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Veröffentlicht am 27.11.2020

Eine positive Überraschung auf ganzer Linie!

Eve of Man (2)
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Schon der erste Teil der "Eve of Man" Reihe von Giovanna und Tom Fletcher hatte es in sich: ein bisschen "The Handmaid’s Tale", ein Schuss "Rapunzel", eine angedeutete Teenie-Lovestory und ein postapokalyptisches ...

Schon der erste Teil der "Eve of Man" Reihe von Giovanna und Tom Fletcher hatte es in sich: ein bisschen "The Handmaid’s Tale", ein Schuss "Rapunzel", eine angedeutete Teenie-Lovestory und ein postapokalyptisches Setting, das liest man nicht alle Tage. Während "Eve of Man - Die letzte Frau" aber noch unter den Schwächen eines Trilogie-Auftakt litt, startet "Eve of Man - Die Rebellin" von der ersten Seite an voll durch und lenkt die Geschichte in eine ernstere, unvorhersehbarere und auch brutalere Richtung. Eine positive Überraschung auf voller Linie!

Dieses Cover ist genau wie der erste Teil mal wieder ein seltenes Beispiel dafür, dass ich das deutsche Cover schöner finde als das Original. Denn auch die Gestaltung des zweiten Bandes hat das Team des dtv-Verlags wieder gerockt. Im Zentrum ist wieder das goldene Eve-Logo zu sehen, welches ebenfalls auf dem dunkelblauen Buchdeckel prangt, wenn man den Umschlag entfernt. Das geschwungene "e", umrahmt vom Zeichen der Weiblichkeit, dem Venussymbol, passt wunderbar als Hauptsymbol der Geschichte, die mit Eve als letzte Frau einen feministischen Touch hat. Die schwarze, mit pinken Lichtpartikeln versetzte Sphäre und der Farbverlauf um die schlanke Silhouette eines Mädchens, welche gut zu meiner Vorstellung von Eve passt, wirkt gleichzeitig futuristisch und düster, womit die Atmosphäre der Geschichte gut wiedergegeben wird. Zwar fand ich persönlich die blau-goldene Farbkombination des ersten Teils ansprechender, da der zweite Teil aber super zum ersten passt, bin ich trotzdem sehr zufrieden mit dem Design! Wieder auffällig sind die sehr dünnen Seiten, durch die sich die 44 Kapitel der ohnehin schon knapp bemessenen Seitenanzahl von 336 Seiten wie noch weniger anfühlen.


Erster Satz: "Eingeschränkter Dienst."


"Eve of Man - Die Rebellin" schließt gleich an das Ende des ersten Teils an, in dem Bram und Eve nach einer spektakulären Flucht vom Turm der AFM gesprungen sind und sich nun auf dem Weg in die Freiheit befinden. Und mit "gleich" meine ich auch wirklich sofort - nahtlos begegnen wir den Protagonisten im Fallen wieder und sehen, wie schon auf dem Weg zum Erdboden auf Flutniveau die ersten Zweifel aufkommen. Denn Eve hat nicht nur alles zurückgelassen, was ihr Leben ausgemacht hat, nachdem sie aufgedeckt hat, dass ihr Leben im Turm nichts war, als eine große, schön verpackte Lüge, sondern weiß auch nicht, was sie in der realen Welt erwartet. Auch wenn die neue Freiheit erstmal süß schmeckt, lassen sie das überschwemmte, unbekannte Land mit den vielen Menschen, die nur darauf warten, dass sie nach ihrer Befreiung das Ruder übernimmt und ihre Wut über die Taten der AFM nicht vergessen, dass eine große Last auf ihren Schultern ruht: die Verantwortung die Menschheit vor ihrem Aussterben zu retten...


"Sie rufen dabei: "Für Eve." Aber sie tun das nicht für mich. Das ist eine falsche Interpretation. Sie tun es für sich, für uns, für jeden einzelnen Menschen, der existiert oder vor uns existiert hat. Das Leben wird nicht errungen oder genommen. Man darf nicht mit ihm spielen. Man muss es respektieren."


Das Ehepaar Fletcher hat hier keinen typischen Mittelteil geschrieben, der für das Zustandekommen einer Trilogie eben existieren muss, in dem aber nicht viel passiert - ganz im Gegenteil! Ausgehend von der enttarnten Lüge im ersten Teil wird die Geschichte wesentlich action- und temporeicher weitererzählt, sodass uns kaum eine ruhige Minute vergönnt ist. Die Flucht aus dem Turm geht nahtlos in eine Verfolgungsjagd bis zum Rebellenversteck über und bevor wir uns mit Eve und Bram erneut vor den Gardisten der AFM verstecken müssen und die Handlung in einen rasanten Showdown übergeht, prasseln viele neue Eindrücke im Libertisten-Hauptquartier auf uns ein. Die geringere Seitenzahl als Band 1 hat mich zu Beginn zwar etwas verunsichert und skeptisch werden lassen, lasst euch jedoch von mir versichert sein: hier fehlt nichts. Klar, das Autorenduo hätte sich noch etwas mehr Zeit nehmen können, um Eves Ankommen in der "realen Welt" und die Entwicklung ihrer Beziehung zu Bram auf eine neue Stufe genauer zu betrachten, ich finde das Verhältnis, in dem innere Prozesse hier im Vergleich zur Handlung stehen, jedoch angemessen in diesem Genre.


"Es gibt nicht den leisesten Zweifel, dass dies die richtige Entscheidung ist. Und ich bin nicht allein. Das missbilligende Getuschel ist verschwunden. Jetzt summt die Luft förmlich. Ein Summen, dass nach Veränderung klingt. Das Summen eines Volkes, das seine Fesseln abstreift."


Neben dem gesteigerten Erzähltempo hat sich die Geschichte auch auf anderen Ebenen erstaunlich weiterentwickelt. Was in "Eve of Man - Die letzte Frau" noch eine recht harmlose und typische Einführung in eine dystopische Welt war, wird hier um mehrere Dimensionen ernster und auch brutaler. Das kommt zum einen dadurch zustande, dass wir nicht mehr von Eves "perfekter Welt" als netten Ausgleich zur düsteren Außenwelt lesen, sondern nun ganz in der Realität angekommen sind. Hier rückt das im Wasser versunkene ehemalige London, das nun Central genannt wird als postapokalyptisches Setting ein bisschen mehr in den Vordergrund. Die genaue historische Entwicklung, die zu Überschwemmungen und Ausbleiben der Fruchtbarkeit geführt hat, blieb mir aber weiterhin etwas unklar. Zum anderen wird der ernstere Ton dadurch verursacht, dass sich (wie man noch vom Ende des ersten Teils weiß) Hartman und Eves Vater noch im Turm befinden und im Zuge der "Informationsextraktion", wie Miss Silva die physische und psychische Folter an ihren Gefangenen zum Ermitteln des Aufenthaltsortes von Eve, einiges ertragen müssen. Die beiden Autoren lassen es sich hierbei nicht nehmen, Schmerzen, Tod und neue technische Methoden, um ebendiese hervorzurufen, genau zu beschreiben und damit die emotionale Belastbarkeit ihrer Leser das ein oder andere Mal auszutesten.


"Während die Energie im Saal anschwillt, wird mir klar, dass ich noch immer ein Symbol bin, wie zuvor. Früher verkörperte ich allerdings Hoffnung. Jetzt stehe ich für Widerstand."


Einen brühwarmen Einblick in die Vorgänge des Turms erhalten wir hier durch eine neue Erzählperspektive. Während in Band 1 nur Eve und Bram abwechselnd als personale Erzähler tätig waren, kommt hier noch der Gardist Michael hinzu, den wir von einem gewissen Fahrstuhlzwischenfall aus dem Vorgänger kennen. Nach der Flucht des wichtigsten Menschen der Welt, oder wie es offiziell heißt, nach der "Entführung Eves durch den Verräter Bram und die Libertisten", hat er den Platz des Kommandanten der Gardisten eingenommen und soll nun Eve zurückholen. Durch einige Fügungen und Zufälle erhält er das Vertrauen von Vivian Silva und Dr. Wells und soll deshalb auch beim eben genannten "Extrahieren von Informationen" anwesend und behilflich sein. Durch seine Perspektive bekommen wir aber nicht nur einen spannenden Blick hinter die Kulissen des Turms, stoßen auf neue Geheimnisse wie die rätselhafte Welt Äräon, Intrigen und bleiben auf dem Laufenden, was die AFM gerade plant, sondern erhalten auch einen äußerst spannenden und liebenswerten neuen Protagonisten. Seine schrittweise Charakterisierung ausgehend von einem recht profillosen Soldaten, der einfach nur seine Befehle befolgt, hat mir sehr gut gefallen. In seinem Zwiespalt zwischen Loyalität und Grauen, Vertrauen und Rebellion, Gehorsam und Umdenken ist er ein eindrückliches Beispiel für eine ambivalente Persönlichkeit mit innerem Konflikt.


"Ich betrachte die Gesichert, die auf uns blicken. Ich lächle und nicke dankbar. Ich versuche so zu sein, wie sie sich mich wünschen sollen - gütig, zugänglich, nachsichtig, zielbewusst und stark. Und bei jedem Schritt, den ich gehe, fühle ich mich so, denn das bin ich. Die Liebe wirbelt die Dinge auf, die Liebe überwindet alle Widerstände, die Liebe wendet die Geschicke. Meine Liebe zu ihnen, ihre Liebe zu mir und die Liebe, die ich mir selbst entgegenbringe.(...) Die Menschen im Turm - Vivian und ihre Lakaien - wollten mich glauben machen, ich sei schwach und unwürdig, doch nun dämmert die Wahrheit herauf. Sie ist erwacht und ich werde nicht umkehren. Ich werde nicht wieder einschlafen."


Für das Hinzufügen des neuen Handlungsstrangs müssen Eve und Bram zwar ein bisschen Platz machen, die beiden gehen aber keineswegs unter. Im Gegenteil: während ich Eve zuvor noch als oft widersprüchlich und wechselhaft empfunden habe - eben wie ein launischer Teenager - wird sie hier von Seite zu Seite erwachsener und beginnt, Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen und eigene Entscheidungen zu treffen. Ihren Wunsch nach Freiheit und Unabhängigkeit, der ihrem Bedürfnis nach Normalität und Stabilität gegenübersteht, konnte ich gut nachfühlen und durch ihr stärkeres Auftreten hier hat sie in meinen Augen deutlich an Profil gewonnen. Auch Bram konnte hier einige Pluspunkte sammeln. Als Eves Anker und Beschützer, der sowohl ihre Sicherheit als auch ihre Unabhängigkeit im Blick behält, ist er ihr eine wichtige Stütze in ihrem Schritt in die Freiheit und kann sich mehr von seinem digitalen Alias Holly abgrenzen. Zwar gingen mir einige Entwicklungen ein bisschen schnell (eben aufgrund des Handlungsfokusses), wie die beiden aber ausgehend von der tiefen, jahrelangen Freundschaft, die sie durch Brams "Pilotentätigkeit", also der Verkörperung von Eves einziger Freundin im Turm, entwickelt hat, eine tiefe Vertrautheit und zarte Gefühle ausbilden, hat mir sehr gut gefallen. Dass Holly in einigen Situationen immer noch zwischen ihnen steht und sie auf ihre gewohnte Interaktion zurückgreifen, wenn sie unsicher sind, ist nur ein Beispiel dafür, wie innovativ und originell die Dynamik zwischen den beiden ist. Wirklichkeit und Schein, Wahrheit und Lüge, Draußen und Drinnen, Tod und Leben, Weiblich und Männlich - das sind nur einige von vielen Gegensätzen, die durch Bram und Eve wunderbar in den Vordergrund gestellt werden und den Leser auf Trab halten.


