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Veröffentlicht am 01.04.2019

Das 17. Jahrhundert ersteht neu auf - farbenprächtig und unterhaltsam

Die Henkerstochter (Die Henkerstochter-Saga 1)
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Oliver Pötzsch nimmt uns in "Die Henkerstochter" mit in eine aufregende Woche des Jahres 1659 und läßt die damalige Stadt Schongau vor unseren Augen auferstehen. Er tut dies ganz wundervoll. Pötzschs ...

Oliver Pötzsch nimmt uns in "Die Henkerstochter" mit in eine aufregende Woche des Jahres 1659 und läßt die damalige Stadt Schongau vor unseren Augen auferstehen. Er tut dies ganz wundervoll. Pötzschs Schreibstil ist lebendig, mitreißend. Es macht Spaß, das Buch zu lesen und man kann regelrecht eintauchen in seine Welt, sieht Patrizierhäuser, Markstände, Folterkeller und andere Orte vor sich. Durch über 500 Seiten schafft der Autor es, daß man nie vergißt, in welcher Zeit das Buch spielt, immer wieder flicht er unaufdringlich kleine Details ein, die einen daran erinnert: wir sind im Jahre 1659. Dies wirkt völlig mühelos, aber es muß eine unglaubliche Recherchearbeit dahinterstecken. Kompliment dafür, daß Pötzsch diese Vielzahl an historischen Informationen so elegant in die Geschichte einflicht, daß man die geschichtlichen Fakten beim Lesen einfach mitnimmt. Es gibt kein Infodumping, keine langatmigen Exkurse, die Geschichte lebt und die Handlung lebt durch sie. Ganz hinreißend ist dies und eine Freude zu lesen.

Genau wie die Schauplätze sind auch die Charaktere bemerkenswert konzipiert und erzählt. Allen voran Jakob Kuisl, der Henker. Ein Bär von einem Mann, rauhbeinig, aber auch warmherzig. Er hat einen wundervollen Humor, einen klaren Blick auf die Welt und ist von erfreulicher Gradlinigkeit. Als in Schongau Kinder ermordet werden und eine Hebamme unschuldig eingekerkert wird, mit dem Damokleschwert von Folter und Scheiterhaufen über ihr, geht Kuisl daran, die Wahrheit herauszufinden. Unterstützt wird er dabei von Simon, dem jungen Medicus. Dieser ist nun in fast allem das Gegenteil von Kuisl: klein, sensibel, unsicher, etwas eitel und zimperlich, aber ein grundanständiger Kerl, der erkennt, wie beengt die Welt jener Zeit ist. Kuisl und Simon zusammen sind ein göttliches Ermittlerpaar. Mit lakonischem Humor spielt Pötzsch mit den Gegensätzen der beiden Männer, schafft amüsante Situationen, zeigt aber auch, daß die beiden ihr Streben nach Wahrheit und Wissen zusammenhält und sie sich wohlgesonnen sind. Die Szenen zwischen ihnen gehören zu den besten Momenten dieses an tolle Szenen so reichen Buches.

Die Henkerstochter Magdalena ist zwar im Buchtitel verewigt, hat aber von ihrem Charakter und ihrer Involvierung in die Geschichte weit weniger Eindruck auf mich gemacht als Jakob Kuisl und Medicus Simon. Aber auch sie ist sehr gut konzipiert, strahlt lebendig von den Seiten. Die Nebencharaktere snd ebenfalls fühlbar, echt. Selten konnte ich Geschriebenes so deutlich vor Augen sehen wie in diesem Buch.

