Profilbild von Wordworld_Sophia

Wordworld_Sophia

Lesejury Star
offline

Wordworld_Sophia ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Wordworld_Sophia über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 07.03.2018

Ein rasanter Action-Thriller voller Nervenkitzel!

Kill U
0

Allgemeines:

Titel: Kill U - Wer verliert, muss sterben
Autor: Carla Spradbery
Verlag: Coppenrath (1. Juni 2015)
Genre: Thriller
ISBN-10: 3649621495
ISBN-13: 978-3649621492
ASIN: B012AR0AXW
Seitenzahl: ...

Allgemeines:

Titel: Kill U - Wer verliert, muss sterben
Autor: Carla Spradbery
Verlag: Coppenrath (1. Juni 2015)
Genre: Thriller
ISBN-10: 3649621495
ISBN-13: 978-3649621492
ASIN: B012AR0AXW
Seitenzahl: 272 Seiten
Vom Hersteller empfohlenes Alter: 14 - 17 Jahre
Originaltitel: The 100 Society
Preis: 14,95€ (Gebundene Ausgabe)
10,99€ (Kindle-Edition)



Inhalt:

Spraye einhundert Graffiti-Tags an unmöglichen Stellen, und du darfst dem Klub der 100 beitreten! Aber Vorsicht, du könntest dabei draufgehen …

Die Kunststudentin Grace ist kurz davor, in den legendären Klub der 100 aufgenommen zu werden. Bereits 95 der 100 nötigen Tags hat sie gesprayt. Beim Versuch, den 96. Tag auf einer Brücke anzubringen, kommt es jedoch zu einem gefährlichen Zwischenfall: Grace und ihre Freunde werden von einem Fremden angegriffen. Kurz darauf entdeckt Grace, dass ihre bisherigen Tags mit einem Sensenmann übersprüht wurden. Will jemand ihre Aufnahme in den Klub sabotieren? Als mehrere von Grace' Freunden in seltsame Unfälle verwickelt werden, ist Grace davon überzeugt, dass der Fremde es eigentlich auf sie abgesehen hat. Die harmlose Mutprobe wird plötzlich zum tödlichen Ernst und jeder ist verdächtig.


Bewertung:

Dieses Buch hat durch einen Fehler zu mir gefunden: meine Adresse wurde mit der Anschrift einer anderen Bloggerin verwechselt und so wurden unsere Päckchen vertauscht. Im Nachhinein bin ich jedoch wirklich sehr froh, dass diese Verwechslung passiert ist, denn sonst wäre ich nie über diese kleine Perle von Geschichte gestolpert. Total unvoreingenommen habe ich sie begonnen und emotional am Ende aber vollauf begeistert wieder beendet.

Das Cover zeigt als Hauptmotiv ein Graffiti auf einer hellen Wand: mit schwarzer Farbe sind die Grundrisse eines Mädchengesichts gesprayt, in weiß und Pink der Titel daneben. Natürlich ist es ganz passend, die Kunstform, um die es im Buch vorrangig geht, auf dem Cover abzubilden und auch gerade durch die scharfen Kontraste wird das Bild zum Eye-Catcher. Der Titel passt auch ganz gut, vor allem das "U", dass das "you" darstellen soll, hat einen Bezug zur Handlung: Graces Markenzeichen in der Sprayer-Szene ist ein Drachen in der Form eines "Us". Nicht ganz einverstanden bin ich mit dem Untertitel, welcher meiner Meinung nach eher weniger passt und eigentlich keine besondere Bedeutung zu haben scheint. Ich hätte ihn einfach weggelassen. Auch innerhalb des Buches war ich von der Gestaltung positiv überrascht. Jeden der 36 Kapitelanfänge ziert die jeweilige Zahl in Graffiti-Manier. Die dominanten, leicht verwackelten Zahlen haben etwas Hypnotisches, Unterdrucksetzendes, was sehr gut zur Handlung passt.