"Seit je habe ich mich gegen den Titel gewehrt, den sie mir verliehen haben: Als "Retterin der Menschheit" zu gelten, hat mich überfordert. Aber vielleicht bin ich gar nicht hier, um uns vor der Zukunft zu retten, sondern vor der Vergangenheit. Und vielleicht nimmt das alles jetzt, wo ich hergekommen bin, um meinen Körper und meinen Wert zurückzufordern, seinen Anfang."


So entwickelt sich die Geschichte rasant, gefühlvoll und mitreißend und offenbart immer wieder neue, interessante Denkweise und schockierende Geheimnisse, die dem Leser bislang verborgen geblieben waren. Dabei merkt man auch gar nicht, dass hier zwei Autoren am Werk waren. Die Geschichte des Ehepaares Fletcher liest sich absolut flüssig und ohne jeden Bruch, was ich so noch nie bei einer Geschichte erlebt habe, die aus der Kooperation mehrerer Autoren entstanden ist. Großes Lob! Besonders toll ist auch, dass dieser Mittelteil im Gegensatz zum Vorgänger deutlich vom typischen Dystopie-Schema abweicht und mehrere Wendungen enthält, die ich so nicht kommen sehen hatte. Ich hatte nach dem ersten Teil schon mit einem typischen Verlauf inklusive Rebellion, Kampf und spektakuläre Befreiungsaktion gerechnet. So wurde ich total positiv überrascht, dass die Reihe ihren eigenen Weg geht und mit beinahe thrillerartigen Entwicklungen und Enthüllungen abschließt. Das eigentliche Ende kommt dann mit einem bösen Cliffhanger daher und lässt noch einige Fragen offen, die uns hoffentlich im angekündigten letzten Band der Trilogie beantwortet werden, welcher auf Englisch im April erscheint und auf Deutsch wohl noch ein bisschen länger auf sich warten lassen wird.





Fazit:


Deutlich ernster, actionreicher, unvorhersehbarerer und auch brutaler als der Vorgänger - eine positive Überraschung auf ganzer Linie! "Eve of Man - Die Rebellin" ist alles andere als ein typischer Trilogie-Mittelteil und besticht mit tieferen Charakterisierungen, einem höheren Erzähltempo und vielen schockierenden Wendungen.

Für volle 5 Sterne hätte ich mir noch eine konsequenter auserzählte Entwicklung der Liebesgeschichte und mehr Hintergrunddetails zum Setting gewünscht.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 27.11.2020

Eine positive Überraschung auf ganzer Linie!

Eve of Man (2)
0

Schon der erste Teil der "Eve of Man" Reihe von Giovanna und Tom Fletcher hatte es in sich: ein bisschen "The Handmaid’s Tale", ein Schuss "Rapunzel", eine angedeutete Teenie-Lovestory und ein postapokalyptisches ...

Schon der erste Teil der "Eve of Man" Reihe von Giovanna und Tom Fletcher hatte es in sich: ein bisschen "The Handmaid’s Tale", ein Schuss "Rapunzel", eine angedeutete Teenie-Lovestory und ein postapokalyptisches Setting, das liest man nicht alle Tage. Während "Eve of Man - Die letzte Frau" aber noch unter den Schwächen eines Trilogie-Auftakt litt, startet "Eve of Man - Die Rebellin" von der ersten Seite an voll durch und lenkt die Geschichte in eine ernstere, unvorhersehbarere und auch brutalere Richtung. Eine positive Überraschung auf voller Linie!

Dieses Cover ist genau wie der erste Teil mal wieder ein seltenes Beispiel dafür, dass ich das deutsche Cover schöner finde als das Original. Denn auch die Gestaltung des zweiten Bandes hat das Team des dtv-Verlags wieder gerockt. Im Zentrum ist wieder das goldene Eve-Logo zu sehen, welches ebenfalls auf dem dunkelblauen Buchdeckel prangt, wenn man den Umschlag entfernt. Das geschwungene "e", umrahmt vom Zeichen der Weiblichkeit, dem Venussymbol, passt wunderbar als Hauptsymbol der Geschichte, die mit Eve als letzte Frau einen feministischen Touch hat. Die schwarze, mit pinken Lichtpartikeln versetzte Sphäre und der Farbverlauf um die schlanke Silhouette eines Mädchens, welche gut zu meiner Vorstellung von Eve passt, wirkt gleichzeitig futuristisch und düster, womit die Atmosphäre der Geschichte gut wiedergegeben wird. Zwar fand ich persönlich die blau-goldene Farbkombination des ersten Teils ansprechender, da der zweite Teil aber super zum ersten passt, bin ich trotzdem sehr zufrieden mit dem Design! Wieder auffällig sind die sehr dünnen Seiten, durch die sich die 44 Kapitel der ohnehin schon knapp bemessenen Seitenanzahl von 336 Seiten wie noch weniger anfühlen.


Erster Satz: "Eingeschränkter Dienst."


"Eve of Man - Die Rebellin" schließt gleich an das Ende des ersten Teils an, in dem Bram und Eve nach einer spektakulären Flucht vom Turm der AFM gesprungen sind und sich nun auf dem Weg in die Freiheit befinden. Und mit "gleich" meine ich auch wirklich sofort - nahtlos begegnen wir den Protagonisten im Fallen wieder und sehen, wie schon auf dem Weg zum Erdboden auf Flutniveau die ersten Zweifel aufkommen. Denn Eve hat nicht nur alles zurückgelassen, was ihr Leben ausgemacht hat, nachdem sie aufgedeckt hat, dass ihr Leben im Turm nichts war, als eine große, schön verpackte Lüge, sondern weiß auch nicht, was sie in der realen Welt erwartet. Auch wenn die neue Freiheit erstmal süß schmeckt, lassen sie das überschwemmte, unbekannte Land mit den vielen Menschen, die nur darauf warten, dass sie nach ihrer Befreiung das Ruder übernimmt und ihre Wut über die Taten der AFM nicht vergessen, dass eine große Last auf ihren Schultern ruht: die Verantwortung die Menschheit vor ihrem Aussterben zu retten...


"Sie rufen dabei: "Für Eve." Aber sie tun das nicht für mich. Das ist eine falsche Interpretation. Sie tun es für sich, für uns, für jeden einzelnen Menschen, der existiert oder vor uns existiert hat. Das Leben wird nicht errungen oder genommen. Man darf nicht mit ihm spielen. Man muss es respektieren."


Das Ehepaar Fletcher hat hier keinen typischen Mittelteil geschrieben, der für das Zustandekommen einer Trilogie eben existieren muss, in dem aber nicht viel passiert - ganz im Gegenteil! Ausgehend von der enttarnten Lüge im ersten Teil wird die Geschichte wesentlich action- und temporeicher weitererzählt, sodass uns kaum eine ruhige Minute vergönnt ist. Die Flucht aus dem Turm geht nahtlos in eine Verfolgungsjagd bis zum Rebellenversteck über und bevor wir uns mit Eve und Bram erneut vor den Gardisten der AFM verstecken müssen und die Handlung in einen rasanten Showdown übergeht, prasseln viele neue Eindrücke im Libertisten-Hauptquartier auf uns ein. Die geringere Seitenzahl als Band 1 hat mich zu Beginn zwar etwas verunsichert und skeptisch werden lassen, lasst euch jedoch von mir versichert sein: hier fehlt nichts. Klar, das Autorenduo hätte sich noch etwas mehr Zeit nehmen können, um Eves Ankommen in der "realen Welt" und die Entwicklung ihrer Beziehung zu Bram auf eine neue Stufe genauer zu betrachten, ich finde das Verhältnis, in dem innere Prozesse hier im Vergleich zur Handlung stehen, jedoch angemessen in diesem Genre.


"Es gibt nicht den leisesten Zweifel, dass dies die richtige Entscheidung ist. Und ich bin nicht allein. Das missbilligende Getuschel ist verschwunden. Jetzt summt die Luft förmlich. Ein Summen, dass nach Veränderung klingt. Das Summen eines Volkes, das seine Fesseln abstreift."


Neben dem gesteigerten Erzähltempo hat sich die Geschichte auch auf anderen Ebenen erstaunlich weiterentwickelt. Was in "Eve of Man - Die letzte Frau" noch eine recht harmlose und typische Einführung in eine dystopische Welt war, wird hier um mehrere Dimensionen ernster und auch brutaler. Das kommt zum einen dadurch zustande, dass wir nicht mehr von Eves "perfekter Welt" als netten Ausgleich zur düsteren Außenwelt lesen, sondern nun ganz in der Realität angekommen sind. Hier rückt das im Wasser versunkene ehemalige London, das nun Central genannt wird als postapokalyptisches Setting ein bisschen mehr in den Vordergrund. Die genaue historische Entwicklung, die zu Überschwemmungen und Ausbleiben der Fruchtbarkeit geführt hat, blieb mir aber weiterhin etwas unklar. Zum anderen wird der ernstere Ton dadurch verursacht, dass sich (wie man noch vom Ende des ersten Teils weiß) Hartman und Eves Vater noch im Turm befinden und im Zuge der "Informationsextraktion", wie Miss Silva die physische und psychische Folter an ihren Gefangenen zum Ermitteln des Aufenthaltsortes von Eve, einiges ertragen müssen. Die beiden Autoren lassen es sich hierbei nicht nehmen, Schmerzen, Tod und neue technische Methoden, um ebendiese hervorzurufen, genau zu beschreiben und damit die emotionale Belastbarkeit ihrer Leser das ein oder andere Mal auszutesten.


"Während die Energie im Saal anschwillt, wird mir klar, dass ich noch immer ein Symbol bin, wie zuvor. Früher verkörperte ich allerdings Hoffnung. Jetzt stehe ich für Widerstand."


Einen brühwarmen Einblick in die Vorgänge des Turms erhalten wir hier durch eine neue Erzählperspektive. Während in Band 1 nur Eve und Bram abwechselnd als personale Erzähler tätig waren, kommt hier noch der Gardist Michael hinzu, den wir von einem gewissen Fahrstuhlzwischenfall aus dem Vorgänger kennen. Nach der Flucht des wichtigsten Menschen der Welt, oder wie es offiziell heißt, nach der "Entführung Eves durch den Verräter Bram und die Libertisten", hat er den Platz des Kommandanten der Gardisten eingenommen und soll nun Eve zurückholen. Durch einige Fügungen und Zufälle erhält er das Vertrauen von Vivian Silva und Dr. Wells und soll deshalb auch beim eben genannten "Extrahieren von Informationen" anwesend und behilflich sein. Durch seine Perspektive bekommen wir aber nicht nur einen spannenden Blick hinter die Kulissen des Turms, stoßen auf neue Geheimnisse wie die rätselhafte Welt Äräon, Intrigen und bleiben auf dem Laufenden, was die AFM gerade plant, sondern erhalten auch einen äußerst spannenden und liebenswerten neuen Protagonisten. Seine schrittweise Charakterisierung ausgehend von einem recht profillosen Soldaten, der einfach nur seine Befehle befolgt, hat mir sehr gut gefallen. In seinem Zwiespalt zwischen Loyalität und Grauen, Vertrauen und Rebellion, Gehorsam und Umdenken ist er ein eindrückliches Beispiel für eine ambivalente Persönlichkeit mit innerem Konflikt.


