmanischen Reich nicht viel Zeit für die Bedürfnisse des einzelnen: die Kluft zwischen Herrschenden und Beherrschten ist groß, Willkür, Vetternwirtschaft und Intrigen greifen um sich, der Brauch der Knabenlese führt dem Heer unermüdlich Nachwuchs zu, indem Jungen aus benachbarten Ländern ihren Familien entrissen und zwangsislamisiert werden. Zwar ist auch diesen ein Aufstieg bis ins oberste Amt des Großwesirs, des vom Herrscher eingesetzten Regierungschefs, möglich – aber die Luft ist dünn. In der Herrscherfamilie selbst ist es in dieser Zeit guter Brauch, dass der Thronfolger beim Tod des Vaters sich aller jüngeren Brüder als Konkurrenten entledigt – mit der Bogensehne, damit das edle Blut nicht vergossen werde, dann folgt gern der Bau eines prächtigen Mausoleums für die edlen Toten.

Eigentlich hatte es Jahan als Begleitung des jungen weißen Elefanten Chota in den äußeren Ring des Palasts geschafft und sich dort als Mahut, als Elefantenführer, verdingt – aber seine Neugier und sein Talent führten ihn mit Sinan zusammen, dessen Schüler er wird. Der Originaltitel des Buches lautet passender „The Architect’s Apprentice“, „Der Lehrling des Architekten“, denn Jahan ist die Hauptperson dieses Romans. Ähnlich wie in „Der Name der Rose“ beginnt die Erzählung als Rückblick des gealterten Jahan, werden spätere Entwicklungen teils bereits angedeutet.

Meister Sinan, der wichtigste Architekt der klassischen osmanischen Architektur, gilt als der „Michelangelo des Osmanen“ und ist nur eine von vielen fiktionalisierten historischen Persönlichkeiten des 16. Jahrhunderts dieses Romans. Autorin Elif Shafak erläutert in ihrem Nachwort, gelegentlich Zusammenhänge an ihre Bedürfnisse für die Geschichte angepasst zu haben, auch ein Glossar ist im Nachwort enthalten. Dadurch lässt sich die opulente Geschichte recht flüssig lesen, nachdem ich gerade zu Beginn häufiger Nachschlagen (und Wikipedia konsultieren) musste. Dennoch fremdelte ich noch einige Zeit – ich suchte „den roten Faden hinter der Geschichte“. Eine Besprechung in der Süddeutschen Zeitung vom 10.08.2015 Lesen Sie die Rezension bei buecher.de
(direkter Link ist kostenpflichtig) nennt den Roman „eine Liebeserklärung an das alte Istanbul der vielen Völker, Sprachen und Religionen – und damit auch eine Absage an die derzeitige Politik der Türkei.“

Mag man den Roman unter diesem Blickwinkel lesen (ich war ja zugegebenermaßen nicht aus dem Roman heraus selbst auf diesen Gedanken gekommen), findet man einerseits die gesuchte Geschichte hinter der Geschichte, aber auch ganz anderen Zugang zu Schlüsselsätzen des Buches wie „Jahan kam der Gedanke, dass sich die meisten Gotteshäuser in zwei Kategorien einteilen ließen: Es gab diejenigen, die in den Himmel ragten, und diejenigen, die den Himmel der Erde näherbringen wollten. Sehr selten begegnete man einer dritten Art, auf die beides zutraf.“ S. 261 Und schließt letztlich aus seinen Erfahrungen „Wir sollten Kuppeln bauen, die den Menschen zeigen, dass es einen Gott gibt, und dass Er keine Gott der Sünde und der Hölle ist, sondern ein Gott der Liebe und Barmherzigkeit.“ S. 535

Trotz der wunderschönen Geschichte, ihrer bestechenden Üppigkeit und der grandiosen Fabulierkunst Shafaks fehlte mir hier der klarere Zugang von zum Beispiel „Der Geruch des Paradieses“ zum Kern der Geschichte, obgleich die Autorin auch dort mehrere Deutungen zulässt.

„Der Mittelpunkt des Universums lag weder im Osten noch im Westen, sondern dort, wo ein Mensch sich der Liebe ergab.“ S. 574

Veröffentlicht am 20.02.2017

In Todesnähe gibt es eine besondere Art von Wirklichkeit, die alle Schutzmaßnahmen niederreißt, bis man gezwungen ist, dem Leben ohne Hoffnung auf Verschonung zu begegnen

In jedem Augenblick unseres Lebens
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„Der Oberarzt tritt den Kipphebel an Karins Patientenbett fest. Mit lauter Stimme informiert er die Krankenschwestern, die Karins Top und Sport-BH aufschneiden: Patientin schwanger, Kind laut Angaben wohlauf, ...

