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Veröffentlicht am 07.05.2021

Eine spannende und überraschend abgeschlossene Fortsetzung über Liebe, Pflicht, Verantwortung und Intrigen...

Protect the Prince
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Den ersten Teil der Splitterkronen-Reihe, "Kill the Queen" von Jennifer Estep, habe ich letztes Jahr im März geradezu verschlungen, weshalb es für mich außer Frage stand, dass ich Everleighs Abenteuer ...

Den ersten Teil der Splitterkronen-Reihe, "Kill the Queen" von Jennifer Estep, habe ich letztes Jahr im März geradezu verschlungen, weshalb es für mich außer Frage stand, dass ich Everleighs Abenteuer auch in Band 2 und Band 3 verfolgen muss. Den Erscheinungstermin von Band 2, "Protect the Prince" habe ich letztes Jahr leider verpennt, weshalb ich mir jetzt kurz nach dem Erscheinungstermin des dritten Teils, den zweiten gebraucht gesichert habe, bevor es dann mit einem Buddyread zu "Crush the King" weitergeht.

Leider hat die Splitterkronen-Reihe meiner Meinung nach von Band 1 zu Band 2 ein bisschen Pepp verloren, was man auch schon an der Gestaltung sieht. Band 2 ist genau wie "Kill the Queen" in einem typischen, unspektakulären Jugendbuch-Fantasy-Stil gehalten, lässt aber die raffinierte Machweise vermissen, die beim ersten Teil überzeugt hat. Zusehen ist hier eine etwas unförmige Silhouette einer Frau mit wehenden Haaren, einem Dolch in der Hand, die von einem Herrenhaus und Gewitterhimmel ausgefüllt wird, was sich interessant vom hellen, gesplitterten Hintergrund abhebt. Leider passt das Schloss eher weniger gut zum im Buch beschriebenen Glitnir in Andvari und die Glassplitter im Hintergrund passen zwar zum Inhalt, sehen jedoch ein bisschen billig und künstlich aus. Ebenfalls schade fand ich, dass hier die in Band 1 angefügte Karte fehlt und die drei großen Abschnitte nicht wie in Band 1 zusätzlich ausgestaltet sind. Alles in allem finde ich die Gestaltung von "Protect the Prince" zwar gelungen und passend zu Reihe, im Vergleich mit Band 1 lässt sich jedoch einen leichten Abwärtstrend feststellen.


Erster Satz: "Der Tag des ersten Mordanschlags begann wie jeder andere Tag auch."


Genauso verhält es sich mit der Geschichte an sich. Versteht mich nicht falsch, ich mochte "Protect the Prince" sehr und kann es auch herzlich weiterempfehlen. Nach dem sehr starken Reihenauftakt waren meine Hoffnungen jedoch ein bisschen größer. Überrascht hat mich, dass Jennifer Estep hier eine isolierte, in sich abgeschlossene Geschichte erzählt, die zwar auf Informationen und Figuren des ersten Teils aufbaut, ansonsten jedoch alleine stehen könnte. Genau wie Band 1 ist das Ende in sich rund, sodass man auch nach Band 2 mit dem Lesen aufhören könnte. In "Protect the Prince" geht es also nicht direkt nach dem gewohnten Schema weiter, stattdessen hat sich Jennifer Estep etwas Neues überlegt. Wir reisen für die Handlung dieses Mittelteils nämlich zusammen mit der frisch gekürten Königin und ihrer gesamten Entourage in Bellonas Nachbarland, nach Andvari, um mit dem dortigen König Heinrich einen Friedensvertrag auszuhandeln. Damit will Everleigh ihre Stellung an ihrem eigenen Hof sichern und sich einen reichen Verbündeten gegen den gemeinsamen Feind Morta sichern. Die Verhandlungen stellen sich jedoch als alles andere als leicht heraus und plötzlich befindet sich Everleigh in einem Strudel aus Intrigen, Attentaten und Verrat...

Mit dem Gladiatoren-Kampf geprägten ersten Teil, in dem wir Everleigh auf ihrem Weg auf den Thron begleiten hat die Fortsetzung also nur noch wenig gemein. Jennifer Estep ruht sich hier nicht auf Band 1 aus, sondern entwickelt ihre Geschichte komplett weiter und fokussiert hier vor allem auf die Vorgänge und Dynamiken bei Hofe. Das ist auch keineswegs ein Problem, sondern nur einfach etwas anderes, als ich erwartet hätte. Trotzdem fiel mir der Einstieg auch nach etwas mehr als einem Jahr sehr leicht, da die Autorin viele Erklärungen voranstellt und Figurenbeschreibungen und Informationen zum Setting innerhalb der ersten Kapitel nochmal wiederholt, sodass man sich bald erinnert, wer nochmal wer war und was in Band 1 alles passiert ist. Das Vergangene spielt jedoch schon bald keine große Rolle mehr, da wir in Andvari eine komplett neue Ausgangslage präsentiert bekommen, die wir zunächst entdecken müssen. Dass die drei großen Abschnitte, die die 27 Kapitel zusammenfassen, mit "Der erste/zweite/dritte Mordanschlag" benannt sind, sorgt zusätzlich für Spannung.


"Man muss jemanden wirklich verzweifelt lieben, um etwas so Dummes, Gefährliches zu tun." Er hielt den Blick auf die Klippen gerichtet, doch mein Herz verkrampfte sich trotzdem. Diese Geschichten mochten romantisch und herzerwärmend sein, doch wir wussten beide, dass Liebe nicht immer alles in Ordnung brachte. Manchmal machte sie alles nur noch schlimmer."


Dennoch ist "Protect the Prince" lange nicht so temporeich und spannend wie Band 1. Zu Beginn halten eine Serie von Mordanschlägen und Kämpfen die frisch gekürte Königin auf Trab. Im Mittelteil nimmt sich die Fortsetzung jedoch erstmal Zeit, die Gegebenheiten am neuen Hof in Andvari auszuloten und Evies Beziehung zu Sullivan zu vertiefen. Das ist auch keineswegs ein Problem, an manchen Stellen reichen gezielte Intrigen zwischen Kaffeekränzchen und ein Kampf nach einer königlichen Audienz jedoch einfach nicht aus, um darüber hinwegzutäuschen, dass Jennifer Estep von Zeit zu Zeit etwas zu sehr ins Schwafeln gerät. In "Kill the Queen" waren Informationen über Setting und Figuren eher beiläufig platziert und ließen mehr Raum für die aufs Ganze gehende Handlung, als ich vom Auftaktband einer Reihe erwartet hätte. Hier werden Kleidung, Zimmer, Magie und Gärten manchmal seitenlang beschrieben und die liebgewonnenen Nebenfiguren aus Band 1 sind nur nette Begleitung, die sich aber weder weiterentwickeln, noch besonders Eindruck hinterlassen. Dazu kommt, dass ich recht schnell einen Verdacht hatte, wer hinter den Attentaten steckt und der Verräter ist, was sich am Ende dann auch leider bestätigt hat.


