Eine mehr als würdige Fortsetzung!
Vollendet – Der AufstandNachdem mich "Vollendet - Die Flucht" schockiert, tief berührt und für immer für Neal Shusterman begeistert hat, stand es für mich nicht zur Debatte, auch diese Fortsetzung zu lesen. Und statt uns mit ...
Nachdem mich "Vollendet - Die Flucht" schockiert, tief berührt und für immer für Neal Shusterman begeistert hat, stand es für mich nicht zur Debatte, auch diese Fortsetzung zu lesen. Und statt uns mit einem gemächlichen Mittelteil einer Reihe zu enttäuschen fährt der Autor auch hier wieder alle Geschütze auf: drastische Wendungen, schockierende Grausamkeit, ehrliches Mitgefühl, tiefer Schmerz, leidenschaftliche Liebe - diese Geschichte ist genau wie ihr Vorgänger der blanke Wahnsinn!
"Wenn du bis zum Hals in Probleme steckst, kommst du natürlich schnell zu dem Schluss, dass du nichts taugst. Aber wir werden in diesem Leben alle auf die Probe gestellt, Connor. Einen Menschen soll man nicht danach beurteilen, wie viel er leidet, sondern danach, wie viel er erreicht."
Das Cover passt sehr gut zu dem von Band 1 und zeigt einen anderen Jungen in zerstückelter Pixel-Form, die auf die Umwandlung hinweist. Wer der dargestellte Junge sein soll und wer die Teenager auf den anderen Cover weiß ich zwar nicht, mir gefällt die neue Gestaltung mit dem dunklen Hintergrund und dem roten Titel aber besser als das Design der älteren Auflage, die ich ebenfalls gelesen habe.
Erster Satz: "Als sie ihn holen kommen, hat er gerade einen Albtraum."
So beginnen wir nach einem kurzen Quiz, der ein hilfreiches Glossar mit wichtigen Begriffen beinhaltet, den ersten von sieben großen Abschnitten, in die das Buch wieder geteilt ist. Anstatt gleich zu Connor, Risa und Lev zurückzukehren, führt der Autor zuerst drei neue Protagonisten ein, deren Perspektiven uns gemeinsam mit den schon bekannten über die Geschichte hinweg begleiten: Starkey, der gestorchte Unruhestifter, der vor seiner Umwandlung flieht, das Zehntopfer Miracolina, die ihrer Umwandlung voll Zuversicht entgegen blickt und der junge Cam, dessen Existenz auf der Umwandlung beruht. Dabei versteht es Neal Shusterman geschickt, uns in der Sicherheit einer bereits bekannten Situation zu wiegen, nur um dann mit der großen Überraschung aufzuwarten. Wie sich Starkey ganz nach seinem großen Vorbild, dem "Flüchtling aus Akron", gegen die JuPos wehrt und seiner Umwandlung entgeht, kommt uns auf den ersten Blick genauso bekannt vor wie die junge Miracolina, die sich ihrem Opfer so sicher ist, dass sie mit Hass auf die reagiert, die sie vor ihrer Umwandlung retten wollen. Doch dann geschieht das Unglaubliche: wir lernen Cam kennen, den ersten Verbundmenschen, der aus den besten Wandlerteilen der letzten Jahre designt wurde um ein neues Zeitalter der Menschheit einzuläuten. Und wenn das noch nicht Schock genug ist, verweben sich die beiden anderen neuen Handlungssträngen geschickt mit den schon bekannten und führen die Geschichte in eine Richtung, die der Leser nicht erwartet hätte...
"Deine Aufgabe ist es, dieses fantastische Potential zu nutzen, die vielen noch verknüpften Bereiche deines Gehirns zusammenzuführen, deine Körperteile aufeinander abzustimmen, sie zu harmonisieren. Du bist der Dirigent eines lebendigen Orchesters und deine Musik wird überwältigend sein!"
Auch wenn die Geschichte insgesamt ein wenig ruhiger voranschreitet als der schnelle Spurt des ersten Teils, bekommen wir auch hier kaum eine Pause zum Verschnaufen. "Vollendet - Der Aufstand" leidet keineswegs unter dem typischen Mittelteil-Syndrom sondern wartet mit vielen neuen Entwicklungen auf und schafft es, von der ersten bis zur letzten Seite für Hochspannung zu sorgen. Dabei ist die Handlung genauso dicht und zielführend gepackt wie Teil 1 auch wenn die Ausgangslage sich geändert hat und Connor als Leiter des Friedhofs auf einer ganz anderen Ebene des Widerstands agiert. Hier geht es nicht mehr ums Weglaufen, ums nackte Überleben von einem Tag auf den anderen. Für Connor, Risa und Lev geht es jetzt darum, die Wandler, die sie um sich versammelt haben in Richtung einer Zukunft zu führen und das gesamte System zu erschüttern.