"Ich betrachte die Gesichert, die auf uns blicken. Ich lächle und nicke dankbar. Ich versuche so zu sein, wie sie sich mich wünschen sollen - gütig, zugänglich, nachsichtig, zielbewusst und stark. Und bei jedem Schritt, den ich gehe, fühle ich mich so, denn das bin ich. Die Liebe wirbelt die Dinge auf, die Liebe überwindet alle Widerstände, die Liebe wendet die Geschicke. Meine Liebe zu ihnen, ihre Liebe zu mir und die Liebe, die ich mir selbst entgegenbringe.(...) Die Menschen im Turm - Vivian und ihre Lakaien - wollten mich glauben machen, ich sei schwach und unwürdig, doch nun dämmert die Wahrheit herauf. Sie ist erwacht und ich werde nicht umkehren. Ich werde nicht wieder einschlafen."


Für das Hinzufügen des neuen Handlungsstrangs müssen Eve und Bram zwar ein bisschen Platz machen, die beiden gehen aber keineswegs unter. Im Gegenteil: während ich Eve zuvor noch als oft widersprüchlich und wechselhaft empfunden habe - eben wie ein launischer Teenager - wird sie hier von Seite zu Seite erwachsener und beginnt, Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen und eigene Entscheidungen zu treffen. Ihren Wunsch nach Freiheit und Unabhängigkeit, der ihrem Bedürfnis nach Normalität und Stabilität gegenübersteht, konnte ich gut nachfühlen und durch ihr stärkeres Auftreten hier hat sie in meinen Augen deutlich an Profil gewonnen. Auch Bram konnte hier einige Pluspunkte sammeln. Als Eves Anker und Beschützer, der sowohl ihre Sicherheit als auch ihre Unabhängigkeit im Blick behält, ist er ihr eine wichtige Stütze in ihrem Schritt in die Freiheit und kann sich mehr von seinem digitalen Alias Holly abgrenzen. Zwar gingen mir einige Entwicklungen ein bisschen schnell (eben aufgrund des Handlungsfokusses), wie die beiden aber ausgehend von der tiefen, jahrelangen Freundschaft, die sie durch Brams "Pilotentätigkeit", also der Verkörperung von Eves einziger Freundin im Turm, entwickelt hat, eine tiefe Vertrautheit und zarte Gefühle ausbilden, hat mir sehr gut gefallen. Dass Holly in einigen Situationen immer noch zwischen ihnen steht und sie auf ihre gewohnte Interaktion zurückgreifen, wenn sie unsicher sind, ist nur ein Beispiel dafür, wie innovativ und originell die Dynamik zwischen den beiden ist. Wirklichkeit und Schein, Wahrheit und Lüge, Draußen und Drinnen, Tod und Leben, Weiblich und Männlich - das sind nur einige von vielen Gegensätzen, die durch Bram und Eve wunderbar in den Vordergrund gestellt werden und den Leser auf Trab halten.


"Seit je habe ich mich gegen den Titel gewehrt, den sie mir verliehen haben: Als "Retterin der Menschheit" zu gelten, hat mich überfordert. Aber vielleicht bin ich gar nicht hier, um uns vor der Zukunft zu retten, sondern vor der Vergangenheit. Und vielleicht nimmt das alles jetzt, wo ich hergekommen bin, um meinen Körper und meinen Wert zurückzufordern, seinen Anfang."


So entwickelt sich die Geschichte rasant, gefühlvoll und mitreißend und offenbart immer wieder neue, interessante Denkweise und schockierende Geheimnisse, die dem Leser bislang verborgen geblieben waren. Dabei merkt man auch gar nicht, dass hier zwei Autoren am Werk waren. Die Geschichte des Ehepaares Fletcher liest sich absolut flüssig und ohne jeden Bruch, was ich so noch nie bei einer Geschichte erlebt habe, die aus der Kooperation mehrerer Autoren entstanden ist. Großes Lob! Besonders toll ist auch, dass dieser Mittelteil im Gegensatz zum Vorgänger deutlich vom typischen Dystopie-Schema abweicht und mehrere Wendungen enthält, die ich so nicht kommen sehen hatte. Ich hatte nach dem ersten Teil schon mit einem typischen Verlauf inklusive Rebellion, Kampf und spektakuläre Befreiungsaktion gerechnet. So wurde ich total positiv überrascht, dass die Reihe ihren eigenen Weg geht und mit beinahe thrillerartigen Entwicklungen und Enthüllungen abschließt. Das eigentliche Ende kommt dann mit einem bösen Cliffhanger daher und lässt noch einige Fragen offen, die uns hoffentlich im angekündigten letzten Band der Trilogie beantwortet werden, welcher auf Englisch im April erscheint und auf Deutsch wohl noch ein bisschen länger auf sich warten lassen wird.





Fazit:


Deutlich ernster, actionreicher, unvorhersehbarerer und auch brutaler als der Vorgänger - eine positive Überraschung auf ganzer Linie! "Eve of Man - Die Rebellin" ist alles andere als ein typischer Trilogie-Mittelteil und besticht mit tieferen Charakterisierungen, einem höheren Erzähltempo und vielen schockierenden Wendungen.

Für volle 5 Sterne hätte ich mir noch eine konsequenter auserzählte Entwicklung der Liebesgeschichte und mehr Hintergrunddetails zum Setting gewünscht.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 14.11.2020

Tat sich schwer, an Atmosphäre, Spannung und Erzähltempo des zweiten Teils anzuknüpfen...

Scythe – Das Vermächtnis der Ältesten
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Eigentlich wollte ich ja auf das Erscheinen der neuen Auflage von "Scythe - Das Vermächtnis der Ältesten" als Broschierte Ausgabe warten, damit die Reihe im Regal zusammenpasst. Eigentlich - denn dann ...

Eigentlich wollte ich ja auf das Erscheinen der neuen Auflage von "Scythe - Das Vermächtnis der Ältesten" als Broschierte Ausgabe warten, damit die Reihe im Regal zusammenpasst. Eigentlich - denn dann grätschte das Ende des zweiten Teils brutal dazwischen. Der Untergang Enduras, der Tod beinahe aller geliebter Protagonisten und das Verstummen des Thunderheads - Ihr erinnert Euch? Kein Wunder, dass ich unbedingt wissen wollte, wie es weitergeht und kein Jahr mehr warten konnte, bis die passende Ausgabe erscheint. Zu meinem großen Glück, hatte jemand aus dem Fischer Verlag Erbarmen mit meiner misslichen Lage und hat mir ein Exemplar in die Post gegeben (Heldin der Woche, by the way). Doch was sage ich jetzt zum Finale der großen Scythe-Trilogie? Dieser dritte Teil bleibt inhaltlich, emotional und atmosphärisch leider etwas hinter dem epischen Mittelteil zurück, findet aber einen würdigen, runden Abschluss für die Geschichte.


Aus dem Testament des Toll: "Er stürzte auf sie herab wie der wütende Schlag von Millionen Flügeln, und am Himmel tobte der Donner. Die Reuelosen wurden niedergemacht, doch wer auf die Knie fiel, wurde verschont. Dann verließ er sie, löste sich abermals in einem Sturm aus Federn auf und schwang sich in den ruhigen Himmel empor. Frohlocket!"


Das Cover zeigt im Vordergrund einen Mann in lavendelfarbigem Gewand und Stola, der rechts und links von Scythe in waldgrünen Roben flankiert wird. Zusammen mit den schwarzen Sensen, dem dunkelgrünen Hintergrund vor den futuristisch anmutenden Streifen und dem Comic-Titel ergibt sich so ein stimmiges Gesamtbild, das wieder auf zentrale Motive und die eher düstere Stimmung vorbereitet. Der Titel "Scythe", abgeleitet vom englischen Wort für "Sense" passt natürlich auch wieder wie die Faust aufs Auge, auch wenn sich einige Schwierigkeiten bei der Aussprache des Titels ergeben (von "Skiff" über "Skeeeif" bis "Skütje" habe ich schon alles gehört 😂). Zum meinem großen Glück, ist die Covergestaltung des dritten Teils wie auch die der broschierten Ausgaben an die des amerikanischen Originals angelegt, weshalb meine drei Bände trotz des leicht unterschiedlichen Formats gut zusammenpassen.


"Vermutlich war es immer so: Wenn das Undenkbare zur Normalität wurde, stumpfte man ab. Sie wollte niemals so sehr abstumpfen."


Wenn ich mein Leseerlebnis mit "Scythe - Das Vermächtnis der Ältesten" in einem Satz zusammenfassen müsste, würde ich sagen, dass dieses Finale anders ist, als ich erwartet hätte. Und das beginnt schon beim Anfang. Die Handlung knüpft nämlich nicht direkt an die vielen offenen Stränge von "Scythe - Der Zorn der Gerechten" an, sondern startet mit einem Abstand von drei Jahren zum Untergang Enduras. Statt also wie zuvor auf Basis von Citras und Rowans Erlebnissen die Geschichte zu entspinnen, starten wir hier mit einem Haufen an neuen Protagonisten, die uns über Rückblicke vermitteln, was in den verstrichenen drei Jahren passiert ist. An der Hand haben wir hier nur den in Band 2 liebgewonnenen Greyson Tolliver, der eine der wenigen Konstanten in diesem eher unkonventionellen Start bildet. Klar, Neal Shusterman gibt hier sein Bestes, durch neue und altbekannte Nebenfiguren, die hier mehr ins Zentrum rücken, in die Geschichte einzusteigen und davon abzulenken, dass unsere beiden Hauptfiguren eingeschlossen und totenähnlich auf dem Grund des Meeresbodens liegen, Scythe Curie unwiderruflich tot ist, genau wie die Grandslayer und alle Einwohner Enduras, und Scythe Farraday auf einer einsamen Insel vom Radar verschwunden ist. Trotz all seiner Bemühungen ist dies jedoch nicht die beste Basis für einen packenden Einstieg ins Finale, sodass sich "Scythe - Das Vermächtnis der Ältesten" von Anfang an schwer tat, an die Atmosphäre, Spannung und das Erzähltempo des zweiten Teils anzuknüpfen.