"Wir sind nicht mehr in der Arena ... was leider bedeutet, dass du deinen Streitkolben niemandem auf den Kopf schlagen kannst. Aber auch ich darf ihnen mein Schwert nicht in den Bauch rammen, wie sehr ich mir das auch wünsche", sagte ich und schwächte meine letzten Worte zu einem Murmeln ab. "Oh, wir befinden uns immer noch in einer Arena. Nur dass du jetzt mit Worten kämpfst, statt mit Waffen."


Wirklich langweilig wird es aber trotzdem nie. Dafür sorgen zum einen der für High Fantasy recht temporeiche und dynamische Erzählstil, der die Handlung zu jeder Zeit vorwärts treibt und Längen verhindert. Mit spannenden Kämpfen, Intrigen, Geheimnissen, Reisen durch mehrere Königreiche, der Vorstellung von Fabelwesen wie Gargoyles oder Strixen und dem Kennenlernen von verschiedenen Arten von Magiern - Murkse, die eine verbesserte Körpereigenschaft besitzen, Morphe, die sich in Monstergestalten verwandeln, Magier, die Elemente kontrollieren und Meister, die aus Materialien die beeindruckendsten Dinge herstellen können - bekommen wir zu jeder Zeit genügend Spannendes präsentiert, dass man darüber wegsehen kann, dass "die Außenseiterin mit einer geheimen Gabe, die durch einen Schicksalsschlag zur Auserwählten wird, kämpfen lernt und ihr Königreich rettet" nicht gerade ein neues Konzept ist. Jennifer Estep nutzt hier gezielt Fantasy-Klischees um uns zu unterhalten und holt das Beste aus jedem einzelnen hinaus ohne ins Unglaubwürdige oder Langweilige abzudriften. Die Außenseiterin mit der geheimen, versteckten Macht wird zusätzlich zu ihrer Immunität mit einer "Murksgabe", also einem verbesserten Geruchssinn, ausgestattet, der sie entgegen des Spotts aller in vielen Situationen weiterbringt als die machtvollste Blitzmagie. Der geheimnisvolle, starke Krieger/Prinz, in den sich die Protagonistin verliebt, wird nicht zum großen Retter, sondern bleibt als Sehnsuchtsfigur im Hintergrund, während die Heldin sich selbst retten darf.

"Ich hatte das Gefühl, als wäre mein Herz eine der Seerosen, wie sie auf der Oberfläche des Teichs trieben. Doch statt Wasserströmungen waren es bei mir Menschen, die mich in diese oder jene Richtung zerrten. Und alle wollten mich zwingen, nach ihrer Pfeife zu tanzen. Ich fragte mich, wer am Ende wohl gewinnen würde... oder ob mich die damit einhergehenden Strömungen und Intrigen in die Tiefe ziehen und ertränken würden.

Und hier wären wir bei dem zweiten Punkt, der die Geschichte einfach genial macht: die Protagonisten.
Eine tragende Säule der Geschichte ist vor allem die sympathische, starke Protagonistin, Lady Everleigh Saffira Winter Blair, kurz Evie. Sie ist voller Wut, kalter Berechnung und Entschlossenheit aber auch voll Mitgefühl, Wärme und dem genau richtigen Maß an zerbrechlichem Selbstbewusstsein, sodass man ihr ihren täglichen Kampf mit Freuden abnimmt. "Protect the Prince" ist genau wie der Vorgänger kein wirkliches Jugendbuch - nicht nur weil hier viele blutige Kämpfe ausgetragen werden und gelegentlich auch Schwangere, Hilflose und Kinder abgeschlachtet werden, sondern auch weil die Protagonistin mit ihren 28 Jahren außergewöhnlich "alt" ist. Dass war für mich natürlich eine nette Abwechslung, aber dadurch ist Evie vielleicht nicht die beste Identifikationsfigur für 14jährige, sondern spricht eher etwas ältere Leserinnen an. Sie ist sehr viel erfahrener, selbstbewusster, reifer und gefestigter als die üblichen Fantasy-Protagonistinnen, was die Story von viel Geschmachte, emotionalen Schwankungen, Peinlichkeiten sowie einer ellenlangen Selbstsuche befreit und mir sehr zugesagt hat. Das bedeutet nicht, dass sie sich nicht entwickeln würde, im Gegenteil: wie sie beginnt, sich nichts mehr gefallen zu lassen und ihre Stärken offen auszuspielen ist nicht nur amüsant, sondern auch beeindruckend zu verfolgen. Hier bekommen wir auch ab und zu wieder Rückblicke in die Vergangenheit von Evie, die weiter erklären, was damals passiert ist und wie ihre Eltern gestorben sind.

Hier rückt wie gesagt die Liebesgeschichte zu dem gutaussehenden andvarischen Bastardprinzen, Magier und Gladiator Lucas Sullivan weiter in den Vordergrund und entwickelt sich. Grundsätzlich hat mir gut gefallen, dass die zuvor sehr leise Liebesgeschichte weiter ausgebaut wird, gerade eine Szene gegen Ende wirkt dann aber doch sehr gezwungen und überstürzt. Hier hätte eine Aussprache oder eine reine Andeutung besser zur Geschichte gepasst. Alles in allem ergänzt die Komponente der Liebe im Wechselspiel mit Pflicht, Verantwortung und Intrigen, die Handlung aber sehr passend.


"Weil das Leben nun einmal grausam und herzlos ist", blaffte Helene. "Weil wir das Glück festhalten sollten, das uns geschenkt wurde. Und wir sollten uns nicht den Kopf darüber zerbrechen, was andere davon - oder von uns - halten. Liebe zu einem anderen Menschen bedeutet schließlich, dieser Person zuliebe Kompromisse einzugehen. Das ist wahre Liebe, Lucas."


Doch die Protagonistin bleibt nicht die einzige starke Frau, die sich nichts sagen lässt und die wir hier bewundern dürfen. Neben der gefährlichen Meistergladiatorin und Ausbilderin Serilda Swanson, der starken Kämpferin und Freundin Paloma und der gerissenen Tanzlehrerin und Spionin Xenia, sind auch hier neu auftauchende Figuren wie die Geliebte des Königs Dahlia, oder die schöne Pflanzenmeisterin Helene spannende Figuren, die "Protect the Prince" bereichern. Ich bin ein großer Fan von feministischer Fantasy, in der es Königinnen und Kämpferinnen gibt, die sich nicht von irgendwelchen Rittern retten lassen oder von gutaussehenden Prinzen abgelenkt werden, sondern selbst das Heft in die Hand nehmen, wodurch Jennifer Estep noch weitere Pluspunkte sammeln konnte.

Nun bin ich sehr gespannt, wie es im dritten Band mit Evie und Sully weitergeht und ob die anstehenden Regalia-Spiele und der unvermeidbar scheinende Krieg mit Morta "Crush the King" wieder auf das Anfangsniveau der Reihe heben können.