Erster Satz: "Grace Becker suchte am Sternenhimmel nach einem Halt, nach irgendetwas, um bloß nicht nach unten zu schauen, während sie sich Zentimeter für Zentimeter nach vorne schob."


Die Geschichte schickt uns auf die Reise in die USA auf die renommierte Privatschule Clifton Manor, wo unsere Protagonistin Grace mit ihren Freunden studiert. Ihr großes Ziel ist es, in den legendären Klub der 100 aufgenommen zu werden, wozu sie mit der Hilfe ihrer Freunde schon 95 von den 100 geforderten Graffiti-tags an die vorgegebenen Stellen gesprayt hat. Wir steigen mit einer imposanten Nacht-und-Nebel-Spray-Aktion in die Handlung ein und erleben hautnah, wie Grace beim Versuch, den 96. Tag an einer Brücke anzubringen von einem Unbekannten angegriffen wird. Als sie daraufhin immer wieder Drohungen mit dem Zeichen eines Sensenmannes erhält, ihr Zimmer durchsucht wird und Hacker auf ihrem Blog private Bilder veröffentlichen, müssen die Freunde erkennen, dass sich was als Mutprobe begonnen hat, längst in bitteren Ernst verwandelt hat. Doch wer ist der Angreifer, der nicht davor zurückschreckt, Graces Tags alle mit seinem Sensenmann zu übersprühen und ihren Freunden immer wieder gefährliche Fallen stellt? Und was hat er mit ihnen vor? Als sich die düsteren Bilder, die die Schüler im Kunstunterricht für eine Ausstellung gemalt haben, langsam alle zu erfüllen beginnen, begreift Grace, dass sie im Mittelpunkt eines perfiden Planes steht und der Strippenzieher mitten unter ihnen ist. Denn wie auch die anderen Kunstwerke wird der gesprayte Sensenmann bald Programm...


"Ihr schnürte sich der Magen zusammen. Irgendwo gab es einen Zusammenhang, den sie zwar noch nicht benennen konnte, der ihr aber Angst machte. Trotz des blauen Himmels war in der Ferne Donnergrollen zu hören. Ein Sturm zog auf."


Wow, was als harmloser Nervenkitzel in der Sprayer-Szene beginnt verwandelt sich schnell in einen atemlosen Thriller, welcher es weiß, mit den Gefühlen des Lesers zu spielen, wie kein Zweiter. Vor allem die interessanten und innovativen Ideen der Geschichte, wie der Klub 100 und das zum-Leben-erwecken von Kunstwerken hebt diesen Thriller von anderen ab und ließ ein ums andere Mal eine Gänsehaut über meinen Rücken rieseln.
Während man sich als Leser noch in die Situation ein zu denken versucht, taucht zum ersten Mal ein Unbekannter auf, der bei den Jugendlichen erstmal nur Angst vor dem drohenden Schulverweis schürt. Im Verlauf der Handlung beginnen sich die Ereignisse zu überschlagen und es wird klar, dass die Nichtaufnahme im Klub 100 und das Verpassen der besten Studienplätze nicht das Größte Problem der Freunde ist: ein gnadenloser Jäger sitzt ihnen im Nacken und verfolgt jeden ihrer Schritte.


"Am Himmel rissen die Wolken auf und gaben den Blick auf einen fast kugelrunden Mond frei, der den Sportplatz einen Augenblick lang in geisterhaftes Licht hüllte. Sekunden später schloss sich die Wolkendecke wieder und tauchte das Schulgelände abermals in Dunkelheit, doch Grace hatte jemanden auf dem Platz gesehen.
Regungslos.
Auf der Lauer."