"Sie verkörpern die Unschuld, die dem Untergang geweiht ist." Das fand Anastasia auf verschiedenen Ebenen beleidigend. "Ich bin nicht dem Untergang geweiht. Und unschuldig bin ich auch nicht."
"Jaja, aber Sie dürfen nicht vergessen, dass Menschen sich aus einer Situation immer das herausnehmen, was sie brauchen. Als Endura sank, brauchten sie jemand, dem sie ihre Trauer widmen konnten. Ein Symbol der verlorenen Hoffnung."
"Die Hoffnung ist nicht verloren", beharrte sie. "Sie ist nur verlegt worden."


Wir befinden uns also nicht nur nach dem sehr offenen Ende von Teil 2 in der Schwebe, sondern werden mit den wichtigen Fragen, die uns unter den Nägeln brennen auch noch relativ lange im tatsächlichen Einstieg vertröstet. Was ist die Notlösung der Scythe-Gründer? Was hat Goddard mit der Welt vor? Werden Citra und Rowan gefunden werden? Wie kommen die Menschen damit zurecht, dass der Thunderhead sie nun in Kollektivstrafe anschweigt? Was macht Greyson mit der ihm auserkorenen Rolle des einzigen Bindeglieds zwischen Menschen und Thunderhead? Welche Rolle spielen die Tonisten im Plan des Thunderheads? Und was entdecken Faraday und Munira auf dem blinden Fleck? Statt diese Fragen zügig zu beantworten, kommen zu den treibenden Rätseln immer neue hinzu. Denn der Thunderhead scheint plötzlich auf den abgelegenen, neu entdeckten Atollen ein geheimes Bauprojekt zu planen, Limbus-Agenten auf der ganzen Welt starten eine letzte große Reise mit ungewissem Ziel und harmlose, intonierende Tonisten werden zu einer gefährlichen, explosiven Randgruppe... Wohin soll das führen, wenn die Scythe immer mehr außer Kontrolle geraten, der Thunderhead sich nicht einmischen darf und die wichtigsten Führer der Rebellion eingefroren auf dem Meeresgrund liegen...?


"Umwälzung", sagte Jerico nüchtern. "Berge entstehen durch Umwälzungen. Ich bin sicher, das sieht am Anfang nicht schön aus. (...) In jeder Katastrophe liegt eine neue Möglichkeit", erklärte Jeri. "Ein Schiff geht unter, und mir beginnt es in den Fingern zu jucken, denn in dem Wrack liegen Schätze verborgen. Denk daran, was ich auf dem Meeresgrund entdeckt habe. Dich!"
"Und vierhunderttausend Scythe-Diamanten."


Bis auf 100 Seiten vor dem Ende liest sich "Scythe - Das Vermächtnis der Ältesten" eher wie der dritte Teil einer Quadrologie, als wie das Finale - so viele Themen kommen hier mit dazu, sodass meine Fragen immer mehr, statt weniger wurden. Die Auszüge aus den Nachlesetagebüchern bekannter Scythe, die in "Scythe - Die Hüter des Todes" das Geschehen untermauert haben und die Anmerkungen mit Ausführungen, Gedanken und Erklärungen des Thunderheads im zweiten Teil, werden hier ersetzt durch Auszüge aus der religiösen Schrift, "Ein Testament des Toll", Selbstgespräche mit Iterationen des Thunderheads und Auszüge aus Schreiben, Reden und Stellungnahmen der führenden Scythe in verschiedenen Regionen der Welt. Auch durch diese drei verschiedenen eingebundenen Inhalte kommen mehr neue Rätsel ins Spiel, als dass sie gelöst würden. Shustermans gemächlicher Wiedereinstieg in die Geschichte und die nur langsame Aufdeckung der offenen Geheimnisse sorgt deshalb natürlich für ordentlich Spannung und ist ein Garant für ständiges Weiterlesen-Wollen. Leider ist dies aber auch einer meiner größten Kritikpunkte: viele kleine Einzelszenen, lose Puzzlestücke und komplexe Handlungsstränge sorgen zwar dafür, dass es bis zum Ende undurchschaubar bleibt, was Shusterman mit seiner Geschichte vor hat, dadurch steuert die Geschichte im Mittelteil aber etwas ziellos durch internationale Gewässer und es fehlt Bekanntes, an dem wir uns festhalten können.


"Er trat einen Schritt zurück, betrachtete Rowan von oben bis unten und taxierte ihn wie ein verblasstes Gemälde, das seinen Reiz verloren hatte. "Du hättest mein erster Unterscythe werden können"; sagte Goddard, "der Erbe des Welt-Scythetums. Und es besteht kein Zweifel, dass es nur noch ein einziges Welt-Scythetum geben wird, wenn ich fertig bin. Das wäre deine Zukunft gewesen."
"Wenn ich nur mein Gewissen ignoriert hätte."
Goddard schüttelte mitleidig den Kopf. "Gewissen ist nur ein Werkzeug wie viele andere. wenn du es nicht richtig beherrschst, beherrscht es dich - und wie ich dein Gewissen einschätze, hat es dir den Verstand geraubt."


Schon im zweiten Teil der Trilogie rückte der Fokus stark von unseren beiden Hauptfiguren ab, um zwei weiteren Handlungsträgern die Bühne zu überlassen: Greyson Tolliver und dem Thunderhead, welche abermals eine tragende Rolle übernehmen und mich mit ihrer seltsam innigen, körperlosen Verbindung (Liebe?) zueinander, berührt haben. Hier geraten Rowan alias Scythe Luzifer und Citra alias Scythe Anastasia noch einmal mehr in den Hintergrund und bilden nur noch eine Art roten Faden für die Betrachtung des globalen Geschehens. Zwischen all den Reisen, großen Events, Zeitsprüngen, Bergungsaktionen und dem ein oder anderen Kampf, bei dem auch die Action nicht zu kurz kommt, gehen die beiden Figuren, die einmal Kernstück der Geschichte war, leider etwas zu sehr unter. Wer also hier eine weitere Vertiefung ihrer Charakterzeichnung oder gar eine amouröse Entwicklung erwartet, wird wohl enttäuscht werden.


"Im Laufe der Jahre hatte er Millionen Menschen dabei zugesehen, wie sie in den Armen eines oder einer anderen schliefen. Der Thunderhead hatte keine Arme, mit denen er jemanden hätte umfangen können. Trotzdem spürte er Greysons Herzschlag und seine exakte Körpertemperatur, als wäre er direkt neben ihm. Das zu verlieren hätte ihm unermesslichen Kummer bereitet. Nacht für Nacht überwachte er Greyson stumm in jeder ihm möglichen Weise. Denn das kam führ ihn einer Umarmung am nächsten."


Dafür rücken Faraday und Munira etwas mehr in den Fokus des Geschehens und zwei neue Figuren - Jerico, aus Madagaskar stammender Kapitän eines Bergungsschiffs, der unter der Sonne weiblich und unter den Wolken männlich ist und Loriana, vormalige Nimbusagentin und heimliche Leiterin der Thunderhead-Mission im "Land Nod". Vor allem Jerico und das mit ihm/ihr aufkommende Thema des Geschlechterdualismus und der impliziten Kritik am binären Geschlechtersystem hat mich sehr fasziniert. Die beiden konnten aber leider -wie alle anderen kunstvollen Weiterführungen der Story- nicht darüber hinwegtäuschen, dass ohne Citra und Rowan im Vordergrund der Geschichte etwas Essentielles fehlt. Demnach habe ich diesen dritten Teil als weniger emotional und berührend empfunden. Natürlich spürt man die Spannung weiterhin, man fiebert aber nicht mehr so mit und ist eher ein distanzierter Beobachter der Geschehnisse. So habe ich mit Faszination zwar und einer ordentlichen Portion Demut vor dem Talent des Autors die Geschichte verfolgt, mich aber nicht mehr emotional reingehängt, wie zuvor.


"Du bist eine schreckliche Person", sagte der Thunderhead. "Du bist eine wundervolle Person."
"Na, was denn jetzt?", wollte Greyson wissen.
Und die Antwort, die er leise, ganz leise bekam, war keine Antwort, sondern eine Frage. "Warum verstehst du nicht, dass die Antwort -beides- lautet?"


Neal Shusterman stellt hier das Große und Ganze seines Settings, die weltpolitische Wendung, die Entwicklungen innerhalb des Scythetums aber auch den Vormarsch der Tonisten und das Aufkommen von extremistischen Zischersekten in den Vordergrund. Während der erste Teil sich vor allem auf die Einführung der Welt und die psychologischen Folgen der Scythe-Ausbildung auf die beiden Protagonisten fokussiert hat und es im zweiten Teil um die politischen Folgen der Wahlen eines neuen High Blade, die gesellschaftlichen Experimente des Thunderheads und Faradays Suche nach einem Notausschalter des entgleisenden Scythetums ging, wird Shusterman hier nochmals politischer und weitet seinen Blick auf die ganze Welt aus. Auch in seinem großen Finale lässt es sich der Autor nicht nehmen, viele gesellschaftskritische und politisch wie psychologisch höchst relevante Themen wie Religion, Verschwörungstheorien, Sekten, Politikverdrossenheit, Anarchie, Stillstand, Macht oder Gerechtigkeit anzubringen. Dadurch kommen natürlich einerseits wieder viele neue spannende Ideen zur Sprache und die Gesellschaft zwischen Utopie und Dystopie wird nochmals komplexer und vielschichtiger. Auf der anderen Seite holt der Autor etwas weiter aus, als in diesem Finale nötig gewesen wäre, lässt sich viel Zeit zu Beginn und macht seinen Reihenabschluss somit ein bisschen schwerfälliger als erwartet.


"Sie war nicht ausgebildet für und vorbereitet auf die Verantwortung, Leben zu beenden. Sie hatte jetzt größerem Respekt vor den seltsam gewandten Geistern, denn man musst ein außergewöhnlicher Mensch sein, um diese Verantwortung täglich zu übernehmen. Entweder ein Mensch, der gar kein Gewissen hatte, oder einer, dessen Gewissen so tief und standhaft war, dass er seine Mitte auch im Angesichts der Verloschenen wahren konnte."


Das hielt mich jedoch nicht davon ab, die Geschichte in wenigen Tagen durchzusuchten und gespannt auf die Lösung zu warten, die der Autor für dieses komplexe und wohl ausgeklügelte Durcheinander bereithalten würden. Des Weiteren war ich natürlich auch nach wie vor tief beeindruckt von Shustermans Schreibstil, der die treibende Spannung eines Thrillers gekonnt mit der Einfühlsamkeit eines Jugendromans und der gedanklichen Tiefe eines akademischen Gedankenexperiments verbindet. Die vielen enthaltenen Gedanken über Sterblichkeit, Tod, Stagnation, Inspiration, Verantwortung und Intensität von Leben machen die Geschichte trotz ihrer "Andersartigkeit" zu einem atmosphärisch dichten, spannenden Roman. Zwischen den 608 Seiten gibt es so viele leise Spitzen, kluge Bemerkungen und messerscharfe Beobachtungen, in denen man auch einen Bezug zu aktuellen Vorgängen in der Realität sehen kann, dass die grundsätzlich absurde und makabre Idee eines gesellschaftlichen Institution mit der "Lizenz zum Töten" wahnsinnig gut funktioniert.