Fazit:
*
Eine spannende und überraschend abgeschlossene Fortsetzung über Liebe, Pflicht, Verantwortung, Intrigen. "Protect the Prince" ist leider etwas weniger temporeich und spannend als Band 1, überzeugt jedoch wieder mit tollem Setting, starken Figuren und einem packenden Schreibstil!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 02.05.2021

Eine einfühlsame und berührende Geschichte über Familie, Einsamkeit, Liebe und Orientierungslosigkeit!

Alles okay
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"Alles okay" ist einer dieser Romane, die zwar etwas mit einem anstellen, bei denen man aber dennoch nicht so recht weiß, was man von ihnen halten soll. Nina LaCour hat hier eine unbestreitbar einfühlsame ...

"Alles okay" ist einer dieser Romane, die zwar etwas mit einem anstellen, bei denen man aber dennoch nicht so recht weiß, was man von ihnen halten soll. Nina LaCour hat hier eine unbestreitbar einfühlsame und berührende Geschichte über Familie, Einsamkeit, Liebe und Orientierungslosigkeit geschrieben, die jedoch nicht ihr volles Potential ausschöpft.


„Das Problem beim Verdrängen ist, wenn die Wahrheit hochkommt, bist du nicht darauf vorbereitet.“


Das Cover passt unfassbar gut. Ein Mädchen zwischen irgendwo Meer und Wohnheimzimmer, vor der Welt versteckt, aber in die Ferne blickend, einsam träumend, still hoffend - der Verlag hat hier in Anlehnung an die Originalgestaltung den Nagel auf den Kopf getroffen und es geschafft, die Atmosphäre der Geschichte bildhaft und wunderschön darzustellen. Sehr schön sind auch die durch eine geschwungene Linie langgezogenen Kapitelanfänge, die die dreißig kurzen Kapitel miteinander verbinden. Das Triple der Gestaltungsperfektion wird dann durch den wunderbar passenden Titel komplettiert, der ebenfalls wie das Design glücklicherweise sehr nah am Original "We are okay" gehalten ist und perfekt zum Inhalt passt. Denn im Endeffekt geht es um eine junge Frau, die weit davon entfernt ist, "okay" zu sein, sich dies jedoch erst eingestehen und nach außen bewältigen muss.


Erster Satz: "Bevor Hannah ging, fragte sie noch einmal, ob wirklich alles okay sei."


"Alles okay" startet sehr zurückhaltend in das Leben von Marin, die über die Weihnachtszeit alleine im Studentenwohnheim verbleibt. Tütensuppen, Tee und Einsamkeit-Essays - das bestimmt ihr Alltag, bis ihre beste Freundin Mabel zu Besuch kommt, um zu versuchen, sie aus ihrer Lethargie zu reißen und herauszufinden, warum sie vor vier Monaten einfach abgehauen ist - mit nichts als ihrem Portemonnaie, ihrem Handy und einem Foto ihrer Mutter... Paradox ist am Einstieg in die Geschichte, dass die melancholische, unaufgeregte Stimmung sich sofort einstellt - nach wenigen Sätzen hat einen die bittersüße Stille und hallende Leere zwischen den Worten verschlungen -, die richtigen Gefühle der Protagonisten aber erst viel später auftauchen. Zwar fühlt sich Marin schon von Beginn an einsam und niedergeschlagen, hat ihre Gefühle jedoch sorgsam im Griff. Der Einstieg liest sich demnach so, als wäre eine dünne Membran zwischen einem selbst und all den verborgenen Emotionen und Gedanken, die in Marin unter der Oberfläche schwelen.


"Ich hatte die Traurigkeit verdrängt. Fand sie in Büchern. Weinte über Romane statt die Wirklichkeit. Die Wirklichkeit war schnörkellos, bodenlos. Sie hatte keine poetische Sprache, keine gelben Schmetterlinge, keine epischen Regenfälle. In Wirklichkeit gab es keine Stadt unter Wasser, keine Generationen von Männern mit dem gleichen Namen, die dazu verdammt waren, immer die gleichen Fehler zu wiederholen. Die Wirklichkeit war tief genug, um darin zu ertrinken."


Während durch immer wieder auftauchende Rückblenden aus den letzten Jahren und Monaten langsam klar wird, was am Ende des Sommers passiert ist, wartet man auf den Moment, in dem der Schleier zerreißt und man zusammen mit Marin die ganzen Emotionen spürt, die sie tief in sich vergraben hat. Durch die vielen kleinen Puzzleteile, die durch die einzelnen Erinnerungsfetzen zusammengesetzt werden, wird die Ausgangslage der Protagonistin erst nach und nach erklärt. Das hatte leider zur Folge, dass ich zu Beginn gar nicht wusste, was ich nun mit der Protagonistin, der Stimmung der Handlung anfangen sollte. Klar, in dem besonderen Aufbau, der sich langsam auf die Enthüllung zuspitzenden Emotionalität, liegt ein Teil des Reizes des Romans und die Geschichte ist auch nicht so lang, dass wirkliche Längen aufkommen, in denen man damit spielt, die Geschichte abzubrechen, dennoch konnte mich der Beginn dadurch einfach nicht so sehr erreichen und ich war eher eine distanzierte Beobachterin dessen.


"Ich hoffe, du kriegst keinen Ärger", sagte ich, aber wie könnten wir Ärger kriegen? Wir waren verzaubert. Wir waren Strandgeschöpfe. Wie hatten die Taschen voller Schätze und einander auf der Haut."


Auch zwischen den einzelnen Rückblenden geschieht nicht allzu viel - "Alles okay" ist eher leise und handlungsarm erzählt, mit einem klaren Fokus auf den Gefühlen und Beziehungen der Figuren. Diese kamen jedoch leider über einen Großteil der Geschichte nicht ganz bei mir an. Ich habe zwar mit den beiden Mädchen mitgefühlt und mich gefragt, was damals denn geführt hat, dass sich Marin und Mabel nun in dieser Situation befinden, große Emotionen fehlten aber erstmal komplett. Um es mal mit Marins Worten auszudrücken: "Ich kann mir vorstellen, wie es wäre [...]. Nur spüren kann ich es nicht."


"Früher waren es nur Geschichten. Aber jetzt sickern sie ins Leben und werden immer schrecklicher. (...) Früher habe ich bei einer Geschichte geweint und das Buch zugeklappt und dann war es vorbei. Jetzt hallt alles nach, sitzt fest wie ein Splitter und eitert."