Die 265 Seiten lassen uns kaum eine Verschnaufpause und treiben uns mit Überraschungen und Wendungen hilflos vor sich her. Durch viele Andeutungen, Drohungen und kleinen Krisen innerhalb der Gruppe, wird die Zusammensetzung der Geschichte stetig so durchmischt, dass man einfach nicht voraussehen kann, wer es denn nun ist, der die Jugendlichen jagt. Vom Direktor der Schule, über den gruseligen allgegenwärtigen Hausmeister Sylvester, bis hin zu den Mitgliedern von Graces Clique, hatte ich alle mal in Verdacht. Ist es der geheimnisvolle Daniel, auf den alle Indizien hindeuten, oder doch gar Trick, der sich so liebevoll um Grace zu kümmern scheint? Mit jeder Szene wird das Bild, das man sich gemacht hat wieder umgeworfen, sodass mir bis ganz zum Ende der Blick auf die schlussendliche Auflösung verwehrt blieb! Das hat schon lange kein Buch mehr geschafft! Durch die vielen Änderungen des Schauplatzes, dem regelrechten Szenenstakkato und nicht zuletzt dem abwechslungsreichen, flüssigen Schreibstil, wird eine gespenstische, gehetzte Stimmung kreiert, der uns Leser schonungslos auf den Showdown zu rennen lässt.

Der Fokus liegt eindeutig auf der Handlung, was bei dieser Art von Geschichte auch vollkommen in Ordnung ist. Der Plot lebt von den Protagonisten als Gruppe in ihrer vollen Dynamik, welche auch sehr spannend abgebildet wird. Die einzelnen Charaktere als Individuen sind nicht so wichtig, weshalb sie auch nur grob gezeichnet werden und die Charakterisierung vor allem auf emotionaler Ebene doch ein klein wenig oberflächlich bleibt. Das ist natürlich ein wenig schade, kann ich aber zugunsten der Spannung gerne in Kauf nehmen. Trotzdem sind alle Charaktere spannend umrahmt und bilden zusammen eine komplett durchmischte Gruppe, von der aber jeder der Täter sein könnte.


"Eigentlich mochte Grace den Regen. Warm und geborgen unter der bis zum Kinn hochgezogenen Bettdecke hatte sie stets dem sanften, mal stärker, mal schwächer werdenden Klopfen am Fenster gelauscht und war beruhigt eingeschlafen. Doch jetzt wo Cassie im Krankenhaus lag, die Augen und das Gesichts entstellt durch einen schrecklichen Unfall, der bestimmt keiner war; wo jemand Cassies Spind und ihr Zimmer durchwühlt hatte, fühlte sich Grace überhaupt nicht mehr geborgen. Im Gegenteil, das Klopfen klang, als würden tausend Finger unerbittlich gegen die Scheibe trommeln, um ins Zimmer zu gelangen..."


Grace ist hier die Hauptprotagonistin und erzählt aus der personalen Innensicht. Sie ist der Mittelpunkt der Clique und hat die ganze Geschichte mit dem Klub 100 erst losgetreten, weil sie versucht, aus dem Schatten ihres Bruders herauszutreten. Während er erfolgreich Medizin studiert, will sie Karriere als Künstlerin machen und ihrem Vater durch die Aktion beweisen, was sie drauf hat. Sie malt das Bild "Für immer".

Neben dem gutaussehenden Pete, welcher ihr bester Freund ist, den sie seit Jahren kennt und dem sie blind vertraut hilft ihr dabei noch Trick, der eigentlich Patrick heißt und der geborene Rebell zu sein scheint. Obwohl Pete eigentlich die perfekte Wahl ist und er sie seit Jahren zu lieben scheint, fühlt sie sich eher zum rebellischen Trick hingezogen, welcher mit seinen Tätowierungen und der mühelosen künstlerischen Begabung aus der Reihe tanzt. Die sich anbahnende Liebesgeschichte ist zwar eigentlich voll von Klischees, fügt sich aber auf sehr passende Art und Weise in die Handlung, sodass sie diese eher komplettiert als stört. Trick malt "Der Glockenturm", Pete töpfert eine Tonskulptur.