"Erleben Sie eine Welt außerhalb Ihrer selbst: Tauchen Sie ein in den geteilten Zustand."
Risa musste eine traurige Wahrheit erkennen: Die Menschen glauben, was ihnen erzählt wird. Vielleicht nicht gleich beim ersten Mal, aber spätestens beim hundertsten Mal wird auch aus der verrücktesten Idee eine unverrückbare Tatsache."
Der Autor geht wieder an sämtliche Grenzen und schafft es in einem aufregenden Drahtseilakt uns gleichzeitig zu schockieren und zu berühren. Wieder ist die Handlung so faszinierend, sind die Protagonisten so authentisch und die philosophischen Fragen so aufwühlend, dass wir glatt vergessen, wie absurd, abstoßen und makaber eigentlich dieses Schreckensszenario ist, in der Problemteenager einfach umgewandelt werden und der Welt als Organbank dienen. Doch diese Idee wird wieder zu einer schockierenden und gleichzeitig wahnsinnig faszinierenden Geschichte, die Spannung, Gesellschaftskritik, Gruppendynamik und einen Schuss Wahnsinn zu einem komplexen Meisterwerk verarbeitet, das man nicht mehr aus der Hand legen kann.
"Tief in seinem Inneren, in der unvernünftigsten Ecke seines Verstandes - wahrscheinlich dort, wo Kindheitsträume bewahrt werden -, hat er insgeheim gehofft, dass er eines Tages zu Hause willkommen sein würde. Er wirft sich auf das Krankenhausbett, drückt das Gesicht ins Kissen und sein Schluchzen geht in ein lautes Heulen über. Der unterdrückte Schmerz des gesamten letzten Jahres strömt aus seiner Seele wie die Niagarafälle und es ist ihm egal, ob er im tödlichen Strudel des schäumenden Wassers ertrinkt."
Behutsam bekommen wir neue Hintergrundinformationen über den Heartland-Krieg, die Beginne der Umwandlung, die Jugend-Revolten und lernen eine Geheimorganisation kennen, die bei alldem wohl ihre Finger im Spiel hat. Selbst die kurzen Ausschnitte aus abstrusen Werbekampagnen für die Umwandlung, die immer mal wieder an passenden Stellen eingeworfen werden, führen den Leser zu einer höheren Instanz, die wohl der Drahtzieher des ganzen Übels ist. Es bleibt jedoch alles noch sehr kryptisch und die Lösung der angedeuteten Problematiken bleibt den zwei weiteren Bänden vorbehalten.
"Gewöhnte sich eine kranke Gesellschaft so sehr an ihre Krankheit, dass sie irgendwann nicht mehr weiß, wie es ist, gesund zu sein? Und was passiert, wenn die Menschen, denen der heutige Zustand gefällt, die Erinnerung als Gefahr betrachten?"
Besonders hervorgehoben wird die perfide Idee wieder durch den meisterhaft direkten, schonungslosen Schreibstil, der uns einen gruseligen Gänsehautmoment nach dem anderen beschert ohne grausam oder blutig zu sein. Ich hatte das Gefühl, das sich sein Stil schon deutlich sicherer und erfahrener liest als bei Band 1, vielleicht ist das aber auch nur ein Eindruck, der aus dem weniger gradlinigen, überraschungslastigen Plot entspringt. Denn anstatt schon Erzähltes zu wiederhole drehen wir schicksalhafte Kreise nur um am Ende wieder genau da anzukommen wo wir losgegangen sind. Dabei treffen wir auf alte Bekannte aus dem ersten Teil: den ehemaligen JuPo, den Connor auf seiner Flucht mit dessen eigener Waffe lahmgelegt hat und der nun als Teilepirat sein Unwesen treibt und auf Rache sinnt, das schmale Mündel Samson Ward, das Risa auf ihrem Weg zur Umwandlung kennengelernt hat und auch die mürrische alte Sonia hat nochmal ihren Auftritt. So werden selbst scheinbar unbedeutende Details nochmal ins Gedächtnis der Leser gerufen und es stellt sich die Frage, welch skurrile Begegnungen uns noch in Teil 3 und 4 erwarten.