Umso mehr gefühlt habe ich die melancholische Stimmung, die zwischen behaglich und schmerzhaft, traurig auf die schöne Art und herzzerreißend tragisch schwankt. Alleine im Wohnheim, kurz vor Weihnachten, mitten in einem winterlichen Schneesturm - das Szenario ist geradezu prädestiniert für Einsamkeit, Verzweiflung und Traurigkeit, welche durch Nina LaCours poetische, ruhige Schreibweise auch sehr eindringlich transportiert werden. Ganz toll ist auch, dass die Autorin hier nicht nur zwei starke Frauenfiguren in den Vordergrund rückt, sondern auch die Liebe zwischen zwei besten Freundinnen, die langsam entdecken, dass sie auch mehr sein könnten, so unfassbar feinfühlig und lebensecht beschreibt, dass man keine Sekunde verpassen möchte. Dabei gibt es viele Stellen, bei denen es tief in mir Klick gemacht hat, leider jedoch auch einige Beschreibungen und Zustände, die nicht bei mir ankamen. Denn gleichzeitig gehen durch den Fokus auf Mabel und Marin potentiell spannende Nebenfiguren stark unter.


"Sie schließt die Augen. Ich sehe sie an. Ich wünsche ihr von Herzen alles Gute. Einen freundlichen Taxifahrer und kurze Warteschlange. Einen Flug ohne Turbulenzen mit einem freien Platz neben ihr. Wunderschöne Weihnachten. Ich wünsche ihr mehr Glück, als in einen Menschen passt. Ich wünsche ihr so viel Glück, dass es überläuft."


Der genaue Zeitpunkt, an dem der oben genannte Gefühlsschleier dann endlich zerriss, kann ich im Nachhinein gar nicht mehr festmachen. Sicher ist nur, dass mich das Ende so unfassbar berührt hat, dass mir die letzten 20 Seiten über fast permanent Tränen über die Wangen gelaufen sind. Alles, was zuvor nur entfernt zu erahnen war, bricht plötzlich über Marin und somit auch die LeserInnen herein und zerstört die gewahrte Distanz komplett. Doch kann das emotionale Ende über den eher ziellosen Start hinwegtäuschen? Was soll ich also nur von der Geschichte halten? Ist die inhaltliche Auflösung gegen Ende unter all den Emotionen nicht ein bisschen schwach (sowohl das Familiendrama als auch die Lösung an sich scheinen recht konstruiert, wenn man mit Abstand zurückblickt) für den ansonsten so nachdenklichen Roman? Sind die beiden starken Frauenfiguren und die Liebe zwischen zwei Mädchen, die von Freundinnen zu mehr werden genug, um das fast vollständige Fehlen von starken Nebenfiguren auszugleichen? Und über allem steht die Frage, was mir die Autorin mit dieser Geschichte sagen wollte. Ja, ich habe gefühlt, aber begriffen nicht wirklich. Deshalb gibt es von mir für diese ambivalente, wunderschöne Geschichte nur 4 statt 5 Sterne.


"Ratlosigkeit ist ein dunkler Ort. Ein Ort, den man schlecht ertragen kann. Aber ich schätze, wir verbringen den größten Teil unseres Lebens dort. Und ich schätze, wir sind alle dort, deshalb muss es vielleicht gar nicht so einsam sein. Vielleicht kann ich mich einleben, es mir gemütlich machen, mich an die Ungewissheit gewöhnen."



Fazit:

"Alles okay" ist eine einfühlsame und berührende Geschichte über Familie, Einsamkeit, Liebe und Orientierungslosigkeit, die jedoch wie der Roman selbst voll Höhen und Tiefen ist. Das Ende ist wahnsinnig ergreifend, die inhaltliche Auflösung jedoch eher schwach. Die Atmosphäre, die durch die Seiten sickert, ist so erdrückend, schwermütig und bittersüß, dass man gar nicht weiß, wohin mit sich. Dagegen bleiben die Emotionen der Hauptfigur bis kurz vor dem Ende eher unnahbar. Nina LaCours Erstling ist also ein Herzensbuch, auch wenn ich keine 5 Sterne geben kann.

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  • Erzählstil
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Veröffentlicht am 02.05.2021

Eine einfühlsame und berührende Geschichte über Familie, Einsamkeit, Liebe und Orientierungslosigkeit!

Alles okay
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"Alles okay" ist einer dieser Romane, die zwar etwas mit einem anstellen, bei denen man aber dennoch nicht so recht weiß, was man von ihnen halten soll. Nina LaCour hat hier eine unbestreitbar einfühlsame ...

"Alles okay" ist einer dieser Romane, die zwar etwas mit einem anstellen, bei denen man aber dennoch nicht so recht weiß, was man von ihnen halten soll. Nina LaCour hat hier eine unbestreitbar einfühlsame und berührende Geschichte über Familie, Einsamkeit, Liebe und Orientierungslosigkeit geschrieben, die jedoch nicht ihr volles Potential ausschöpft.


„Das Problem beim Verdrängen ist, wenn die Wahrheit hochkommt, bist du nicht darauf vorbereitet.“


Das Cover passt unfassbar gut. Ein Mädchen zwischen irgendwo Meer und Wohnheimzimmer, vor der Welt versteckt, aber in die Ferne blickend, einsam träumend, still hoffend - der Verlag hat hier in Anlehnung an die Originalgestaltung den Nagel auf den Kopf getroffen und es geschafft, die Atmosphäre der Geschichte bildhaft und wunderschön darzustellen. Sehr schön sind auch die durch eine geschwungene Linie langgezogenen Kapitelanfänge, die die dreißig kurzen Kapitel miteinander verbinden. Das Triple der Gestaltungsperfektion wird dann durch den wunderbar passenden Titel komplettiert, der ebenfalls wie das Design glücklicherweise sehr nah am Original "We are okay" gehalten ist und perfekt zum Inhalt passt. Denn im Endeffekt geht es um eine junge Frau, die weit davon entfernt ist, "okay" zu sein, sich dies jedoch erst eingestehen und nach außen bewältigen muss.


Erster Satz: "Bevor Hannah ging, fragte sie noch einmal, ob wirklich alles okay sei."


"Alles okay" startet sehr zurückhaltend in das Leben von Marin, die über die Weihnachtszeit alleine im Studentenwohnheim verbleibt. Tütensuppen, Tee und Einsamkeit-Essays - das bestimmt ihr Alltag, bis ihre beste Freundin Mabel zu Besuch kommt, um zu versuchen, sie aus ihrer Lethargie zu reißen und herauszufinden, warum sie vor vier Monaten einfach abgehauen ist - mit nichts als ihrem Portemonnaie, ihrem Handy und einem Foto ihrer Mutter... Paradox ist am Einstieg in die Geschichte, dass die melancholische, unaufgeregte Stimmung sich sofort einstellt - nach wenigen Sätzen hat einen die bittersüße Stille und hallende Leere zwischen den Worten verschlungen -, die richtigen Gefühle der Protagonisten aber erst viel später auftauchen. Zwar fühlt sich Marin schon von Beginn an einsam und niedergeschlagen, hat ihre Gefühle jedoch sorgsam im Griff. Der Einstieg liest sich demnach so, als wäre eine dünne Membran zwischen einem selbst und all den verborgenen Emotionen und Gedanken, die in Marin unter der Oberfläche schwelen.