"Seine Augen. Das Braun seiner Iris kam ihr noch dunkler vor. Diesen Ausdruck hatten sie sonst nur, wenn er in seine Bilder versunken war. "Grace." Sanft strich er ihr über die Wange. Allein diese leichte Berührung raubte ihr den Atem."


Seit Trick vor einigen Monaten auf die Schule gekommen ist, hat sich Graces Freundschaft zu ihrer besten Freundin Faith verändert. Warum erfährt sie erst, als sie herausfindet, dass sie schon seit Jahren auf Pete steht und es nicht ausstehen kann, dass Grace diesen so in der Luft hängen lässt. Wie auch die Rivalitäten zwischen den Künstlern angesichts der nahenden Ausstellung, zu der wichtige Universitäten Talentscouts schicken werden, ist diese Dreiecksgeschichte ein wunderbarer Nährboden für Konflikte innerhalb des Freundeskreises. Faith malt "Der Schrei".

Die letzten beiden Mitglieder der Clique sind das Paar Cassie und Ed. Während Cassie auf den ersten Blick wie eine oberflächliche Tussi wirkt, mit ihren Designerschuhen, ihrem aufwändigen Make-Up und den ausgetüftelten Outfits, ist Ed die Bodenständigkeit in Person. Wie gut die beiden zusammenpassen, erfahren wir erst, als klar wird, dass in Cassie mehr steckt, als ihr schönes Aussehen vermuten lässt. Während Ed ein sozialkritisches "Galgenmännchen" auf die Leinwand gebracht hat, hat Cassie in ihrer Collage "Dekonstruktion von Schönheit" ebenfalls Kritik an der Gesellschaft geübt. Dass die beiden somit ihr Schicksal unterschrieben haben, konnten sie noch nicht ahnen...


"Als Daniel sich die Brille zurechtrückte, herrschte für einen Moment absolute Stille. Im mächtigen Schatten von Clifton Manor schob er sich das strähnige Haar aus dem Gesicht, dann schenkte er Grace und Pete ein Lächeln, das nicht zu der Kälte in seinen Augen passt. Als würde ein Totenkopf feixen..."


Der letzte nennenswerte Charakter ist Daniel, welcher als Außenseiter neben der Clique steht und von allen wie ein Fußabtreter behandelt wird. Weil er pyromanische Züge hat wird er hinter seinem Rücken dafür verschrien, ein Psycho und für den Brand an der Schule verantwortlich zu sein. Er malte das Bild "Feuer". Als er dann auch noch in den Fall mit dem Klub 100 verwickelt zu sein scheint und sich mit den Freunden an der "Lost Souls Bridge" treffen will, wo es zu einem schrecklichen Unfall kommt, scheinen alle Indizien auf ihn zu deuten. Doch ist er es wirklich oder steckt noch jemand anders dahinter?

Ein Roman der zeigt, wie aus Hass und einer psychischen Störungen ein schonungsloses Katz-und-Maus-Spiel entstehen kann, dass schnell entgleist. Ein Hauch von Tod inmitten des normalen alltäglichen Lebens, eine Menge Freundschaft und Verrat, alles unter dem Deckmantel der Kunst. Das letzte i-Tüpfelchen fehlt noch, ansonsten haben wie hier einen rundum mitreißenden und überzeugenden Thriller vor uns.


"Grace drehte sich zu Trick um. "Ich habe das Gefühl, die ganze Welt ist heute wahnsinnig geworden." Trick schaute von seinem Bild auf. "Weißt du, ich glaube, der Wahnsinn geht gerade erst los..."



Gerade das Ende trumpft nochmals mit einem spannendem Showdown auf, den man der Geschichte gar nicht zugetraut hätte und offenbart, was dieses Buch ist: eine positive Überraschung auf ganzer Linie!


Fazit:

Ein rasanter Action-Thriller voller Nervenkitzel, der alles hat, was für eine gute Portion Spannung nötig ist: der Zwiespalt zwischen Vertrauen und Verrat, enttäuschte Freundschaftsbanden und erstarkende Liebe und ein Hauch von Tod inmitten des normalen alltäglichen Lebens - alles unter dem Deckmantel der Kunst.