"Es gab ein Problem, wenn man sich aufmachte, die Welt zu verändern: Man war niemals der Einzige. Bei einem endlosen Tauziehen mit mächtigen Gegnern - die nicht nur in die entgegengesetzte, sondern einfach in alle Richtungen zogen - konnte man sich vielleicht ab und zu vorwärtsbewegen, manchmal musste man aber auch ein paar Schritte zur Seite gehen. Wäre es besser gewesen, es gar nicht erst zu probieren? Das wusste er nicht."


Das eigentliche Ende ist dann in erster Linie explosiv, hochspannend ... und viel zu schnell vorbei. "Scythe - Das Vermächtnis der Ältesten" ließ sich wie gesagt sehr lange Zeit, die nach dem Ende von Band 2 vorhandene Spannung Stück für Stück weiter auszubauen und zum Finale hin zu steigern. Ich hatte schon während dem Lesen Vorbehalte, ob all die offenen Fäden in den noch verbleibenden Seiten wirklich alle zu Ende geführt werden können - und ich hatte Recht: es wurde hier so lange und akribisch auf das Ende hingearbeitet, dass dieses dann sehr schnell vorbeizieht. Die Spannung, die sich über alle Teile aufgebaut hat, entweicht hier auf wenigen Seiten explosionsartig und hinterlässt Ohrenklingeln und eine Menge weiterer Anknüpfungspunkte. Hier hätte ich mir ein etwas kürzerer Mittelteil und dafür einen ausführlicheren Showdown gewünscht, der sich für Kernentwicklungen mehr Zeit nimmt.


"Menschen sind wie Gefäße", hatte Jeri zu ihr gesagt. "Sie nehmen das auf, was in sie hineingeschüttet wird."


Achtung Spoiler: Zum Beispiel die Entstehung von Cirrus Primary aus den Iterationen des Thunderheads kam mir sehr plötzlich vor. Wir erleben zuerst eine sehr langsame Evolution der Thunderhead-Nachkommen und der entscheidende Schritt findet dann komplett im Dunkeln statt und schließt und aus. Auch einen genaueren Blick hinter Goddards Fassade hätte ich mir von diesem Finale gewünscht. Wie findet er die Atolle? Warum will er sie zerstören? Was treibt ihn wirklich an? Ist es nur Machtgier? Da er hier eine so große Rolle spielt, hätte ich mir ein wenig mehr Zeit für seine Beweggründe erhofft. Ein weiterer Punkt, welcher direkt mit Goddard zusammenhängt und mich nicht ganz abholen konnte, war sein Tod. Ayn Rand beginnt ja schon im zweiten Teil, leicht abtrünnig zu werden und über ihre Gefolgschaft nachzudenken. Der Gipfel ihrer schleichenden Entwicklung - ihr Mord an Goddard - kam für mich aber viel zu sehr aus dem Nichts, um mich zu überzeugen. Ein weiteres loses Ende stellt für mich das Testament des Tolls, dessen Deutungen, Referenzen zur Handlung und Parallelen zur Bibel dar. In welcher zeitlichen Relation das Dokument zur Handlung steht, ob es vielleicht auch in der neuen Tonistenkolonie entstanden ist, oder ob es sich um ein historisch überliefertes Dokument handelt, das die Handlung vorhersagt, blieb mir leider zu offen, als dass ich eine wirkliche Bereicherung darin gesehen hätte. So wurde ich durch diese Abschnitte in erster Linie verwirrt und hätte mir noch mal einen klareren Bezug zur Haupthandlung gewünscht. Der letzte große Punkt, der das Ende ein wenig unbefriedigend macht, ist die sehr offene Haltung der Zukunft unserer geliebten Protagonisten gegenüber. Was aus Citra, Rowan, Greyson, Jerico, Faraday und all den anderen wird, ist hier nur kurz angeschnitten und überlässt vieles der Fantasie.


"Du bist ein entscheidender Schritt zu etwas Größerem. Ein goldener Schritt. Ich werde mit sintflutartigem Regen um dich trauern, und diese Überschwemmung wird neues Leben hervorbringen. Alles dank dir. Ich will glauben, dass du Teil dieses neuen Lebens sein wirst. Das tröstet mich. Vielleicht tröstet es dich auch."
"Ich habe Angst."
"Das ist nicht schlimm. Sein eigenes Ende zu fürchten ist Teil des Lebens. So weiß ich, dass wir tatsächlich wahrhaft lebendig sind."
[Iteration #9000349, gelöscht]


Was sollt Ihr aus meiner ellenlangen Rezension nun mitnehmen? Diese Geschichte enthält gleichzeitig so viele kunstvolle Weiterführungen, kreative Ideen und geniale Wendungen, dass man sie für immer lieben muss, vernachlässigt aber durch den abermals veränderten Fokus die beiden Hauptprotagonisten auf schändliche Art und Weise, weshalb ich zwischen 3,5 und 5 Sternen jede Bewertung gerechtfertigt sehe. Lässt man meine Erwartungen und die Vergleiche zu den ersten Teilen und anderen Werken des Autors außeracht, würde ich hier sofort die Höchstwertung geben. Da mir aber nach langem Nachdenken einiges gefehlt hat, was ich gerne gelesen hätte, gibt es nur 4,5 Sterne.


Zum Abschluss...
... noch mein Lieblingszitat, das wohl auch Antwort auf die Frage gibt, ob Neal Shusterman hier nun eine Dystopie oder eine Utopie geschrieben hat:

"Was ist los mit uns, Munira?", fragte Faraday. "Was ist los mit uns, dass wir uns dermaßen hochgesteckte Ziele suchen und dann das Fundament in Stücke reißen? Warum müssen wir immer das Streben nach unseren eigenen Träumen sabotieren?"
"Weil wir fehlerhafte Wesen sind", sagte Munira. "Wie sollten wir in eine perfekte Welt passen?"





Fazit:


Dieses Finale tat sich schwer, an Atmosphäre, Spannung und Erzähltempo des zweiten Teils anzuknüpfen und bleibt deshalb hinter meinen Erwartungen zurück. Trotz des etwas zu offenen und schnellen Endes, des recht gemächlichen Einstiegs und der in den Hintergrund geratenen Protagonisten ist "Scythe - Das Vermächtnis der Ältesten" so ein vielschichtiger, runder und hochspannender Abschluss der Scythe-Trilogie, der die treibende Spannung eines Thrillers gekonnt mit der Einfühlsamkeit eines Jugendromans und der gedanklichen Tiefe eines akademischen Gedankenexperiments verbindet, dass es zu meinen Jahreshighlights zählt.

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Veröffentlicht am 14.11.2020

Tat sich schwer, an Atmosphäre, Spannung und Erzähltempo des zweiten Teils anzuknüpfen...

Scythe – Das Vermächtnis der Ältesten
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Eigentlich wollte ich ja auf das Erscheinen der neuen Auflage von "Scythe - Das Vermächtnis der Ältesten" als Broschierte Ausgabe warten, damit die Reihe im Regal zusammenpasst. Eigentlich - denn dann ...

Eigentlich wollte ich ja auf das Erscheinen der neuen Auflage von "Scythe - Das Vermächtnis der Ältesten" als Broschierte Ausgabe warten, damit die Reihe im Regal zusammenpasst. Eigentlich - denn dann grätschte das Ende des zweiten Teils brutal dazwischen. Der Untergang Enduras, der Tod beinahe aller geliebter Protagonisten und das Verstummen des Thunderheads - Ihr erinnert Euch? Kein Wunder, dass ich unbedingt wissen wollte, wie es weitergeht und kein Jahr mehr warten konnte, bis die passende Ausgabe erscheint. Zu meinem großen Glück, hatte jemand aus dem Fischer Verlag Erbarmen mit meiner misslichen Lage und hat mir ein Exemplar in die Post gegeben (Heldin der Woche, by the way). Doch was sage ich jetzt zum Finale der großen Scythe-Trilogie? Dieser dritte Teil bleibt inhaltlich, emotional und atmosphärisch leider etwas hinter dem epischen Mittelteil zurück, findet aber einen würdigen, runden Abschluss für die Geschichte.


Aus dem Testament des Toll: "Er stürzte auf sie herab wie der wütende Schlag von Millionen Flügeln, und am Himmel tobte der Donner. Die Reuelosen wurden niedergemacht, doch wer auf die Knie fiel, wurde verschont. Dann verließ er sie, löste sich abermals in einem Sturm aus Federn auf und schwang sich in den ruhigen Himmel empor. Frohlocket!"


Das Cover zeigt im Vordergrund einen Mann in lavendelfarbigem Gewand und Stola, der rechts und links von Scythe in waldgrünen Roben flankiert wird. Zusammen mit den schwarzen Sensen, dem dunkelgrünen Hintergrund vor den futuristisch anmutenden Streifen und dem Comic-Titel ergibt sich so ein stimmiges Gesamtbild, das wieder auf zentrale Motive und die eher düstere Stimmung vorbereitet. Der Titel "Scythe", abgeleitet vom englischen Wort für "Sense" passt natürlich auch wieder wie die Faust aufs Auge, auch wenn sich einige Schwierigkeiten bei der Aussprache des Titels ergeben (von "Skiff" über "Skeeeif" bis "Skütje" habe ich schon alles gehört 😂). Zum meinem großen Glück, ist die Covergestaltung des dritten Teils wie auch die der broschierten Ausgaben an die des amerikanischen Originals angelegt, weshalb meine drei Bände trotz des leicht unterschiedlichen Formats gut zusammenpassen.


"Vermutlich war es immer so: Wenn das Undenkbare zur Normalität wurde, stumpfte man ab. Sie wollte niemals so sehr abstumpfen."


Wenn ich mein Leseerlebnis mit "Scythe - Das Vermächtnis der Ältesten" in einem Satz zusammenfassen müsste, würde ich sagen, dass dieses Finale anders ist, als ich erwartet hätte. Und das beginnt schon beim Anfang. Die Handlung knüpft nämlich nicht direkt an die vielen offenen Stränge von "Scythe - Der Zorn der Gerechten" an, sondern startet mit einem Abstand von drei Jahren zum Untergang Enduras. Statt also wie zuvor auf Basis von Citras und Rowans Erlebnissen die Geschichte zu entspinnen, starten wir hier mit einem Haufen an neuen Protagonisten, die uns über Rückblicke vermitteln, was in den verstrichenen drei Jahren passiert ist. An der Hand haben wir hier nur den in Band 2 liebgewonnenen Greyson Tolliver, der eine der wenigen Konstanten in diesem eher unkonventionellen Start bildet. Klar, Neal Shusterman gibt hier sein Bestes, durch neue und altbekannte Nebenfiguren, die hier mehr ins Zentrum rücken, in die Geschichte einzusteigen und davon abzulenken, dass unsere beiden Hauptfiguren eingeschlossen und totenähnlich auf dem Grund des Meeresbodens liegen, Scythe Curie unwiderruflich tot ist, genau wie die Grandslayer und alle Einwohner Enduras, und Scythe Farraday auf einer einsamen Insel vom Radar verschwunden ist. Trotz all seiner Bemühungen ist dies jedoch nicht die beste Basis für einen packenden Einstieg ins Finale, sodass sich "Scythe - Das Vermächtnis der Ältesten" von Anfang an schwer tat, an die Atmosphäre, Spannung und das Erzähltempo des zweiten Teils anzuknüpfen.