Die Geschichte wird recht gemächlich erzählt - über 500 Seiten für eine knappe Woche sagen ja schon einiges aus. Das paßt aber zu diesem Roman, der von seiner Umgebung genauso lebt wie von der Handlung. Es ist sehr spannend und es gibt viele überraschende Entwicklungen. Die Bedrohung, die nicht nur der gefangengenommenen Hebamme, sondern den Schongauer Frauen allgemein durch den Hexenwahn entsteht, wird eindringlich und gut dargestellt, ebenso wie die Ausweglosigkeit eines Menschen, der erst einmal in die Hände der Gerichtsbarkeit fällt. Wer würde unter der Folter nicht irgendwann alles zugeben, ganz gleich, ob schuldig oder nicht? Auch schön die Erwähnung der Wasserprobe für Hexen: geht die gefesselte Frau im Fluß nicht unter, dann ist sie eine Hexe und wird verbrannt. Geht sie unter, dann ist sie unschuldig, aber eben ertrunken und tot. Das macht laut der Ratsherren dann auch weniger Arbeit. Diese Rechtlosigkeit der Menschen, der geringe Wert eines menschlichen Lebens werden dadurch eindringlich illustriert, ebenso wie durch die gelegentlichen Rückblicke auf den Dreißigjährigen Krieg, während dem es zu unaussprechlichen Grausamkeiten kam und dessen ehemalige Soldaten noch lange mordend und plündernd durch die Lande zogen.

Der Schongauer Hexenprozeß, der siebzig Jahre vor dem hier geschilderten Geschehen tatsächlich in Schongau stattfand, liegt angesichts der geschehenen Morde drohend über Stadt und Roman. Man spürt, wie schnell es gehen kann, daß Frauen als Hexen denunziert und verbrannt werden. Die Hinweise auf diesen Prozeß wiederholen sich im Roman leider zu häufig. Bestimmt sechs- oder siebenmal warnen sich die Charaktere davor, daß ein solcher Prozeß wieder droht und irgendwann ist man diese Wiederholungen etwas leid. Das geht auch mit einigen anderen Themen so, die zu oft wiederholt werden.

Zum Ende des Buches hin wurde das Erzähltempo für mich leider nicht mehr so erfreulich. Bis dahin hätte das Buch glatte fünf Sterne bekommen, aber im letzte Teil erfolgt eine Art Showdown, der sich mehr als siebzig Seiten hinzieht und streckenweise zäh wirkt, wieder einiges wiederholt. Leider kommt er auch nicht ohne die so überbenutzte Szene aus, in der der Bösewicht seinem Verfolger brav alle Fragen beantwortet und alle Pläne darlegt, wodurch der Verfolger dann Zeit gewinnt. Da Pötzsch sonst so erfrischend neu und abwechslungsreich geschrieben hat, war es etwas enttäuschend, daß er auf dieses 08/15-Werkzeug zurückgegriffen hat. Auch werden zum Ende hin die Auflösungen der Morde und ihres Drumherums etwas zu oft wiederholt.

Die sind aber nur kleine Mankos in einem wundervoll farbenprächtigen Buch, das Geschichte auferstehen läßt und uns mit herrlichen Charakteren beglückt. Ein sehr persönliches Nachwort gibt Hintergrundinformationen zu den Kuisl, die tatsächlich zu Pötzschs Vorfahren gehören. Wenn Pötzsch in diesem Nachwort die uralten Stammbäume und Dokumente beschreibt, auf die er Zugriff hat, wird mein Ahnenforschungs- und geschichtsaffines Herz ein klein wenig neidisch. Er hat die ihm vorliegenden Informationen jedenfalls absolut brillant genutzt und mir viele erfreuliche Lesestunden bereitet. Das nächste Buch von ihm werde ich mir sehr bald kaufen.

Veröffentlicht am 15.03.2019

Ein historisch bemerkenswert dokumentierter Einblick

Abgehört
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„Abgehört“ ist ein ungewöhnliches und schwieriges Buch. Zugrunde liegen ihm Protokolle, die die Briten von abgehörten Gesprächen kriegsgefangener deutscher Generäle (und einiger anderer hochrangiger Wehrmachtsangehöriger) ...

„Abgehört“ ist ein ungewöhnliches und schwieriges Buch. Zugrunde liegen ihm Protokolle, die die Briten von abgehörten Gesprächen kriegsgefangener deutscher Generäle (und einiger anderer hochrangiger Wehrmachtsangehöriger) machten. Diese Gespräche wurden geführt, ohne daß die Deutschen sich der Abhörung bewußt waren, so sind sie von einer Unbefangenheit, die man in offiziellen Memoiren, Interviews und anderen Texten nie finden würde. Dadurch, daß wir in den Protokollen die direkte wörtliche Rede lesen, gewinnen diese Gesprächsausschnitte auch noch einmal eine starke Unmittelbarkeit.