"Ich hatte die Traurigkeit verdrängt. Fand sie in Büchern. Weinte über Romane statt die Wirklichkeit. Die Wirklichkeit war schnörkellos, bodenlos. Sie hatte keine poetische Sprache, keine gelben Schmetterlinge, keine epischen Regenfälle. In Wirklichkeit gab es keine Stadt unter Wasser, keine Generationen von Männern mit dem gleichen Namen, die dazu verdammt waren, immer die gleichen Fehler zu wiederholen. Die Wirklichkeit war tief genug, um darin zu ertrinken."


Während durch immer wieder auftauchende Rückblenden aus den letzten Jahren und Monaten langsam klar wird, was am Ende des Sommers passiert ist, wartet man auf den Moment, in dem der Schleier zerreißt und man zusammen mit Marin die ganzen Emotionen spürt, die sie tief in sich vergraben hat. Durch die vielen kleinen Puzzleteile, die durch die einzelnen Erinnerungsfetzen zusammengesetzt werden, wird die Ausgangslage der Protagonistin erst nach und nach erklärt. Das hatte leider zur Folge, dass ich zu Beginn gar nicht wusste, was ich nun mit der Protagonistin, der Stimmung der Handlung anfangen sollte. Klar, in dem besonderen Aufbau, der sich langsam auf die Enthüllung zuspitzenden Emotionalität, liegt ein Teil des Reizes des Romans und die Geschichte ist auch nicht so lang, dass wirkliche Längen aufkommen, in denen man damit spielt, die Geschichte abzubrechen, dennoch konnte mich der Beginn dadurch einfach nicht so sehr erreichen und ich war eher eine distanzierte Beobachterin dessen.


"Ich hoffe, du kriegst keinen Ärger", sagte ich, aber wie könnten wir Ärger kriegen? Wir waren verzaubert. Wir waren Strandgeschöpfe. Wie hatten die Taschen voller Schätze und einander auf der Haut."


Auch zwischen den einzelnen Rückblenden geschieht nicht allzu viel - "Alles okay" ist eher leise und handlungsarm erzählt, mit einem klaren Fokus auf den Gefühlen und Beziehungen der Figuren. Diese kamen jedoch leider über einen Großteil der Geschichte nicht ganz bei mir an. Ich habe zwar mit den beiden Mädchen mitgefühlt und mich gefragt, was damals denn geführt hat, dass sich Marin und Mabel nun in dieser Situation befinden, große Emotionen fehlten aber erstmal komplett. Um es mal mit Marins Worten auszudrücken: "Ich kann mir vorstellen, wie es wäre [...]. Nur spüren kann ich es nicht."


"Früher waren es nur Geschichten. Aber jetzt sickern sie ins Leben und werden immer schrecklicher. (...) Früher habe ich bei einer Geschichte geweint und das Buch zugeklappt und dann war es vorbei. Jetzt hallt alles nach, sitzt fest wie ein Splitter und eitert."


Umso mehr gefühlt habe ich die melancholische Stimmung, die zwischen behaglich und schmerzhaft, traurig auf die schöne Art und herzzerreißend tragisch schwankt. Alleine im Wohnheim, kurz vor Weihnachten, mitten in einem winterlichen Schneesturm - das Szenario ist geradezu prädestiniert für Einsamkeit, Verzweiflung und Traurigkeit, welche durch Nina LaCours poetische, ruhige Schreibweise auch sehr eindringlich transportiert werden. Ganz toll ist auch, dass die Autorin hier nicht nur zwei starke Frauenfiguren in den Vordergrund rückt, sondern auch die Liebe zwischen zwei besten Freundinnen, die langsam entdecken, dass sie auch mehr sein könnten, so unfassbar feinfühlig und lebensecht beschreibt, dass man keine Sekunde verpassen möchte. Dabei gibt es viele Stellen, bei denen es tief in mir Klick gemacht hat, leider jedoch auch einige Beschreibungen und Zustände, die nicht bei mir ankamen. Denn gleichzeitig gehen durch den Fokus auf Mabel und Marin potentiell spannende Nebenfiguren stark unter.


"Sie schließt die Augen. Ich sehe sie an. Ich wünsche ihr von Herzen alles Gute. Einen freundlichen Taxifahrer und kurze Warteschlange. Einen Flug ohne Turbulenzen mit einem freien Platz neben ihr. Wunderschöne Weihnachten. Ich wünsche ihr mehr Glück, als in einen Menschen passt. Ich wünsche ihr so viel Glück, dass es überläuft."


Der genaue Zeitpunkt, an dem der oben genannte Gefühlsschleier dann endlich zerriss, kann ich im Nachhinein gar nicht mehr festmachen. Sicher ist nur, dass mich das Ende so unfassbar berührt hat, dass mir die letzten 20 Seiten über fast permanent Tränen über die Wangen gelaufen sind. Alles, was zuvor nur entfernt zu erahnen war, bricht plötzlich über Marin und somit auch die LeserInnen herein und zerstört die gewahrte Distanz komplett. Doch kann das emotionale Ende über den eher ziellosen Start hinwegtäuschen? Was soll ich also nur von der Geschichte halten? Ist die inhaltliche Auflösung gegen Ende unter all den Emotionen nicht ein bisschen schwach (sowohl das Familiendrama als auch die Lösung an sich scheinen recht konstruiert, wenn man mit Abstand zurückblickt) für den ansonsten so nachdenklichen Roman? Sind die beiden starken Frauenfiguren und die Liebe zwischen zwei Mädchen, die von Freundinnen zu mehr werden genug, um das fast vollständige Fehlen von starken Nebenfiguren auszugleichen? Und über allem steht die Frage, was mir die Autorin mit dieser Geschichte sagen wollte. Ja, ich habe gefühlt, aber begriffen nicht wirklich. Deshalb gibt es von mir für diese ambivalente, wunderschöne Geschichte nur 4 statt 5 Sterne.


"Ratlosigkeit ist ein dunkler Ort. Ein Ort, den man schlecht ertragen kann. Aber ich schätze, wir verbringen den größten Teil unseres Lebens dort. Und ich schätze, wir sind alle dort, deshalb muss es vielleicht gar nicht so einsam sein. Vielleicht kann ich mich einleben, es mir gemütlich machen, mich an die Ungewissheit gewöhnen."



Fazit:

"Alles okay" ist eine einfühlsame und berührende Geschichte über Familie, Einsamkeit, Liebe und Orientierungslosigkeit, die jedoch wie der Roman selbst voll Höhen und Tiefen ist. Das Ende ist wahnsinnig ergreifend, die inhaltliche Auflösung jedoch eher schwach. Die Atmosphäre, die durch die Seiten sickert, ist so erdrückend, schwermütig und bittersüß, dass man gar nicht weiß, wohin mit sich. Dagegen bleiben die Emotionen der Hauptfigur bis kurz vor dem Ende eher unnahbar. Nina LaCours Erstling ist also ein Herzensbuch, auch wenn ich keine 5 Sterne geben kann.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 02.05.2021

Eine einfühlsame und berührende Geschichte über Familie, Einsamkeit, Liebe und Orientierungslosigkeit!