"Sie verkörpern die Unschuld, die dem Untergang geweiht ist." Das fand Anastasia auf verschiedenen Ebenen beleidigend. "Ich bin nicht dem Untergang geweiht. Und unschuldig bin ich auch nicht."
"Jaja, aber Sie dürfen nicht vergessen, dass Menschen sich aus einer Situation immer das herausnehmen, was sie brauchen. Als Endura sank, brauchten sie jemand, dem sie ihre Trauer widmen konnten. Ein Symbol der verlorenen Hoffnung."
"Die Hoffnung ist nicht verloren", beharrte sie. "Sie ist nur verlegt worden."


Wir befinden uns also nicht nur nach dem sehr offenen Ende von Teil 2 in der Schwebe, sondern werden mit den wichtigen Fragen, die uns unter den Nägeln brennen auch noch relativ lange im tatsächlichen Einstieg vertröstet. Was ist die Notlösung der Scythe-Gründer? Was hat Goddard mit der Welt vor? Werden Citra und Rowan gefunden werden? Wie kommen die Menschen damit zurecht, dass der Thunderhead sie nun in Kollektivstrafe anschweigt? Was macht Greyson mit der ihm auserkorenen Rolle des einzigen Bindeglieds zwischen Menschen und Thunderhead? Welche Rolle spielen die Tonisten im Plan des Thunderheads? Und was entdecken Faraday und Munira auf dem blinden Fleck? Statt diese Fragen zügig zu beantworten, kommen zu den treibenden Rätseln immer neue hinzu. Denn der Thunderhead scheint plötzlich auf den abgelegenen, neu entdeckten Atollen ein geheimes Bauprojekt zu planen, Limbus-Agenten auf der ganzen Welt starten eine letzte große Reise mit ungewissem Ziel und harmlose, intonierende Tonisten werden zu einer gefährlichen, explosiven Randgruppe... Wohin soll das führen, wenn die Scythe immer mehr außer Kontrolle geraten, der Thunderhead sich nicht einmischen darf und die wichtigsten Führer der Rebellion eingefroren auf dem Meeresgrund liegen...?


"Umwälzung", sagte Jerico nüchtern. "Berge entstehen durch Umwälzungen. Ich bin sicher, das sieht am Anfang nicht schön aus. (...) In jeder Katastrophe liegt eine neue Möglichkeit", erklärte Jeri. "Ein Schiff geht unter, und mir beginnt es in den Fingern zu jucken, denn in dem Wrack liegen Schätze verborgen. Denk daran, was ich auf dem Meeresgrund entdeckt habe. Dich!"
"Und vierhunderttausend Scythe-Diamanten."


Bis auf 100 Seiten vor dem Ende liest sich "Scythe - Das Vermächtnis der Ältesten" eher wie der dritte Teil einer Quadrologie, als wie das Finale - so viele Themen kommen hier mit dazu, sodass meine Fragen immer mehr, statt weniger wurden. Die Auszüge aus den Nachlesetagebüchern bekannter Scythe, die in "Scythe - Die Hüter des Todes" das Geschehen untermauert haben und die Anmerkungen mit Ausführungen, Gedanken und Erklärungen des Thunderheads im zweiten Teil, werden hier ersetzt durch Auszüge aus der religiösen Schrift, "Ein Testament des Toll", Selbstgespräche mit Iterationen des Thunderheads und Auszüge aus Schreiben, Reden und Stellungnahmen der führenden Scythe in verschiedenen Regionen der Welt. Auch durch diese drei verschiedenen eingebundenen Inhalte kommen mehr neue Rätsel ins Spiel, als dass sie gelöst würden. Shustermans gemächlicher Wiedereinstieg in die Geschichte und die nur langsame Aufdeckung der offenen Geheimnisse sorgt deshalb natürlich für ordentlich Spannung und ist ein Garant für ständiges Weiterlesen-Wollen. Leider ist dies aber auch einer meiner größten Kritikpunkte: viele kleine Einzelszenen, lose Puzzlestücke und komplexe Handlungsstränge sorgen zwar dafür, dass es bis zum Ende undurchschaubar bleibt, was Shusterman mit seiner Geschichte vor hat, dadurch steuert die Geschichte im Mittelteil aber etwas ziellos durch internationale Gewässer und es fehlt Bekanntes, an dem wir uns festhalten können.


"Er trat einen Schritt zurück, betrachtete Rowan von oben bis unten und taxierte ihn wie ein verblasstes Gemälde, das seinen Reiz verloren hatte. "Du hättest mein erster Unterscythe werden können"; sagte Goddard, "der Erbe des Welt-Scythetums. Und es besteht kein Zweifel, dass es nur noch ein einziges Welt-Scythetum geben wird, wenn ich fertig bin. Das wäre deine Zukunft gewesen."
"Wenn ich nur mein Gewissen ignoriert hätte."
Goddard schüttelte mitleidig den Kopf. "Gewissen ist nur ein Werkzeug wie viele andere. wenn du es nicht richtig beherrschst, beherrscht es dich - und wie ich dein Gewissen einschätze, hat es dir den Verstand geraubt."


Schon im zweiten Teil der Trilogie rückte der Fokus stark von unseren beiden Hauptfiguren ab, um zwei weiteren Handlungsträgern die Bühne zu überlassen: Greyson Tolliver und dem Thunderhead, welche abermals eine tragende Rolle übernehmen und mich mit ihrer seltsam innigen, körperlosen Verbindung (Liebe?) zueinander, berührt haben. Hier geraten Rowan alias Scythe Luzifer und Citra alias Scythe Anastasia noch einmal mehr in den Hintergrund und bilden nur noch eine Art roten Faden für die Betrachtung des globalen Geschehens. Zwischen all den Reisen, großen Events, Zeitsprüngen, Bergungsaktionen und dem ein oder anderen Kampf, bei dem auch die Action nicht zu kurz kommt, gehen die beiden Figuren, die einmal Kernstück der Geschichte war, leider etwas zu sehr unter. Wer also hier eine weitere Vertiefung ihrer Charakterzeichnung oder gar eine amouröse Entwicklung erwartet, wird wohl enttäuscht werden.


"Im Laufe der Jahre hatte er Millionen Menschen dabei zugesehen, wie sie in den Armen eines oder einer anderen schliefen. Der Thunderhead hatte keine Arme, mit denen er jemanden hätte umfangen können. Trotzdem spürte er Greysons Herzschlag und seine exakte Körpertemperatur, als wäre er direkt neben ihm. Das zu verlieren hätte ihm unermesslichen Kummer bereitet. Nacht für Nacht überwachte er Greyson stumm in jeder ihm möglichen Weise. Denn das kam führ ihn einer Umarmung am nächsten."


Dafür rücken Faraday und Munira etwas mehr in den Fokus des Geschehens und zwei neue Figuren - Jerico, aus Madagaskar stammender Kapitän eines Bergungsschiffs, der unter der Sonne weiblich und unter den Wolken männlich ist und Loriana, vormalige Nimbusagentin und heimliche Leiterin der Thunderhead-Mission im "Land Nod". Vor allem Jerico und das mit ihm/ihr aufkommende Thema des Geschlechterdualismus und der impliziten Kritik am binären Geschlechtersystem hat mich sehr fasziniert. Die beiden konnten aber leider -wie alle anderen kunstvollen Weiterführungen der Story- nicht darüber hinwegtäuschen, dass ohne Citra und Rowan im Vordergrund der Geschichte etwas Essentielles fehlt. Demnach habe ich diesen dritten Teil als weniger emotional und berührend empfunden. Natürlich spürt man die Spannung weiterhin, man fiebert aber nicht mehr so mit und ist eher ein distanzierter Beobachter der Geschehnisse. So habe ich mit Faszination zwar und einer ordentlichen Portion Demut vor dem Talent des Autors die Geschichte verfolgt, mich aber nicht mehr emotional reingehängt, wie zuvor.


"Du bist eine schreckliche Person", sagte der Thunderhead. "Du bist eine wundervolle Person."
"Na, was denn jetzt?", wollte Greyson wissen.
Und die Antwort, die er leise, ganz leise bekam, war keine Antwort, sondern eine Frage. "Warum verstehst du nicht, dass die Antwort -beides- lautet?"


Neal Shusterman stellt hier das Große und Ganze seines Settings, die weltpolitische Wendung, die Entwicklungen innerhalb des Scythetums aber auch den Vormarsch der Tonisten und das Aufkommen von extremistischen Zischersekten in den Vordergrund. Während der erste Teil sich vor allem auf die Einführung der Welt und die psychologischen Folgen der Scythe-Ausbildung auf die beiden Protagonisten fokussiert hat und es im zweiten Teil um die politischen Folgen der Wahlen eines neuen High Blade, die gesellschaftlichen Experimente des Thunderheads und Faradays Suche nach einem Notausschalter des entgleisenden Scythetums ging, wird Shusterman hier nochmals politischer und weitet seinen Blick auf die ganze Welt aus. Auch in seinem großen Finale lässt es sich der Autor nicht nehmen, viele gesellschaftskritische und politisch wie psychologisch höchst relevante Themen wie Religion, Verschwörungstheorien, Sekten, Politikverdrossenheit, Anarchie, Stillstand, Macht oder Gerechtigkeit anzubringen. Dadurch kommen natürlich einerseits wieder viele neue spannende Ideen zur Sprache und die Gesellschaft zwischen Utopie und Dystopie wird nochmals komplexer und vielschichtiger. Auf der anderen Seite holt der Autor etwas weiter aus, als in diesem Finale nötig gewesen wäre, lässt sich viel Zeit zu Beginn und macht seinen Reihenabschluss somit ein bisschen schwerfälliger als erwartet.


"Sie war nicht ausgebildet für und vorbereitet auf die Verantwortung, Leben zu beenden. Sie hatte jetzt größerem Respekt vor den seltsam gewandten Geistern, denn man musst ein außergewöhnlicher Mensch sein, um diese Verantwortung täglich zu übernehmen. Entweder ein Mensch, der gar kein Gewissen hatte, oder einer, dessen Gewissen so tief und standhaft war, dass er seine Mitte auch im Angesichts der Verloschenen wahren konnte."


Das hielt mich jedoch nicht davon ab, die Geschichte in wenigen Tagen durchzusuchten und gespannt auf die Lösung zu warten, die der Autor für dieses komplexe und wohl ausgeklügelte Durcheinander bereithalten würden. Des Weiteren war ich natürlich auch nach wie vor tief beeindruckt von Shustermans Schreibstil, der die treibende Spannung eines Thrillers gekonnt mit der Einfühlsamkeit eines Jugendromans und der gedanklichen Tiefe eines akademischen Gedankenexperiments verbindet. Die vielen enthaltenen Gedanken über Sterblichkeit, Tod, Stagnation, Inspiration, Verantwortung und Intensität von Leben machen die Geschichte trotz ihrer "Andersartigkeit" zu einem atmosphärisch dichten, spannenden Roman. Zwischen den 608 Seiten gibt es so viele leise Spitzen, kluge Bemerkungen und messerscharfe Beobachtungen, in denen man auch einen Bezug zu aktuellen Vorgängen in der Realität sehen kann, dass die grundsätzlich absurde und makabre Idee eines gesellschaftlichen Institution mit der "Lizenz zum Töten" wahnsinnig gut funktioniert.