Der erste Teil der Buches erklärt die Situation, in der die Protokolle erstellt wurden und teilt die Gespräche in vier Themenschwerpunkte auf (Meinungen zur Kriegslage, Kriegsverbrechen, 20. Juli, Kollaboration/Mitwirkung beim Neuaufbau). Hier werden die Gesprächsprotokolle zusammengefaßt, ein wenig erklärt, es gibt Hintergrundinformationen. Die eigentlichen Gesprächsprotokolle, ebenfalls in Kapiteln zu jenen Themenschwerpunkten aufgeteilt, finden sich dann auf rund 350 Seiten in der Mitte des Buches. Anschließend folgen Kurzbiographien der Gesprächsführenden, die auch eine Einschätzung des jeweiligen Charakters sowohl durch Wehrmachtsvorgesetzte wie auch Briten oder Amerikaner beinhaltet. So werden uns die Personen über den reinen Lebenslauf hinaus nähergebracht. Leider fehlten hier meistens Informationen zum Werdegang nach dem Krieg. Ein umfangreicher (über 100 Seiten) Fußnotenteil erklärt viele Punkte der Gesprächsprotolle, gibt Hintergrundinformationen, rückt manche Information in den historischen Kontext oder auch ins richtige Licht, denn auch unter sich sind die Herren nicht immer ganz ehrlich oder neigen manchmal zur Schönfärberei.

Vor dieser ausführlichen Bearbeitung, insbesondere den in den Biographien und Fußnoten zusammengetragenen Hintergrundinformationen, kann man nur höchsten Respekt haben. Das ist eine bemerkenswerte Historikerleistung. Die Fußnoten sind sehr ausführlich und wurden von mir häufig zu Rate gezogen. Da oben auf jeder Seite vermerkt ist, auf welche Seitenabschnitte sich die jeweiligen Fußnoten beziehen, ist die richtige Seite auch immer rasch gefunden - es entfällt das zähe Suchen nach Kapitelnummer und Fußnotennummer. Solch eine Benutzerfreundlichkeit ist so einfach, und trotzdem in Sachbüchern selten.

Die Vorbemerkungen sind hilfreich, aber sie nehmen schon vieles aus den Gesprächsprotokollen vorweg. Die Protokolle selbst sind ausgesprochen interessant, man bekommt hier sonst nicht mögliche Einblicke. Einige der Protokolle wiederholen sich im Inhalt ziemlich, gerade wenn es um die Kriegslage geht. Hier hätte einiges ausgelassen werden können, ohne daß der inhaltliche Eindruck beeinträchtigt worden wäre. Wie die Kriegslage gesehen wurde, welche Überlegungen man zur Zukunft anstellte, ist natürlich gerade mit heutigem historischen Wissen faszinierend zu lesen. Auch die inneren Einblicke in Gespräche mit führenden Köpfen der Diktatur waren lesenswert, manchmal - sofern man das in diesem Kontext überhaupt sagen kann - aufgrund der flapsigen Ausdrucksweise in den Protokollen fast amüsant. Ein Bericht behandelt ein vertrauliches militärisches Gespräch mit Göring, der wie ein chinesischer Mandarin in farbenfrohe Seide gekleidet und reichlich mit Juwelen behängt ist, das verwöhnte Töchterchen Edda spielt im Zimmer und unterbricht die Besprechung, weil ihr Perlenkettchen kaputt gegangen ist - das ist alles so grotesk und lächerlich, dazu so locker erzählt, daß man trotz allem schmunzeln muß.