"Sie ist wie ein Engel, der sich beim Sturz auf die Erde verletzt hat. Sie macht heilende Musik aber nichts kann ihre gebrochenen Flügel kurieren."
Das Beste an dieser Fortsetzung ist jedoch, dass Neal Shusterman seine zentralen Figuren Lev, Risa und Connor liebevoll weiterentwickelt und wir ganz neue Seiten an ihnen kennen lernen. Der impulsive, unbesonnene Connor muss ein Lager mit fast 2000 Jugendlichen leiten, die zielstrebige und mitfühlende Risa kann im Rollstuhl ihren Platz an seiner Seite nicht mehr finden und kann einem Wesen aus Wandlerteilen nur Verachtung entgegen bringen und der verwirrte, orientierungslose Lev wird zum Guru der Zehntopfer und soll ihnen Halt und Trost schenken. Ich hätte nicht gedacht, dass ich den "Flüchtling aus Akron", den "Klatscher, der nicht klatschte" und das "Mädchen mit den gebrochenen Flügeln und einem gebrochenen Rückgrat" einmal noch mehr ins Herz schließen könnte, doch das ist hier passiert. Ich wünsche den dreien so von Herzen Glück, dass es mit jedem Satz mehr wehtut, wenn sie alles verlieren, was sie lieben und zusehen müssen, wie das wofür sie gekämpft haben in Flammen aufgeht.
"Risa sitzt auf einem weich gepolsterten Sessel im Garten des Anwesens über den Klippen und betrachtet den tropischen Sonnenuntergang. Sie versucht innerlich, alles ins rechte Verhältnis zu setzten und Frieden zu schließen. Etwas brandet mächtig gegen ihre Seele, unerbittlich wie die Wellen, die sich unter ihr brechen, und erinnert sie daran, dass mit der Zeit auch die stärksten Berge abgetragen und ins Meer geschwemmt werden. Sie weiß nicht, wie lange sie noch standhalten kann - oder ob sie das überhaupt soll."
Das geheime Highlight der Geschichte ist aber Camus Comprix, der erste Verbundmensch der Geschichte. Die sensible Art und Weise, wie der Autor durch ihr die philosophische Fragen miteinbringt ob wir mehr sind als nur die Summe unserer Einzelteile und sie dann durch die intensive, einfühlsame Charakterstudie beantwortet, ist einfach hinreißend! Auch wenn der Gedanke an seine Existenz viel zu verschickt ist, um es ganz zu begreifen, muss man den verlorenen Jungen einfach ins Herz schließen, den die Welt für ein Monster hält und der die unfassbare Aufgabe hat, mehrere hundert Einzelteile zu einem harmonischen Ganzen zu vereinen. Mit seiner wilden Assoziations-Sprache, seinem verzweifelten Ringen um Ich-Gefühl und seiner Sehnsucht nach Liebe hat er mich tief berührt!
"Cam nimmt das Mikrofon noch einmal und presst die Lippen dagegen. Es kreisch. Es kratzt.
"Ich bin mehr als die Teile, aus denen ich bestehe!
Ich bin mehr!
Ich bin...
Ich...
Ich..."
Eine einzelne Stimme stellt ruhig die schlichte Frage: "Und wenn nicht?"
Das fulminante Ende lässt recht viel offen und macht es dringend erforderlich den dritten Teil zu lesen. Angesichts der Geschwindigkeit, mit der ich durch das Buch gehetzt und in den Strudel der Ereignisse gezogen wurde, lässt sich zum Abschluss nur sagen, dass dieser Roman eine mehr als würdige Fortsetzung darstellt!
Fazit:
Eine erschütternde und gleichzeitig wahnsinnig faszinierende Geschichte, die Spannung, Gesellschaftskritik, Gruppendynamik und einen Schuss Wahnsinn zu einem komplexen Meisterwerk verarbeitet, das man nicht mehr aus der Hand legen kann.
Drastische Wendungen, schockierende Grausamkeit, ehrliches Mitgefühl, tiefer Schmerz und leidenschaftliche Liebe - diese Geschichte ist eine mehr als würdige Fortsetzung!