„Der Oberarzt tritt den Kipphebel an Karins Patientenbett fest. Mit lauter Stimme informiert er die Krankenschwestern, die Karins Top und Sport-BH aufschneiden: Patientin schwanger, Kind laut Angaben wohlauf, dreiunddreißigste Woche, vor etwa fünf Tagen grippeähnliche Symptome, Fieber, Husten, leichte Atemnot, der Schwangerschaft zugeschrieben, heute akute Verschlechterung, schwere Atemnot, vor einer Stunde hier in der Geburtsklinik erschienen.“ S. 7 Das sind die ersten zwei Sätze des Buches – sie läuten die ersten knapp 100 Seiten ein, die genau das beschreiben, was man aus dem Klappentext erwartet: Karin, bis dahin völlig gesund, werdende Mutter, Lebensgefährtin von Autor Tom Malmquist, liegt plötzlich in lebensbedrohlichem Zustand im Krankenhaus.

Ich konnte mich auf das Thema einlassen, kenne – zum Glück nur aus kleineren Dramen mit gutem Ende – dieses Gefühl des aus-der-Welt-Fallens in den Fluren eines Krankenhauses und konnte mich darin wiederfinden. Der Autor war bis dahin mit Gedichten in Erscheinung getreten, mit Songtexten, dies ist sein Debüt. Er (be-)schreibt mehr die Fakten als vordergründig über die Emotionen, gerade auch in der ersten Zeit nach dem Tod seiner Frau, zurückgelassen mit der neugeborenen Tochter. Die Trauer merkt man mehr in den Neben-Informationen, den fortgesetzten Gesprächen mit der Psychiaterin, den Reaktionen von Freunden und Familie, dem Schlafmittelbedarf – alles wenig verwunderlich. Er funktioniert.

Man muss sich an den Schreibstil des Buches, das nach meiner Meinung eher Biographie denn Roman ist, gewöhnen, an stream-of-consciousness-Manier ohne gekennzeichnete wörtliche Rede und häufig ohne klar benannte Sprecher. „Wie alt ist eigentlich Karins Bruder?, fragt Alex. Vor etwa einem Monat haben wir seinen Vierzigsten gefeiert, wieso?, will ich wissen. Ich war ihm noch nicht begegnet, und was machen Karins Eltern, fragt Alex. Du meinst, was sie arbeiten?, frage ich.“ S. 89 Der Text würde dann auch glatt als Dialoganweisung für ein Fernsehspiel taugen. Der Effekt war dann auf mich auch tatsächlich der, ganz unmittelbar am Geschehen dran zu sein, nicht einmal von bestimmten Sprachnormen gefiltert. Dazu gibt es auch häufige zeitliche Rücksprünge auf frühere Zeiten, so, wie es gerade in die Erinnerung hineinfällt.

Ich habe den Roman zügig und mit einer gewissen Sympathie gelesen, mag gelegentlich gerne Biographien über interessante historische Persönlichkeiten. Ich kann nachvollziehen, dass man bei einem Schicksalsschlag, besonders bei Trauer, das Bedürfnis verspürt, darüber zu reden, vielleicht Tagebuch zu schreiben – ein Buch daraus zu machen, ist für mich dennoch immer grenzwertig zu „Betroffenheitsliteratur“. In diesem Dilemma bin ich auch hier.

Ein tolles Buch, das Malmquist seiner Tochter geben kann darüber, wie ihre Mutter war, wie ihre Eltern einander kennengelernt haben, wie die erste Zeit ohne ihre Mutter war, die sie nie kennenlernen durfte, wohl aber die Trauer des Vaters; vielleicht auch ein tolles Buch für die Familie, Freunde, für sich selbst.
Kann Malmquist eindringlich schreiben: ich finde, ja.
Ein tolles Buch für jedermann: ich finde – nein. Dazu ist das zu sehr eine rein persönliche Geschichte, bei der der Autor aber natürlich jegliches Recht hat, diese offen kundzutun.
4 von 5 Sternen, weil mich der Text berührte.

Nachtrag:
Ich schreibe üblicherweise erst meinen Kommentar und lese dann die von anderen – dabei ergänze ich gelegentlich, wenn ich einem häufigen Tenor nicht beipflichte. Ich habe „kalt“ als Beschreibung für Malmquists Buch gelesen, „gefühllos“ – nein, nicht nach meiner Meinung. Malmquist beschreibt bereits sein Handeln im Krankenhaus als von Panik getrieben. Er beschreibt die Angst, mit seiner Tochter etwas falsch zu machen – er beschreibt keine Weinkrämpfe, ist eher lakonisch, vielleicht auch erstarrt. Ich mag nicht, dass heute nur als „authentisch“ gilt im Zeitalter von Castingshows, wer geradezu hysterisch, laut wird. Erst mit den letzten Seiten scheint Malmquist sich aus dieser Erstarrung zu lösen, teilt er seine Tränen mit. Von dort stammt auch das Zitat, das zu meinem Titel führte, er redet dabei seine Partnerin direkt an und erinnert sich „…du siehst mich an und erzählst, dass es in Todesnähe eine besondere Art von Wirklichkeit gibt, eine, die alle Schutzmaßnahmen niederreißt, bis man gezwungen ist, dem Leben ohne Hoffnung auf Verschonung zu begegnen..“ S. 288

Veröffentlicht am 16.02.2017

Bruchstücke einer Kindheit, mutig in Form und Thema

Fliegenpilze aus Kork
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„In knappen und dichten Episoden erzählt Marie Luise Lehner die ersten zwanzig Jahre aus dem Leben einer Frau. Es sind Bruchstücke einer Kindheit, melancholisch und bunt.“ Ich zitiere sonst nie den Klappentext, ...