Ein entsetzlicher Gegensatz dazu das Kapitel über Kriegsverbrechen. Hier konnte ich nur in ganz kleinen Abschnitten lesen. Man kennt die dort berichteten Verbrechen gegen die Menschlichkeit und doch ist es immer wieder furchtbar, darüber zu lesen. Aufschlußreich aber die Haltungen der sich Unterhaltenden hier. Es gibt einige wenige, die sich generell gegen diese Verbrechen aussprechen. Andere subsumieren es unter militärischer Notwendigkeit, oder empören sich gegen die Art und Weise, nicht aber dagegen, daß unzählige unschuldige Menschen, vom Baby bis zum Greis, qualvoll ermordet wurden. Besonders interessant - und erschreckend - ist es, daß sogar jene, die gegen die Nazidiktatur einstellt sind, häufig einen starken Antisemitismus zeigen und Verbrechen gegen ihre jüdischen Mitmenschen durchaus gerechtfertigt finden.

Eindringlich sind auch viele der Protokolle über den 20. Juli. Einer der Gesprächsführenden ist nach diesem Attentat verhaftet worden und berichtet darüber. Es krampft einem beim Lesen das Herz. Diese persönlichen Komponenten spielen auch eine Rolle, wenn diskutiert wird, inwieweit man sich aus der Gefangenschaft am Widerstand beteiligt (zB durch Radio- oder Zeitungsaufrufe). Hier ist allen sich in England in Sicherheit befindlichen Männern klar, daß sie dadurch ihre Familien in Gefahr bringen würden. Auch die Aussichtslosigkeit des Krieges wird sehr klar formuliert: „Man kann ja nichts weiter machen als nur sterben, denn wenn man zurückgeht, wird man ja erschossen. (…) Denn wenn sie vorne nicht totgehen, werden sie hinten totgemacht.“ Tod an der Front oder Tod durch die eigene Regierung, das war für die Soldaten die Realität.

Die unterschiedlichen Meinungen sind interessant zu lesen. Es gibt jene, die bis zum Ende jedes Wort gegen die Diktatur als Verrat ansehen. Jene, die den Nationalsozialismus als Idee weiterhin gut finden, nur an der Umsetzung hätte es eben gehapert. Und jene, die, entweder von Anfang an, oder durch ihre Kriegs- oder Gefangenschaftserfahrungen, wissen, welch verbrecherisches Regime da agiert. „Wir haben uns ja versündigt, nicht Sie und nicht ich, aber wir auch als Repräsentanten dieses Systems, indem wir gehaust haben gegen alle sittlichen Gesetze auf der ganzen Welt.“

Veröffentlicht am 04.03.2019

Eine Geschichte voller Sprachkunst, psychologischer Raffinesse und Verstörendem

Nada
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"Tief in der Nacht krochen dunkle Gewitterwolken wie endlos lange Finger über den Himmel. Schließlich erdrosselten sie den Mond."

Das oben wiedergegebene Zitat zeigt nicht nur die herrliche Sprachgewalt ...

"Tief in der Nacht krochen dunkle Gewitterwolken wie endlos lange Finger über den Himmel. Schließlich erdrosselten sie den Mond."

Das oben wiedergegebene Zitat zeigt nicht nur die herrliche Sprachgewalt dieses Buches, sondern faßt auch die herrschende Atmosphäre der Geschichte gut zusammen. Es ist ein ausgesprochen düsteres Buch, eine Welt voller Gewalt, Frustration, gestohlener Chancen, Grausamkeit und Depression. Wir begleiten die 18jährige Andrea, die voller Hoffnung auf neue Unabhängigkeit und ein interessantes Leben zu ihrem Studium nach Barcelona kommt, wo sie bei ihrer Familie leben wird. Es ist 1944, der Spanische Bürgerkrieg ist noch frisch in der Erinnerung und den Nachwirkungen, Francos brutale Diktatur in ihrer unnachgiebigsten Phase, Hunger und Mangel herrschen allenthalben (etwa 200.000 Spanier verhungerten in den 1940er Jahren aufgrund schlechter Rationen).