Alles okay
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"Alles okay" ist einer dieser Romane, die zwar etwas mit einem anstellen, bei denen man aber dennoch nicht so recht weiß, was man von ihnen halten soll. Nina LaCour hat hier eine unbestreitbar einfühlsame ...

"Alles okay" ist einer dieser Romane, die zwar etwas mit einem anstellen, bei denen man aber dennoch nicht so recht weiß, was man von ihnen halten soll. Nina LaCour hat hier eine unbestreitbar einfühlsame und berührende Geschichte über Familie, Einsamkeit, Liebe und Orientierungslosigkeit geschrieben, die jedoch nicht ihr volles Potential ausschöpft.


„Das Problem beim Verdrängen ist, wenn die Wahrheit hochkommt, bist du nicht darauf vorbereitet.“


Das Cover passt unfassbar gut. Ein Mädchen zwischen irgendwo Meer und Wohnheimzimmer, vor der Welt versteckt, aber in die Ferne blickend, einsam träumend, still hoffend - der Verlag hat hier in Anlehnung an die Originalgestaltung den Nagel auf den Kopf getroffen und es geschafft, die Atmosphäre der Geschichte bildhaft und wunderschön darzustellen. Sehr schön sind auch die durch eine geschwungene Linie langgezogenen Kapitelanfänge, die die dreißig kurzen Kapitel miteinander verbinden. Das Triple der Gestaltungsperfektion wird dann durch den wunderbar passenden Titel komplettiert, der ebenfalls wie das Design glücklicherweise sehr nah am Original "We are okay" gehalten ist und perfekt zum Inhalt passt. Denn im Endeffekt geht es um eine junge Frau, die weit davon entfernt ist, "okay" zu sein, sich dies jedoch erst eingestehen und nach außen bewältigen muss.


Erster Satz: "Bevor Hannah ging, fragte sie noch einmal, ob wirklich alles okay sei."


"Alles okay" startet sehr zurückhaltend in das Leben von Marin, die über die Weihnachtszeit alleine im Studentenwohnheim verbleibt. Tütensuppen, Tee und Einsamkeit-Essays - das bestimmt ihr Alltag, bis ihre beste Freundin Mabel zu Besuch kommt, um zu versuchen, sie aus ihrer Lethargie zu reißen und herauszufinden, warum sie vor vier Monaten einfach abgehauen ist - mit nichts als ihrem Portemonnaie, ihrem Handy und einem Foto ihrer Mutter... Paradox ist am Einstieg in die Geschichte, dass die melancholische, unaufgeregte Stimmung sich sofort einstellt - nach wenigen Sätzen hat einen die bittersüße Stille und hallende Leere zwischen den Worten verschlungen -, die richtigen Gefühle der Protagonisten aber erst viel später auftauchen. Zwar fühlt sich Marin schon von Beginn an einsam und niedergeschlagen, hat ihre Gefühle jedoch sorgsam im Griff. Der Einstieg liest sich demnach so, als wäre eine dünne Membran zwischen einem selbst und all den verborgenen Emotionen und Gedanken, die in Marin unter der Oberfläche schwelen.


"Ich hatte die Traurigkeit verdrängt. Fand sie in Büchern. Weinte über Romane statt die Wirklichkeit. Die Wirklichkeit war schnörkellos, bodenlos. Sie hatte keine poetische Sprache, keine gelben Schmetterlinge, keine epischen Regenfälle. In Wirklichkeit gab es keine Stadt unter Wasser, keine Generationen von Männern mit dem gleichen Namen, die dazu verdammt waren, immer die gleichen Fehler zu wiederholen. Die Wirklichkeit war tief genug, um darin zu ertrinken."


Während durch immer wieder auftauchende Rückblenden aus den letzten Jahren und Monaten langsam klar wird, was am Ende des Sommers passiert ist, wartet man auf den Moment, in dem der Schleier zerreißt und man zusammen mit Marin die ganzen Emotionen spürt, die sie tief in sich vergraben hat. Durch die vielen kleinen Puzzleteile, die durch die einzelnen Erinnerungsfetzen zusammengesetzt werden, wird die Ausgangslage der Protagonistin erst nach und nach erklärt. Das hatte leider zur Folge, dass ich zu Beginn gar nicht wusste, was ich nun mit der Protagonistin, der Stimmung der Handlung anfangen sollte. Klar, in dem besonderen Aufbau, der sich langsam auf die Enthüllung zuspitzenden Emotionalität, liegt ein Teil des Reizes des Romans und die Geschichte ist auch nicht so lang, dass wirkliche Längen aufkommen, in denen man damit spielt, die Geschichte abzubrechen, dennoch konnte mich der Beginn dadurch einfach nicht so sehr erreichen und ich war eher eine distanzierte Beobachterin dessen.


"Ich hoffe, du kriegst keinen Ärger", sagte ich, aber wie könnten wir Ärger kriegen? Wir waren verzaubert. Wir waren Strandgeschöpfe. Wie hatten die Taschen voller Schätze und einander auf der Haut."


Auch zwischen den einzelnen Rückblenden geschieht nicht allzu viel - "Alles okay" ist eher leise und handlungsarm erzählt, mit einem klaren Fokus auf den Gefühlen und Beziehungen der Figuren. Diese kamen jedoch leider über einen Großteil der Geschichte nicht ganz bei mir an. Ich habe zwar mit den beiden Mädchen mitgefühlt und mich gefragt, was damals denn geführt hat, dass sich Marin und Mabel nun in dieser Situation befinden, große Emotionen fehlten aber erstmal komplett. Um es mal mit Marins Worten auszudrücken: "Ich kann mir vorstellen, wie es wäre [...]. Nur spüren kann ich es nicht."


"Früher waren es nur Geschichten. Aber jetzt sickern sie ins Leben und werden immer schrecklicher. (...) Früher habe ich bei einer Geschichte geweint und das Buch zugeklappt und dann war es vorbei. Jetzt hallt alles nach, sitzt fest wie ein Splitter und eitert."


Umso mehr gefühlt habe ich die melancholische Stimmung, die zwischen behaglich und schmerzhaft, traurig auf die schöne Art und herzzerreißend tragisch schwankt. Alleine im Wohnheim, kurz vor Weihnachten, mitten in einem winterlichen Schneesturm - das Szenario ist geradezu prädestiniert für Einsamkeit, Verzweiflung und Traurigkeit, welche durch Nina LaCours poetische, ruhige Schreibweise auch sehr eindringlich transportiert werden. Ganz toll ist auch, dass die Autorin hier nicht nur zwei starke Frauenfiguren in den Vordergrund rückt, sondern auch die Liebe zwischen zwei besten Freundinnen, die langsam entdecken, dass sie auch mehr sein könnten, so unfassbar feinfühlig und lebensecht beschreibt, dass man keine Sekunde verpassen möchte. Dabei gibt es viele Stellen, bei denen es tief in mir Klick gemacht hat, leider jedoch auch einige Beschreibungen und Zustände, die nicht bei mir ankamen. Denn gleichzeitig gehen durch den Fokus auf Mabel und Marin potentiell spannende Nebenfiguren stark unter.