"Es gab ein Problem, wenn man sich aufmachte, die Welt zu verändern: Man war niemals der Einzige. Bei einem endlosen Tauziehen mit mächtigen Gegnern - die nicht nur in die entgegengesetzte, sondern einfach in alle Richtungen zogen - konnte man sich vielleicht ab und zu vorwärtsbewegen, manchmal musste man aber auch ein paar Schritte zur Seite gehen. Wäre es besser gewesen, es gar nicht erst zu probieren? Das wusste er nicht."


Das eigentliche Ende ist dann in erster Linie explosiv, hochspannend ... und viel zu schnell vorbei. "Scythe - Das Vermächtnis der Ältesten" ließ sich wie gesagt sehr lange Zeit, die nach dem Ende von Band 2 vorhandene Spannung Stück für Stück weiter auszubauen und zum Finale hin zu steigern. Ich hatte schon während dem Lesen Vorbehalte, ob all die offenen Fäden in den noch verbleibenden Seiten wirklich alle zu Ende geführt werden können - und ich hatte Recht: es wurde hier so lange und akribisch auf das Ende hingearbeitet, dass dieses dann sehr schnell vorbeizieht. Die Spannung, die sich über alle Teile aufgebaut hat, entweicht hier auf wenigen Seiten explosionsartig und hinterlässt Ohrenklingeln und eine Menge weiterer Anknüpfungspunkte. Hier hätte ich mir ein etwas kürzerer Mittelteil und dafür einen ausführlicheren Showdown gewünscht, der sich für Kernentwicklungen mehr Zeit nimmt.


"Menschen sind wie Gefäße", hatte Jeri zu ihr gesagt. "Sie nehmen das auf, was in sie hineingeschüttet wird."


Achtung Spoiler: Zum Beispiel die Entstehung von Cirrus Primary aus den Iterationen des Thunderheads kam mir sehr plötzlich vor. Wir erleben zuerst eine sehr langsame Evolution der Thunderhead-Nachkommen und der entscheidende Schritt findet dann komplett im Dunkeln statt und schließt und aus. Auch einen genaueren Blick hinter Goddards Fassade hätte ich mir von diesem Finale gewünscht. Wie findet er die Atolle? Warum will er sie zerstören? Was treibt ihn wirklich an? Ist es nur Machtgier? Da er hier eine so große Rolle spielt, hätte ich mir ein wenig mehr Zeit für seine Beweggründe erhofft. Ein weiterer Punkt, welcher direkt mit Goddard zusammenhängt und mich nicht ganz abholen konnte, war sein Tod. Ayn Rand beginnt ja schon im zweiten Teil, leicht abtrünnig zu werden und über ihre Gefolgschaft nachzudenken. Der Gipfel ihrer schleichenden Entwicklung - ihr Mord an Goddard - kam für mich aber viel zu sehr aus dem Nichts, um mich zu überzeugen. Ein weiteres loses Ende stellt für mich das Testament des Tolls, dessen Deutungen, Referenzen zur Handlung und Parallelen zur Bibel dar. In welcher zeitlichen Relation das Dokument zur Handlung steht, ob es vielleicht auch in der neuen Tonistenkolonie entstanden ist, oder ob es sich um ein historisch überliefertes Dokument handelt, das die Handlung vorhersagt, blieb mir leider zu offen, als dass ich eine wirkliche Bereicherung darin gesehen hätte. So wurde ich durch diese Abschnitte in erster Linie verwirrt und hätte mir noch mal einen klareren Bezug zur Haupthandlung gewünscht. Der letzte große Punkt, der das Ende ein wenig unbefriedigend macht, ist die sehr offene Haltung der Zukunft unserer geliebten Protagonisten gegenüber. Was aus Citra, Rowan, Greyson, Jerico, Faraday und all den anderen wird, ist hier nur kurz angeschnitten und überlässt vieles der Fantasie.


"Du bist ein entscheidender Schritt zu etwas Größerem. Ein goldener Schritt. Ich werde mit sintflutartigem Regen um dich trauern, und diese Überschwemmung wird neues Leben hervorbringen. Alles dank dir. Ich will glauben, dass du Teil dieses neuen Lebens sein wirst. Das tröstet mich. Vielleicht tröstet es dich auch."
"Ich habe Angst."
"Das ist nicht schlimm. Sein eigenes Ende zu fürchten ist Teil des Lebens. So weiß ich, dass wir tatsächlich wahrhaft lebendig sind."
[Iteration #9000349, gelöscht]


Was sollt Ihr aus meiner ellenlangen Rezension nun mitnehmen? Diese Geschichte enthält gleichzeitig so viele kunstvolle Weiterführungen, kreative Ideen und geniale Wendungen, dass man sie für immer lieben muss, vernachlässigt aber durch den abermals veränderten Fokus die beiden Hauptprotagonisten auf schändliche Art und Weise, weshalb ich zwischen 3,5 und 5 Sternen jede Bewertung gerechtfertigt sehe. Lässt man meine Erwartungen und die Vergleiche zu den ersten Teilen und anderen Werken des Autors außeracht, würde ich hier sofort die Höchstwertung geben. Da mir aber nach langem Nachdenken einiges gefehlt hat, was ich gerne gelesen hätte, gibt es nur 4,5 Sterne.


Zum Abschluss...
... noch mein Lieblingszitat, das wohl auch Antwort auf die Frage gibt, ob Neal Shusterman hier nun eine Dystopie oder eine Utopie geschrieben hat:

"Was ist los mit uns, Munira?", fragte Faraday. "Was ist los mit uns, dass wir uns dermaßen hochgesteckte Ziele suchen und dann das Fundament in Stücke reißen? Warum müssen wir immer das Streben nach unseren eigenen Träumen sabotieren?"
"Weil wir fehlerhafte Wesen sind", sagte Munira. "Wie sollten wir in eine perfekte Welt passen?"





Fazit:


Dieses Finale tat sich schwer, an Atmosphäre, Spannung und Erzähltempo des zweiten Teils anzuknüpfen und bleibt deshalb hinter meinen Erwartungen zurück. Trotz des etwas zu offenen und schnellen Endes, des recht gemächlichen Einstiegs und der in den Hintergrund geratenen Protagonisten ist "Scythe - Das Vermächtnis der Ältesten" so ein vielschichtiger, runder und hochspannender Abschluss der Scythe-Trilogie, der die treibende Spannung eines Thrillers gekonnt mit der Einfühlsamkeit eines Jugendromans und der gedanklichen Tiefe eines akademischen Gedankenexperiments verbindet, dass es zu meinen Jahreshighlights zählt.

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Veröffentlicht am 26.10.2020

Ein atmosphärisches Meisterwerk, das lange nachklingt.

The Grace Year
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Mit "The Grace Year" will ich euch noch eine völlig zu Unrecht unbekannte und schmählich unterschätzte Dystopie vorstellen, die ich ebenfalls diesen Sommer gelesen habe. Aufmerksam geworden bin ich auf ...

Mit "The Grace Year" will ich euch noch eine völlig zu Unrecht unbekannte und schmählich unterschätzte Dystopie vorstellen, die ich ebenfalls diesen Sommer gelesen habe. Aufmerksam geworden bin ich auf die Geschichte durch eine Empfehlung auf Bookstagram (Danke @theawyler, du hast mir ein Jahreshighlight beschert) und ganz in meinem Missionstrieb gefangen muss ich meine Begeisterung jetzt weitertragen. Denn "The Grace Year" vereint sowohl schneidende Gesellschaftskritik und feministischer Befreiungskampf als auch die Frage nach Magie hinterm Wahnsinn, bringt Liebe zwischen Brutalität und Überlebenskampf zum Blühen und erzählt nebenbei die zarte Entwicklungsgeschichte eines Mädchens, das zur Frau wird - mit allem, was dazugehört...


"Deshalb schicken sie uns her."
"Damit ihr euch von eurer Magie befreit"; sagt er.
"Nein", flüstere ich, während ich in den Schlaf weggleite. "Um unseren Willen zu brechen."


Das Cover ist mit dem weißen Grund und den zarten Dornranken weitaus lieblicher als die Geschichte, die sich zwischen den Buchdeckeln verbirgt. Auch wenn also nur die ausgestreckte, lavendelfarbene Hand mit dem Blutstropfen und der roten Blume einen dezenten Hinweis geben, bin ich verliebt in die wunderschöne und ans Originalcover angelehnte Gestaltung. Die Ranken und Blumen sind Motive, die sich auch innerhalb der Buchdeckel fortsetzen und Titelseiten, Abschnitte und Vorwort zieren. Besonders ist außerdem, dass die Geschichte in fünf große Abschnitte "Herbst", "Winter", "Frühling", "Sommer" und "Rückkehr" eingeteilt ist, ansonsten aber statt aus Kapiteln aus einer Aneinanderreihung kürzerer Absätze besteht. Zu Beginn war ich davon ein wenig irritiert, mit zunehmendem Handlungsverlauf wird jedoch klarer, warum Kim Liggett diese Aufteilungsform gewählt hat: da für die Mädchen bald jede andere Form der zeitlichen Einteilung abseits der offensichtlichen Jahreszeiten keine Rolle mehr spielt und die Zeit während des Gnadenjahres gnadenlos verrinnt...


"Das ist das Problem, wenn du das Licht hereinlässt - nachdem es dir wieder genommen wird, ist es noch viel dunkler als zuvor."


Während der 416 Seiten begleiten wir die 16jährige Tierney James durch ihr Gnadenjahr - eine rätselhafte Zeitspanne im Leben eines jeden Mädchens in Garner County, während jener ihnen in der Wildnis ihre Magie ausgetrieben werden soll. Tierney sieht ihrem Gnadenjahr sowohl mit Angst als auch mit Trotz entgegen. Angst, weil keiner der Mädchen so genau weiß, was eigentlich passiert und warum immer wieder Mädchen nicht oder versehrt aus der zwölfmonatigen Verbannung zurückkehren, und Trotz, weil sie in der angeblichen Magie der Mädchen ein Unterdrückungsinstrument der Männer sieht. Als sie dann jedoch zusammen mit den anderen Mädchen auf der Insel ankommt, auf der sie ein Jahr verbringen soll, wird sie immer unsicherer, was diese Einschätzung anbelangt. Denn nicht die blutrünstigen Wilderer, die die Mädchen aus dem Lager locken, um ihre magischen Körperteile zu verkaufen, sind die größte Gefahr - weitaus gefährlicher geht es innerhalb der Mauern des Lagers zu...


"Ich weiß, was ich gesehen habe. Ich weiß, was ich gefühlt habe.
Sollen sie es Magie nennen.
Ich nenne es Wahnsinn.
Eins ist auf jeden Fall sicher.
Hier gibt es keine Gnade."