Carmen Laforet schrieb dieses Buch 1945, laut einiger Quellen ist es semibiographisch, auch wenn die Autorin dies abstritt. In jedem Fall kennt sie diese düstere Zeit aus eigener Erfahrung, studierte zudem ebenfalls in Barcelona und kennt auch die Stadt und ihre Situation in den 1940ern. Sie schrieb in einem Regine mit strenger Zensur, was erklärt, daß vieles im Buch ungesagt bleibt oder symbolisch verbrämt wird. Daß das Buch überhaupt veröffentlicht wurde, liegt daran, daß die Zensoren davon ausgingen, daß es kaum jemand kaufen würde und somit seine Wirkung unterschätzten. Wer es also mag, daß die Fäden der Geschichte am Ende verknüpft, die offenen Fragen geklärt sind, für den ist dieses Buch nicht das Richtige.

Andreas Optimismus schwindet schnell dem, was sie "Alptraum" nennt - ihrer zutiefst psychologisch auffälligen Familie, die in einer heruntergekommenen, vor Dreck starrenden Wohnung haust und sich beständig verbal und körperlich attackiert. Die Schilderungen von Wohnung und Familie sind ausgesprochen verstörend - und zugleich faszinierend. Kurze Rückblicke, Momentaufnahmen aus besseren Zeiten, zeigen uns, daß zumindest der soziale Status der Familie einmal ein ganz anderer war und es dort gepflegter und kulturell reicher zuging. So sind Wohnung und Familie symptomatisch für das, was auch Spanien in dieser Zeit erlebte - der Verlust der alten Werte, der Hoffnung, der Schönheit. Stattdessen das Leben als Überlebenskampf, der Einzug von Gewalt in den Alltag. Nach und nach erfahren wir mehr über die einzelnen Familienmitglieder und ich konnte das Buch kaum niederlegen, so gespannt war ich darauf, was sich als nächstes offenbaren würde, was wir über die Familie und ihr Trauma erfahren würden.

Kontrastierend dazu sind Andreas Erfahrungen an der Universität, mit der hübschen Ena aus gutem Hause, einer Gruppe Bohemiens, einigen jungen Männern, die an ihr bzw Ena interessiert sind. Sie sucht eine Welt außerhalb ihrer ver- und gestörten Familie und merkt, daß sie so richtig nirgendwo dazupaßt. Hier gab es im Buch einige Längen, im Mittelteil wurde mir zu viel von diesen Kontakten Andreas mit den diversen Gruppen geschildert. Mir fehlte das, was dieses Buch so außerordentlich machte - diese grenzenlose Abscheulichkeit der Familie und ihrer Wohnung. Auch sind manche Szenen des Buches zu überzeichnet und surreal für meinen Geschmack.

Zuletzt finden sich aber Verbindungen, manches zuvor belanglos Erscheinende ergibt Sinn (anderes nicht) und die letzten Kapitel sind fulminant, mit schockierenden Ereignissen und Entwicklungen. Es bleiben Rätsel, unbeantwortete Fragen, Unklarheiten, und das ist frustrierend, aber wie oben geschrieben muß man den Kontext beachten, in dem dieser Roman geschrieben wurde.

Das, was dieses Buch aber ganz besonders hervorhebt, was auch bei den weniger interessanten Passagen wie ein Geschenk war, ist der Schreibstil. Hier auch ein Kompliment an die Übersetzerin, die diese Sprachgewalt aus dem Spanischen so gut ins Deutsche gebracht hat. Selten habe ich so viele traumhaft schöne Sätze gelesen, so ein gelungenes Malen mit Worten erlebt, solche Sprachkunst genossen. Alleine dafür lohnt es sich, das Buch zu lesen.

Veröffentlicht am 03.03.2019

Ein Strom entrauscht umwölktem Felsensaale

Herrlich wie am ersten Tag
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Goethes Umgang mit Sprache war meisterhaft und man kann vor dieser Wortgewalt oft nur bewundernd stehen und staunen. In diesem Buch sind nun 125 seiner Gedichte versammelt, zu jedem Gedicht gibt es Gedanken ...