Veröffentlicht am 28.02.2018

Ein echter John Green: berührend, verstörend, authentisch!

Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken
0

Allgemeines:

Titel: Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken
Autor: John Green
Verlag: Carl Hanser Verlag (10. November 2017)
Genre: Roman
ISBN-10: 3446259031
ISBN-13: 978-3446259034
Vom Hersteller empfohlenes ...

Allgemeines:

Titel: Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken
Autor: John Green
Verlag: Carl Hanser Verlag (10. November 2017)
Genre: Roman
ISBN-10: 3446259031
ISBN-13: 978-3446259034
Vom Hersteller empfohlenes Alter: 14 - 17 Jahre
Seitenzahl: 288 Seiten
Originaltitel: Turtles All the Way Down
Preis: 15,99€ (Kindle-Edition)
12€ (gebundene Ausgabe)


Inhalt:

"Das wahre Grauen ist nicht, Angst zu haben; es ist, keine andere Wahl zu haben."

Die 16-jährige Aza Holmes hatte ganz sicher nicht vor, sich an der Suche nach dem verschwundenen Milliardär Russell Pickett zu beteiligen. Sie hat genug mit ihren eigenen Sorgen und Ängsten zu kämpfen, die ihre Gedankenwelt zwanghaft beherrschen. Doch als eine Hunderttausend-Dollar-Belohnung auf dem Spiel steht und ihre furchtlose beste Freundin Daisy es kaum erwarten kann, das Geheimnis um Pickett aufzuklären, macht Aza mit. Sie versucht Mut zu beweisen und überwindet durch Daisy nicht nur kleine Hindernisse, sondern auch große Gegensätze, die sie von anderen Menschen trennen. Für Aza wird es ein großes Abenteuer und eine Reise ins Zentrum ihrer Gedankenspirale, der sie zu entkommen versucht.


Bewertung:

"Du bist ein Wir. Du bist ein Du. Du bist eine Sie, ein Es, Sie Mehrzahl. Ein Königreich für ein Ich."

"Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken" ist wie alle anderen Romane John Greens kein Buch, was man mal eben so weg liest, vom Inhalt, den Charakteren und auch der Sprache nicht. Natürlich war für mich gleich nach der Veröffentlichung klar, dass diese Geschichte früher oder später den Weg zu mir finden wird, auch wenn sie mal wieder auf viel Gegen- wie Rückenwind gestoßen ist.


„Die Leute tun immer so, als gäbe es eine klare Grenze zwischen der Erinnerung und der Fantasie, aber die gibt es nicht, jedenfalls nicht bei mir. Ich erinnere mich an das, was ich mir ausgedacht habe, und denke mir aus, woran ich mich erinnere.“


Das Cover gefällt mir grundsätzlich sehr gut. Zusehen ist eine schwarze Spirale auf blau-weißem Untergrund, welche Azas seelische Unruhe und Gedankenspiralen verkörpern soll. Der orangefarbene Titel fügt sich gut in die Lücken zwischen den dunklen Strichen ein. Im Gegensatz zum englischen Original wirkt es viel zurückhaltender und weniger aufdringlich, mir gefällt die düsterere Ausgabe mit dem dunkelblauen Hintergrund, dem angedeuteten Boot und den winzigen Sternen aber viel besser. Schade, dass sich die Leserschaft bei der Befragung, welches Cover die deutsche Ausgabe zieren soll, für das jetzige entschieden hat und ich auch keines der limitierten Erstausgaben mit dem Wendecover ergattern konnte. Gut gefallen mit hier die zwei kleinen Schildkröten am Rand, welche auf den englischen Titel "Turtles all the way down" anspielen. Das somit wenigstens ein Element des perfekt passenden Titels in der Hanser-Ausgabe erhalten wurde, wenn schon der wunderbare Hintergrund des Titels entkernt wurde, ist ein kleiner Trost. Auch wenn man nach der Lektüre des Buches durchaus nachvollziehen kann, wie der Titel gemeint ist, fehlt ihm einfach die Tiefgründigkeit des Originaltitels. "Schildkröten bis untenhin" hätte auf der anderen Seite aber auch nicht besonders ansprechend geklungen...