„In knappen und dichten Episoden erzählt Marie Luise Lehner die ersten zwanzig Jahre aus dem Leben einer Frau. Es sind Bruchstücke einer Kindheit, melancholisch und bunt.“ Ich zitiere sonst nie den Klappentext, aber besser als dieser kann ich’s nicht. Das fängt dann so an – und deshalb wollte ich das lesen:
„Geboren werden.
Ich werde in einem Spital am Stadtrand geboren. Die Schuhe der Schwestern quietschen auf den grauen Linoleumböden in den Gängen. Im Aufenthaltsraum stehen Gummibäume und es läuft Musik aus dem Radio. Es ist sechs Uhr dreiunddreißig. Ich habe die Hautfarbe von ihm. Schon bei der Geburt habe ich viele dunkle Haare.“
S. 5

Was zunächst schlicht nach Armut klingt (vom Leergut als Spielzeug über den Ausflug bekleidet nur mit T-Shirt und Strumpfhose) wird schnell deutlicher. Kultur und gesellschaftspolitisches Engagement bei beiden getrennten Eltern sind wie die mangelnde Hygiene beim Vater Bestandteil der Kindheit, dazu pflegt der Vater ein mindestens spezielles Verhältnis zu „Recht und Ordnung“, zwischen Lebenskunst, Mundraub, Schnorrerei und Bagatelldelikten. Die Sichtweise des heranwachsenden Kindes bietet den Vorteil einer (über lange Zeit) nicht wertenden Wahrnehmung der Lebensumstände.

Mir gefiel, wie der Übergang zum Teenageralter neben der Änderung in der Beziehung auch für den Leser neue Erkenntnisse speziell zum geliebten Vater, aber auch zum Einfluss des sonstigen Umfeldes bringt. „Manchmal denke ich, mein Vater sieht ständig zu, was alle anderen machen, um dann ganz anders zu sein als sie.“ S. 98 Verwirrend für mich die sehr liebevollen Züge des Vaters gegenüber schierer Gleichgültigkeit (das Verbrennen des Holzkopfes, das Zerschlagen der Tonfiguren), Autorin Marie Luise Lehner macht es hier dem Leser nicht leicht.

Wäre der Vater stattdessen ein Alkoholiker, ich würde das Verhalten der Tochter in vielem als „ko-alkoholisch“ bezeichnen; sie hilft ihm lange bei seinen Ausweich-Manövern. Fraglich, inwieweit ein Kind da überhaupt eine andere Möglichkeit hat. Für mich folgerichtig bleiben häufig die erlernten Verhaltensweisen auch später – wenn auch nicht mehr ohne Ausnahme, es kommt zu einer gewissen Emanzipation mit dem Erwachsenwerden.

Es wird nicht von einem übergeordneten Erzähler eingegriffen oder analysiert, die Erzählung ist durchgängig im Stil wie oben gehalten; strikt aus Sicht des Kindes bzw. der Heranwachsenden und jungen Frau als Ich-Erzählerin, mit eigenen syntaktischen Mitteln (Strukturierung anhand des Alters, Punkt nach der Überschrift, Struktur auch durch Absätze, das Mittel der Wiederholung zur Frage nach dem Beruf des Vaters) – das lässt sich gut lesen, vor allem, da erzähltechnisch versiert sowohl eine Vertiefung der Handlung stattfindet als auch ausreichend offen bleibt. Das Buch ist eindringlich, schlüssig – aber sicher keine „fröhliche“ Lektüre trotz so einiger absurd-komischer Szenen (so die Beerdigung der Großmutter); das Buch klingt nach. Eine in Form und Thema mutige und experimentierfreudige Autorin, ich hatte wie fast immer noch ein wenig im Netz geforscht:
http://www.ardmediathek.de/radio/H%C3%B6rspiel-Pool-Bayern-2/Marie-Luise-Lehner-Womit-wir-schlafen-o/Bayern-2/Audio-Podcast?bcastId=7263856&documentId=40065182


http://www.youki.at/mitmachen/probierraum/probierraum-5-marie-luise-lehner

Á propos gut gemachter Klappentext (die sind ja sooo oft sooo sinnlos): Überhaupt macht der Verlag Kremayr & Scheriau alles alles richtig bei der Gestaltung seiner Bücher, dies waren meine ersten. Da gibt es Lesebändchen selbst bei einer geringen Seitenzahl von knapp unter zweihundert Seiten, diese sind auf haptisch angenehmem (und gut duftendem!!) Papier gedruckt, es gibt zusätzlich zum Umschlagdesign ein dazu passendes Design des eigentlichen Einbandes (ich mag keine Cover – aber so etwas ist schon ein bisschen sehr cool) – und die verschiedenen Bücher des Verlages sind bei sonst unterschiedlicher Gestaltung von den Buchrücken her eindeutig zueinander passend. Etwas für alle Sinne, das freut das Bücherherz!

Insgesamt nur knapp vorbei an voller Punktzahl.