"Sie schließt die Augen. Ich sehe sie an. Ich wünsche ihr von Herzen alles Gute. Einen freundlichen Taxifahrer und kurze Warteschlange. Einen Flug ohne Turbulenzen mit einem freien Platz neben ihr. Wunderschöne Weihnachten. Ich wünsche ihr mehr Glück, als in einen Menschen passt. Ich wünsche ihr so viel Glück, dass es überläuft."


Der genaue Zeitpunkt, an dem der oben genannte Gefühlsschleier dann endlich zerriss, kann ich im Nachhinein gar nicht mehr festmachen. Sicher ist nur, dass mich das Ende so unfassbar berührt hat, dass mir die letzten 20 Seiten über fast permanent Tränen über die Wangen gelaufen sind. Alles, was zuvor nur entfernt zu erahnen war, bricht plötzlich über Marin und somit auch die LeserInnen herein und zerstört die gewahrte Distanz komplett. Doch kann das emotionale Ende über den eher ziellosen Start hinwegtäuschen? Was soll ich also nur von der Geschichte halten? Ist die inhaltliche Auflösung gegen Ende unter all den Emotionen nicht ein bisschen schwach (sowohl das Familiendrama als auch die Lösung an sich scheinen recht konstruiert, wenn man mit Abstand zurückblickt) für den ansonsten so nachdenklichen Roman? Sind die beiden starken Frauenfiguren und die Liebe zwischen zwei Mädchen, die von Freundinnen zu mehr werden genug, um das fast vollständige Fehlen von starken Nebenfiguren auszugleichen? Und über allem steht die Frage, was mir die Autorin mit dieser Geschichte sagen wollte. Ja, ich habe gefühlt, aber begriffen nicht wirklich. Deshalb gibt es von mir für diese ambivalente, wunderschöne Geschichte nur 4 statt 5 Sterne.


"Ratlosigkeit ist ein dunkler Ort. Ein Ort, den man schlecht ertragen kann. Aber ich schätze, wir verbringen den größten Teil unseres Lebens dort. Und ich schätze, wir sind alle dort, deshalb muss es vielleicht gar nicht so einsam sein. Vielleicht kann ich mich einleben, es mir gemütlich machen, mich an die Ungewissheit gewöhnen."



Fazit:

"Alles okay" ist eine einfühlsame und berührende Geschichte über Familie, Einsamkeit, Liebe und Orientierungslosigkeit, die jedoch wie der Roman selbst voll Höhen und Tiefen ist. Das Ende ist wahnsinnig ergreifend, die inhaltliche Auflösung jedoch eher schwach. Die Atmosphäre, die durch die Seiten sickert, ist so erdrückend, schwermütig und bittersüß, dass man gar nicht weiß, wohin mit sich. Dagegen bleiben die Emotionen der Hauptfigur bis kurz vor dem Ende eher unnahbar. Nina LaCours Erstling ist also ein Herzensbuch, auch wenn ich keine 5 Sterne geben kann.

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Veröffentlicht am 30.04.2021

Locker, leicht, atmosphärisch und romantisch!

Und dann war es Liebe
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In einer der letzten Montagsfragen ging es um unsere liebsten Eskapismus-Bücher, die uns auch in Zeiten von Ausgangsbeschränkungen und Reiseverboten an Traumorte entführen können. Letzte Woche durfte dank ...

In einer der letzten Montagsfragen ging es um unsere liebsten Eskapismus-Bücher, die uns auch in Zeiten von Ausgangsbeschränkungen und Reiseverboten an Traumorte entführen können. Letzte Woche durfte dank des Vorabexemplars der Bastei Lübbe auch "Und dann war es Liebe" von Lorraine Brown, welches genau heute Buchgeburtstag feiert, dem Corona-Fernweg-Club beitreten. Dieser zuckersüße Liebesroman über den Selbstfindungsprozess einer Frau, die in einer der schönsten Großstädte der Welt strandet und zwischen Montmartre und dem Gare du Nord einen neuen Lebensweg einschlägt, entführt nicht nur in ein traumhaftes Setting, sondern ist auch so spritzig geschrieben, dass man ihn in einem Rutsch weglesen kann.

Allein die äußerliche Gestaltung finde ich schon wunderschön. Der Lübbe Verlag hat sich hier für einen kartonierten Umschlag mit Klappbroschur entschieden, der von oben bis unten mit dem winzigen Blueprint der Buchseiten bedruckt ist. Vor dem Hintergrund der klitzekleinen Schrift ist ein buntes Aquarell-Motiv zu sehen, das die Skyline einer Stadt und ein sich küssendes Paar zeigt. Der geschwungene Titel und die bunt angedeuteten Feuerwerke runden das Bild ab. Sehr schön ist außerdem, dass sich die hintere Klappbroschur als Buchschnitt über den Buchblock umschlagen lässt. Auch wenn ich die Gestaltung des deutschen Covers wirklich hinreißend finde, gefällt mir das Originalcover fast noch besser, da es mit dem angedeuteten Zugabteil, dem Eifelturm und dem Titel konkreter ist und besser zur Handlung passt.


Erster Satz: "Ich sprintete die Treppe zum Bahnhof Venezia Santa Lucia hinauf."


Die dreißigjährige Hannah ist eigentlich an einem Punkt in ihrem Leben angelangt, an dem all ihre Träume in greifbarer Nähe scheinen. Bei einer romantischen Reise nach Venedig mit ihrem reichen, gutaussehenden Freund hat sie einen Verlobungsring gefunden und sieht dem Rest ihres gemeinsamen Lebens mit Freunde entgegen. Simon kümmert sich pflichtbewusst um alles Organisatorische, würde sie entgegengesetzt zu ihrem Vater niemals im Stich lassen und gibt ihr die Sicherheit und Stabilität, die sie sich schon immer gewünscht hat. Doch als sie im Nachtzug nach Amsterdam, wo sie die Hochzeit von Simons Schwester besuchen wollen, in einen falschen Waggon einsteigt und morgens in Paris landet, ist plötzlich alles anders. Ohne Portemonnaie, Handy und Gepäck in einer fremden Stadt ist sie zum ersten Mal seit langem wieder komplett auf sich allein gestellt und entdeckt ihre spontane und abenteuerliche Seite, als der ebenfalls gestrandete Franzose Leo sie kurzerhand auf eine Stadttour einlädt, um die Zeit zum nächsten Zug nach Amsterdam zu überbrücken. Nicht nur der charmante Fremde und die plötzliche Vertrautheit zwischen den beiden stürzt sie in Verwirrung, auch auftauchende Ungereimtheiten in Simons Äußerungen bezüglich einer der Brautjungfern, lässt sie ihr Lebensentwurf überdenken. Zwischen Montmartre, dem Eifelturm und der Seine stellt sie sich die Frage, ob Sicherheit wirklich das ist, was sie sich wünscht...