Erster Satz: "Als mir zum ersten Mal klar wurde, dass ich vielleicht Fiktion bin, verbrachte ich meine Tage an einer öffentlichen Bildungsanstalt namens White River High im Norden von Indianapolis, wo ich von fremden Kräften, die so übermächtig waren, dass ich sie nicht ansatzweise identifizieren konnte, dazu gezwungen wurde, jeden Tag zu einer bestimmten Uhrzeit Mittag zu essen, nämlich zwischen 12 Uhr 37 und 13 Uhr 14."


(Puh, das ist wohl die Königin aller Schachtelsätze! Wenn sich mein Deutschlehrer bei meiner nächsten Klausur beschwert, meine Sätze seien zu lang, werde ich ihm diesen Beweis hier vorlegen. Wenn John Green das darf - und er wurde mehrfach mit etlichen wichtigen Preisen auf der ganzen Welt ausgezeichnet - beweist das wohl, dass Schachtelsätze keine grundsätzlich schwarze Seele haben, oder nicht?)


"Die Schritte meiner Mutter, waren so leise,
ich hörte sie kaum, als sie ging. (...)
Das Leben reimt sich, aber nie an der Stelle, wo man es erwartet"


Naja, bleiben wir beim Thema.
Im Fokus der Geschichte steht die 16-jährige Aza, die aus der Ich-Perspektive zuerst einmal von ihrem Teenager-Alltag erzählt, welcher sich neben den gewöhnlichen Problemen einer Heranwachsenden wie Schule, Familie und Freunde durch eine Angststörung beherrscht wird. Jeden Tag und jede Minute muss sie gegen ihre inneren Dämonen ankämpfen, um ein halbwegs normales Leben führen zu können. Um sich von ihren immer wiederkehrenden Gedankenspiralen abzulenken stürzt sie sich zusammen mit ihrer besten Freundin Daisy in die Suche nach dem verschollenen Milliardären Russel Pickett, welcher gleichzeitig der Vater ihres Kindheitsfreundes Davis ist. Als sie beginnen nach dem Verschollenen zu suchen, wissen beide noch nicht, wie sehr sich dabei ihre Beziehung und ihr ganzes Leben verändern werden...


„Ich konnte mein Leben lang nicht geradeaus denken oder auch nur einen Gedanken zu Ende denken, weil meine Gedanken keine Linien, sondern ineinander verknotete Schleifen waren, Treibsand, Wurmlöcher, die alles Licht verschluckten“


Ich muss zugeben, die Geschichte startet mit angezogener Handbremse, während Aza von ihrem Alltag erzählt. Nachdem wir Azas Alltag und die Hintergründe ihres Lebens besser kennengelernt haben, scheint die Suche nach Pickett in den Fokus der Geschichte zu rücken. Doch die detektivischen Tätigkeiten der beiden Freundinnen beschränken sich auf minimalistischer Suche im Internat und einem Besuch bei der Familie des Milliardärs. Schon bald wird klar, dass eigentlich Aza als Mensch Haupthandlung ist, und man außer ihren Gedanken, Ängsten und ihrem drohenden Kontrollverlust angesichts ihrer Angststörung nicht besonders viel an Handlung präsentiert bekommt. Das fand ich als Gegenstand der Geschichte unheimlich spannend, hätte das aber trotzdem gerne vorher gewusst: der Klapptext ist in dieser Hinsicht recht irreführend.


"Ich denke: Du wirst nie frei davon sein."
Ich denke: "Du suchst dir deine Gedanken nicht aus.
Ich denke: "Du stirbst, und du hast Keime in dir, die sich am Ende von innen durch deine Haut fressen."
Ich denke und denke und denke."