Goethes Umgang mit Sprache war meisterhaft und man kann vor dieser Wortgewalt oft nur bewundernd stehen und staunen. In diesem Buch sind nun 125 seiner Gedichte versammelt, zu jedem Gedicht gibt es Gedanken und Interpretationen deutschsprachiger Autoren. Diese erschienen ab 1974 wöchentlich in der FAZ und wurden hier in einem Buch zusammengefaßt - eine sehr gute Idee. Wie bei allen insel Taschenbüchern ist die Aufmachung ansprechend.

Die Gedichte werden in mehr oder weniger chronologischer Reihenfolge präsentiert, so daß wir Goethe poetisch durch sein Leben begleiten können. Auf dies eine hervorragende Idee - viele der die Gedichte kommentierenden Texte gehen auf seine jeweilige biographische Situation ein, so daß wir hier auch eine Art Biographie haben. Zudem kann man durch diese Darbietung den sich verändernden Stil Goethes beobachten. Die sprudelnd enthuisiastische Lebensfreude der ersten Gedichte führt allmählich zu dem manchmal resignierten, manchmal gelassenen kontemplativen Stil der Altersgedichte.

Die Gedichte selbst sind eine gute Mischung aus bekannten und unbekannten Werken. Es sind Gedichte dabei, die mir den Atem nahmen und welche, bei denen ich etwas gleichgültig die Schultern zuckte. Auch der große Goethe hat nicht nur perfekte Gedichte verfaßt. Am besten war er meiner ganz persönlichen Meinung nach immer, wenn er über die Natur schrieb. Niemand sonst kann die vielfältige Schönheit der Natur so wundervoll einfangen, in solch atemberaubende Wortschöpfungen kleiden. Das "Ein Strom entrauscht umwölktem Felsensaale" aus der Rezensionsüberschrift ist eine solche Gedichtzeile, die ich wieder und wieder las. Die meisten hier abgedruckten Gedichte sind ein wahres Vergnügen, die Auswahl gut getroffen.

Auch die begleitenden Texte bieten wechselndes Lesevergnügen und leider waren hier jene Texte,die ich nicht so gelungen fand, doch häufiger. Dies ist eine absolute Geschmackssache und das ist auch einer der Pluspunkte dieses Buches - über 75 Autoren haben ihre Interpretationen und Kommentare beigetragen, jeder hat seinen individuellen Stil und seine Sichtweise eingebracht, und so findet sich für jeden Leser viel Nützliches und Angenehmes, wenn es auch eben von Leser zu Leser differieren wird, welche der Kommentare als nützlich und angenehm empfunden werden. Viele verlieren sich für meinen Geschmack zu sehr in Versrhythmen und technischen Bemerkungen zu Jamben und dergleichen. Gabriele Wohmann schrieb lieber über sich selbst als über das jeweilige Gedicht. Klara Obermüller zwingt dem Gedicht "Das Veilchen" eine verkrampft-feministische Deutung auf; stellt selbst fest, daß diese eigentlich nicht paßt und preßt das Gedicht dann trotzdem in ein feministisches schwarz-weiß Weltbild. Marcel Reich-Ranicki empört sich wie ein beleidigter Junge über das satirisch-plumpe Gedicht "Rezensent" und unterstellt Volksverhetzung, Unterstützung der Todesstrafe und Gegnerschaft der Meinungsfreiheit. Falls er das nun auch satirisch gemeint hat, ist das seinem Text nicht anzumerken. Dafür trägt er mit seinem Kommentar zu "Alle Freuden, die unendlichen" dann wieder einen der schönsten Texte des Buches bei - ein gutes Beispiel für die Vielfalt der Kommentare und Interpretationen. Einige mir bislang unbekannte Autoren haben so wundervolle Kommentare verfaßt, daß ich gleich nachsah, welche Bücher sie geschrieben haben, und so neue Autoren für mich entdeckte. Das Buch ist auf mehrfache Weise eine Fundgrube.

Und so bekam ich hier einen tieferen Einblick in Goethes Lyrik und Leben, in die verschiedenen Sichtweisen der Kommentatoren, entdeckte manch mir unbekannte Gedichtperle und eben auch manch mir unbekannten Autor.