Der Einstieg in die Geschichte fällt zwar leicht, weckt jedoch schon die ersten Ressentiments. Denn was Kim Liggett hier mit wenigen Worten beschreibt ist ein frauenverachtendes Patriarchat erster Güte, in dem Mädchen bei der Geburt das Siegel ihres Vaters in die Fußsohle gebrannt wird, sie durch ein Band in ihren immer zu einem Zopf gebundenen Haaren ihren Status (Kind, Gnadenjahrmädchen, Ehefrau) zeigen müssen und die kaum mehr Rechte besitzen als Haus-/ oder Arbeitstiere. Die Autorin zeichnet dabei jedoch kein großflächiges Gesellschaftsporträt, sondern fokussiert sich einzig und allein auf die Kleinstadt Garner County. Hintergrundinformationen zum weiteren Setting, also umliegenden Städten oder einen größeren Rahmen der Geschichte, erhalten wir kaum und blicken auch nicht weiter über den Tellerrand der kleinen Gemeinde als in die Außenbezirke. Das ist jedoch auch nicht nötig, denn im engen Raum spielt sich eine so brutale, intensive und fesselnde Geschichte ab, dass jeder Blick nach außen nur Zeit stehlen würde.


"Ich dachte, wenn sie uns aufschneiden könnten, fänden sie wahrscheinlich ein riesiges Labyrinth aus Schlössern und Riegel, Dämmen und zugemauerten Einbahnstraßen. Ein Herz mit so hohen Mauern darum, dass ihm nach und nach der Sauerstoff wegblieb, während es an unseren eigenen Geheimnissen erstickte."


Nachdem uns ein grober Überblick über die gesellschaftlichen Strukturen und das Leben Tierneys im County gegeben wurde, geht es auch schon ins Gnadenjahr. Dadurch dass wir genau wie unsere Protagonistin keinerlei Ahnung haben, was auf uns zukommt, steigt die Spannung bei jedem Schritt raus aus der gewohnten Umgebung weiter an und wir fragen uns, was sich hinter diesem wohlgehüteten Mythos verbirgt. Als die Mädchen dann in ihrem Lager ankommen, ist die Ernüchterung erstmal groß: sich einfach nur ein Jahr lang selbst versorgen - das müsste doch zu schaffen sein. Doch dann beginnen die Mädchen ihre Magie zu entdecken - oder ihren Wahnsinn... Und dann.... wird es krass. Die Autorin spielt geschickt mit ihren Figuren und auch dem Leser, sodass man sich nie ganz sicher sein kann, was hinter allem steckt. Immer wieder werden wir gezielt auf eine falsche Fährte geleitet und muss Theorien immer wieder verwerfen, weil man nicht mehr genau weiß, was nun Traum und Realität ist.


"Der Winter, der wie ein Löwe hereingebrochen war, verabschiedet sich wie ein Lamm. Der Schnee ist unter einer hellen, sanften Sonne geschmolzen. Die Vögel singen und der Duft nach frischem Grün erfüllt die Luft. Bald haben wir Vollmond. Jede Nacht beobachte ich durch die Dachluke, wie der Mond zunimmt, und es erscheint mir wie ein Spiegelbild meiner Gefühle für Ryker. Manchmal, wenn ich ihn ansehe, kommt es mir vor, als öffnete sich mein Brustkorb ganz weit, um mehr Luft zu bekommen. Es schmerzt, aber trotzdem will ich dieses Gefühl nicht loslassen."


Spätestens jetzt entwickelt sich "The Grace Year" zu einem wahren Pageturner. Die atmosphärisch-dichte Erzählweise und die Vermischung von Magie und Wahnsinn, Realität und Rausch, Gewalt und Liebe sorgen für fast überkochende Spannung. Da es hier auch immer wieder brutal und blutig zugeht, ist die Geschichte definitiv nicht für zarte Gemüter empfehlenswert. Hier wird fröhlich getötet, verstümmelt, gefoltert, verbannt, gehungert, geflüchtet und auf alle erdenklichen Arten gelitten. Wer es also nicht mal eklig oder düster aushalten kann (mindestens "Panem"-Stil, eher etwas deftiger), sollte eine andere Dystopie wählen. Deshalb ist der Roman auch kein eindeutiges Jugendbuch, auch wenn die Protagonistin mit ihren 16 Jahren etwas jünger ist, als die Zielgruppe. Denn auch die psychologische Seite der Geschichte ist dank des emotionsgeladenen, feinfühligen Schreibstil der Autorin ziemlich heftig, weshalb ich die Geschichte einige Male beiseitelegen musste. Dafür trifft sie aber auch die zwischenmenschlichen Nuancen der Gruppendynamik zwischen den Mädchen im Lager und die Entwicklung der einzelnen Beziehungen sehr gut und zeichnet demnach nicht nur eine dystopische Gesellschaft, sondern liefert zeitgleich auch eine Charakterstudie einer Generation Mädchen ab.


"Als ich dich gesehen habe ... auf dem Eis ... da schienst du so..."
"Hilflos", flüstere ich, angewidert von dem Gedanken, dass es das war, was mich gerettet hat.
"Nein", antwortet er, und seine Augen funkeln im Feuerschein.
"Entschlossen. Als du die Axt ins Eis schlugst, ... das war das Mutigste, was ich je gesehen habe."


Dadurch dass Kim Liggett mehrere Zeitsprünge einbaut, fließen die einzelnen Szenen ineinander, die Gefühle werden eine undefinierbare Suppe aus Schmerz und Sehnsucht und Traum und Realität verschwimmen immer mehr. Auch wenn das ein Stilmittel ist, um die Befindlichkeiten der Mädchen auszudrücken, macht es das etwas schwer, am Ball zu bleiben und Vieles verändert sich innerhalb weniger Seiten. Eine wichtige Konstante ist dabei die Protagonistin Tierney, an deren Seite wir immer bleiben, da sie aus der Ich-Perspektive im Präsens erzählt und die sich in dem Jahr der Erzählung von einem Mädchen zu einer Frau entwickelt. Unter den widrigsten Bedingungen lernt sie, richtig hinzusehen, erfährt wahre Güte und erkennt, dass aus Leid manchmal auch ein Band entstehen kann, anstatt eines Bruchs.


"Was wären wir schon ohne all das?" Ich blicke zum Baum der Bestrafung hinüber. "Wir verletzen einander, weil es dir einzige Möglichkeit ist, unsere Wut zu zeigen. Wenn wir keine Wahl haben, dann schlagen die Flammen in unserem Inneren höher. Manchmal habe ich das Gefühl, wir könnten die Welt bis auf die Grundmauern niederbrennen mit unserem Zorn - aber auch mit unserer Liebe und allem, was dazwischenliegt."


Gut gefallen an ihr hat mir, dass sie keine typische Dystopie-Heldin ist. Sie ist zwar stark, mutig, rebellisch und einfallsreich, hat aber keine großen Ambitionen, die Welt zu verändern. "The Grace Year" ist nämlich keine der altbekannten "Auserwählte-rebelliert-und-verändert-Welt-Geschichte", die in diesem Genre den Markt überschwemmen. Stattdessen hat Kim Liggett den Zeitpunkt ihrer Geschichte ein bisschen früher angesetzt. Von einer Rebellion kann hier noch lange keine Rede sein, hier wird erst der fruchtbare Boden bereitet, auf dem die ersten kritischen Gedanken im verborgenen keimen können. Dabei nutzt sie auch subtile Symbolik, wie zum Beispiel die "Sprache der Blumen", bei der vor allem eine besondere Blume eine wichtige Rolle spielt... Die Idee, die langsame Herleitung einer Veränderung in den Fokus zu nehmen ist deutlich unspektakulärer als eine große Rebellion darzustellen, aber dafür auch reichlich gewitzter und unverbrauchter. Und ganz im Ernst: noch mehr Action, Kampf und Leid hätte ich wohl sowieso nicht mehr ertragen können.


"Nur Mond und Sterne sind unsere Zeugen, als er zu mir kommt. Wir pressen unsere Handflächen aneinander, verschränken unsere Finger und atmen im Gleichtakt. Genau hier gehöre ich hin. Ohne Wenn und Aber. Und als sich unsere Lippen treffen, verschwindet mit einem Mal die Welt. Als wäre es Magie."


Kritisieren könnte man am Mittelteil, dass hier auch eine zarte Liebesgeschichte aufkommt, die aber nur im Hintergrund einen schönen Kontrast zu all den düsteren Seiten der Geschichte bildet. Die dargestellte Liebesbeziehung unterstützt jedoch nur die Emanzipation der Protagonistin und könnte als solche nicht vollwertig alleinstehen. Ich denke, dass die Autorin Tierneys aufblühende Liebe dazu genutzt hat, um als Teil ihrer Rebellion aber auch ihres Selbstvertrauensgewinns zu dienen und als solches funktioniert es auch wunderbar. Als Liebesgeschichte an sich ist dieser Teil der Geschichte aber zu knapp und flach für meinen Geschmack. Dafür wird aber viel Platz für klar feministisch geprägte Sichtweisen und Botschaften gelassen, die sich jedoch nicht nur "gegen Männer" richten (wie das feministischer Literatur oftmals vorgeworfen wird), sondern auch gegen festgefahrene Systeme allgemein und vor allem auch gegen die Grausamkeiten, die Frauen sich gegenseitig antun können. Die Geschichte erzählt also nicht nur von einem leisen Widerstand gegen das gezielte Kleinhalten von Frauen und einem blutigen Überlebenskampf, sondern verbreitet auch die Botschaft von Zusammenhalt und Güte.


"Als du weggingst... dachte ich... Es ist, als wärst du ... von den Toten auferstanden."
"Vielleicht bin ich das ja", murmele ich und ziehe ihre Decke hoch.
"Dann erzähl mir vom Himmel ... wie ist es da oben?", fragt sie, während ihr die Augen endgültig zufallen.
"Der Himmel"; antworte ich beim letzten Flackern der Kerzenflamme leise, "ist ein Junge in einem Baumhaus mit harter Schale und weichem Kern."


Das eigentliche Ende wartet dann mit allerlei Wendungen und Offenbarungen auf, die ich so niemals erwartet hätte. Was sich Kim Liggett hier überlegt hat, ist gewagt, mutig und geht in eine ganz andere Richtung als erwartet oder erhofft. Auch wenn grundlegende Fragen beantwortet werden, hat die Geschichte einen beinahe schmerzhaften Interpretationsspielraum, der es dem Leser ermöglicht, vom Schlimmsten auszugehen, oder das Beste auszumalen.


"Meine Augen sind weit offen und ich sehe jetzt alles."




Fazit:


"The Grace Year" ist ein atmosphärisches Meisterwerk, das lange nachklingt. Die Geschichte vereint schneidende Gesellschaftskritik und feministischer Befreiungskampf, die Frage nach Magie hinterm Wahnsinn, bringt Liebe zwischen Brutalität und Überlebenskampf zum Blühen und erzählt nebenbei die zarte Entwicklungsgeschichte eines Mädchens, das zur Frau wird - mit allem, was dazugehört...

PS: Auch wenn ich für dieses intensive Leseerlebnis gerne 5 Sterne geben würde, ist die Liebesgeschichte für die Höchstwertung zu leblos und es werden zu wenige Hintergründe des Settings präsentiert.

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