Anders als der Titel es impliziert, ist "Und dann war es Liebe" keine epische, leidenschaftliche Liebesgeschichte. Im Vordergrund steht hier viel mehr unsere Protagonistin Hannah und deren Erkenntnisprozess. Wer ist sie, was wünscht sie sich und wer will sie sein? Diese Fragen stellen wir uns zusammen mit unserer Hauptfigur, während sie einen spontanen, wunderschönen Tag in der Stadt der Liebe erlebt. Zwar hat Hannah zwischen den vielen kleinen Stationen der Stadttour nicht besonders viel Zeit zum Grübeln, die Entwicklung vollzieht sich also eher unterschwellig. Durch Erinnerungen und Rückblenden reflektiert sie jedoch immer wieder ihr bisheriges Leben, was uns Lesern das Kennenlernen zusätzlich vereinfacht. Die Beziehung zu ihrer Mutter, ihrem Vater, die Anfänge ihrer Partnerschaft mit Simon, ihre Jugend und ihre Freundschaft zu Elli... Lorraine Brown erweitert durch diese Rückblenden geschickt den Erzählausschnitt und vervollständigt nach und nach das Puzzle um Hannahs Leben, ohne ihren Haupterzählstrang damit zu stören. Die etwas chaotische, schlecht organisierte Powerfrau ist mir dabei schnell sehr ans Herz gewachsen. Unser zweiter Protagonist, Léo bleibt hingegen leider relativ blass. Wir erfahren während der 332 Seiten nur recht wenig über ihn, da er sich Hannah gegenüber nicht so sehr öffnet und durch die Erzählperspektive viele Fragen ihn betreffend offenbleiben. Er funktioniert hier also eher als Anstoß, Stadtführer und interessante Bekanntschaft, sein eigenes Innenleben bleibt eher grob umrissen.


"Was auch immer ich brauchte, Simon fand einen Weg, es mir zu ermöglichen - ich musste ihn nur darum bitten. Aber mittlerweile wohnten wir zusammen und dachten darüber nach, den Rest unseres Lebens gemeinsam zu verbringen, und ich kam nicht umhin, mich zu fragen, ob Simon gekommen war und mich gerettet hatte, bevor ich überhaupt herausfinden konnte, ob ich es auch selbst geschafft hätte."


Dementsprechend im Hintergrund bleibt auch die Liebesgeschichte, die zwar leise angedeutet wird, dem Setting und der Selbstfindungsgeschichte der Protagonistin aber den Vortritt lässt. Auch wenn ich zwischen den beiden keine große Chemie gespürt habe, hat mir sehr gut gefallen, dass die Autorin ein behutsames und wohlüberlegtes Tempo vorlegt: hier geht es nicht zu schnell, nicht zu langsam, nichts ist unrealistisch, weit hergeholt oder langweilig. Als die Beiden sich das erste Mal sehen, ist sofort eine gegenseitige Faszination zu spüren und auch wenn sie wissen, dass sich ihre Wege bald wieder trennen würden, wollen sie den anderen noch nicht gehen lassen. Dadurch dass die gesamte Handlung nur an einem Tag passiert und die Protagonisten kaum 24 Stunden miteinander verbringen, ist das, was sie teilen intensiver, spontaner und ungehemmter als in anderen Liebesgeschichten. Hier sprühen zwar keine Funken und auch das Schmieden großer Zukunftspläne ist hier nicht zu finden. Stattdessen beobachten wir hier die allerersten Schritte eines Annäherungsprozesses und das sich langsam aufbauende Vertrauen, das entsteht, während sich zwei Fremde, die nicht damit rechnen, sich nochmal zu begegnen, das Herz ausschütten...

Die wenigen Seiten der Geschichte täuschen: durch die kompakte Erzählweise und das kurze Erzählintervall passiert hier eine ganze Menge und es wird garantiert nicht langweilig. Ein fröhliches Prickeln, kaum Zeit zum Nachdenken, die ständige Gegenwart des anderen und eine sich schleichend einstellende Nähe - So entwickelt sich die Liebe zwischen ihnen langsam Schritt für Schritt, sodass trotz der vielen Ereignisse eine gemütliche Ruhe über die Geschichte liegt. Mir gefällt, dass hier alles im Fluss ist - die Geschichte, die Beziehung, die Charaktere, die Dialoge - hier gibt es keine schlagfertigen Wortgefechte, die sich lesen, als hätten sie die Autorin Tage gekostet, sie sich auszudenken oder schwülstige Liebeserklärungen. Stattdessen schreibt Lorraine Brown charmant, modern, einfühlsam und einfach ECHT, sodass man ihr jede Wendung abnimmt, bis man mit dem offenen und recht plötzlichen, aber süßen Ende die Geschichte abschließt.


"Okay, gehen wir", sagte ich stattdessen und drehte mich auf der Suche nach meiner Tasche im Kreis. "Bevor ich meine Meinung ändere." Léo musterte mich. "Du bist immer für Überraschungen gut, Hannah." "Oh ja, ich bin voll davon", erwiderte ich."


Wunderbar untermauert wird die sich langsam entwickelnde Liebesgeschichte natürlich durch das wundervolle Setting. Dass es kaum einen passenderen Ort für eine sich langsam entwickelnde Liebesgeschichte gibt als das romantische Paris, muss ich wohl kaum begründen. Vom Gare du Nord geht es mit dem Motorrad über den chaotischsten Kreisverkehr der Welt, weiter auf die Champs-Élysées zum Eifelturm und natürlich zur Sacré-Coeur. Abseits der typischen Touristenattraktionen führt Léos und Hannahs Weg entlang des Canal Saint-Martin oder in den Parc des Buttes Chaumont. Auch eine kulinarische Verköstigung der Spezialitäten wie die beste heiße Schokolade im Café Angelina, süße Kunstwerke in einer Patisserie auf der Quai de Valmy direkt am Wasser, Crêpes und eine Flasche Wein dürfen nicht fehlen. Lorraine Brown nutzt ihren Spielort jedoch nicht nur als Kulisse, sondern beschreibt die einzelnen Stationen der kurzen Tour so prägnant, dass diese einen Wert an sich haben und zum Träumen anregen. Ich war noch niemals in Paris, habe mich aber sehr gefreut, mir diese wundervolle Stadt durch Hannahs Augen ansehen zu können.



Fazit:


Locker, leicht, atmosphärisch und romantisch! Lorraine Brown erzählt die Geschichte einer chaotischen, liebenswerten Protagonistin, die in Mitten der Stadt der Liebe ihr Leben überdenkt und dabei mit alten Problemen und neuen Chancen fertig wird.

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