Veröffentlicht am 06.02.2019

Zusammenhänge und Hintergründe hervorragend erklärt

Die Besiegten
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Robert Gerwarth hat mit diesem Buch ein detailliertes Werk geschaffen, daß auf eine oft etwas vernachlässigte historische Epoche blickt - die Jahre direkt nach dem Ersten Weltkrieg. Er konzentriert sich ...

Robert Gerwarth hat mit diesem Buch ein detailliertes Werk geschaffen, daß auf eine oft etwas vernachlässigte historische Epoche blickt - die Jahre direkt nach dem Ersten Weltkrieg. Er konzentriert sich auf die Situation den Ländern, die den Krieg verloren haben und unbeschreibliche Umwälzungen, verbunden mit einer erschreckenden Gewaltwelle, durchleben mußten.

Während mir die Situation in Russland relativ bekannt war, ebenso wie natürlich die Lage in Deutschland, wußte ich bislang sehr wenig über die Nachkriegsjahre in der Türkei, Bulgarien, Ungarn, Polen oder selbst Österreich. Insofern konnte ich hier viel lernen, auch wenn mich nicht alle Länder gleichermaßen interessiert haben. Dies ist aber natürlich nicht dem Buch anzulasten. Auch die Geschichte der russischen Revolution habe ich selten so gut erklärt gelesen. Robert Gerwarth gelingt es nämlich ausgezeichnet, Zusammenhänge und Hintergründe klar zu erklären. So bekommt man teilweise einen ganz neuen Blick auf viele Entwicklungen und deren Auswirkungen auf Jahre und Jahrzehnte hinaus - teils bis heute.

Der differenzierte Blick der Autors hat mir sehr gut gefallen. Es hilft dabei, viele Geschehnisse besser einzuordnen und ebenfalls die "andere" Seite zu sehen, zu verstehen. Gerwarth scheut auch nicht davor zurück, vorgebliche Motive und Doppelmoral darzustellen. Präsident Wilson, der das nationale Selbstbestimmungsrecht und moralische Werte publikumswirksam hochhielt, aber dies nur für Weiße relevant hielt und gleichzeitig im eigenen Land Segregation kräftig unterstützte und die ehemaligen Kolonialvölker für unfähig hielt, sich selbst zu verwalten, ist ein gutes Beispiel.

Das spezielle Klima nach dem Krieg, welches der "Gewaltlogik" die Wege ebnete und in einer unvorstellbaren Ausartung von Gewalt mündete, wird ebenfalls gut beschrieben. Es ist immer wieder erschreckend zu lesen, wie beide extremistische Richtungen Gewalt und Terror gegen Andersdenkende (und auch völlig Unbeteiligte) als legitim ansahen. Ebenfalls interessant, wie Mussolinis Taktik der von ihm initiierten Gewalt auf den Straßen, verbunden mit dem Versprechen, daß unter seiner Regierung wieder Ordnung herrschen würde, aufging und von Faschisten anderer Länder - leider erfolgreich - kopiert wurde. Dies alles wußte ich so ungefähr, es wird aber in diesem Buch klar und gut erklärt.

Manchmal waren die Schilderungen etwas zu detailverliebt für meinen Geschmack, gerade auch, wenn Gerwarth die Geschehnisse Land für Land betrachtet. Letztlich ähneln sich die Vorgänge in vielen Ländern sehr, und so liest man für jedes Land ausführlich Ähnliches, was etwas anstrengend ist. Da Gerwarth die Vorgänge thematisch sortiert, springt er zeitlich in den einzelnen Kapiteln manchmal etwas hin und her. Wenn man mit der Geschichte eines Landes nicht so vertraut ist, ist es etwas irritierend, wenn man eben erst ausführlich von den Geschehnissen bis Sommer 1919 liest, und im nächsten Kapitel plötzlich in den Herbst 1918 zurückgeworfen wird. Es gibt keine Zeitleiste, die die Einordnung vereinfacht hätte. So war trotz der an sich klaren Erzählweise das Lesen manchmal etwas mühsam.

Im Ganzen aber überzeugt der Stil, die Informationen sind wertvoll, die Zusammenhänge beeindruckend erklärt. Ein sehr gelungenes Buch.