Wer hier eine abenteuerliche Hinweissuche nach einem verschollenen Milliardär sucht, ist also eindeutig an der falschen Adresse. Doch das bedeutet aber noch lange nicht, dass wir es hier mit einer Geschichte zu tun haben die langweilig ist. Manchmal habe ich das Gefühl dass John Green einfach über erzähltechnischen Elementen wie unvorhersehbaren Wendungen, einer komplexe Story Line mit rotem Faden, einen zum bersten gespannten Spannungsbogen oder schockierender Action steht - all das, was das durchschnittliche Buch spannend und lesenswert macht, scheint er einfach nicht zu brauchen. Oft haben seine Bücher eigentlich nicht besonders viel Handlung, sind aber trotzdem spannender als jeder Krimi. Die ganze Welt fragt sich beim Lesen seiner Bücher: Wie bekommt er das bloß hin? Der Autor weiß einfach mit ganz besonderen Figuren, Lebensweisheiten und einer fantastischen Atmosphäre zu überzeugen und mit leisen Tönen still und heimlich den Leser um den Finger zu wickeln, zu packen und bis zum Schluss nicht mehr loszulassen.
Auch wenn das Buch anders ist als seine vorhergehende Romane, ernster, ruhiger und in sich ruhender daherkommt ist es doch wieder ein echter John Green: berührend, verstörend, authentisch.


„Hast du Angst?“
„Ein bisschen.“
„Wovor?“
„Kann ich nicht sagen. Es gibt kein Wovor. Ich habe einfach Angst.“


Berührend und authentisch, klar, aber warum verstörend? Die Konfrontation mit Azas Angst- und Zwangsstörung hat mich durchaus überrumpelt und sowohl unangenehme Fakten über das menschliche Mikrobiom als auch selbst verletzende Züge wie das zwanghafte Öffnen einer nie ganz verheilenden Wunder an ihrem Mittelfinger können dem Leser schon mal auf den Magen schlagen. Wer will schon wissen, dass der eigene Körper zu 50% aus fremden Organismen besteht oder beim küssen über 80 Millionen Bakterien übertragen werden? Ich nicht, und Aza eigentlich auch nicht, doch ihre Angst lässt sie immer wieder Wikipedia Artikel über solche Fakten lesen. Oder sie zwingt sie dazu, an nichts anderes denken, als an C. difficile, ein Bakterium, das sich in ihrem Körper vermehren und zu einer lebensbedrohlichen Erkrankung führen könnte, während sie eigentlich in der Cafeteria sitzt und versucht, sich ganz normal mit ihren Freunden zu unterhalten.


"Sorgen sind die angemessene Reaktion auf das Leben. Das Leben ist besorgniserregend."


John Green beschreibt sehr intensiv und nachvollziehbar schockierend wie Aza sich immer wieder in ihren eigenen Gedankenspiralen verläuft, unfähig ihrem eigenen Kopf zu entfliehen. Obwohl Azas Reaktionen auf ihre Angst und viele ihrer Handlungen, wie zum Beispiel Desinfektionsmittel zu trinken oder zwanghaft das Pflaster an ihrem Finger zu wechseln, rein rational betrachtet gar keinen Sinn machen und für den Durchschnittsmenschen verrückt und unlogisch erscheinen, schafft der Autor es, dem Leser klarzumachen, warum Aza so handelt, warum sie so handeln muss. Als Leser hab ich mit ihr gelitten und ihr versucht mental Kraft zu schicken, aus ihren Gedankenspiralen auszubrechen. Dass John Green ebenfalls an Störungen aus dem Angst- und Zwangsbereich leidet, wie man in seiner Danksagung nachlesen kann, gibt dem Buch nochmal einen viel ernsteren Beigeschmack.


„Aber was ich mich frage, ist, gibt es überhaupt ein Selbst, unabhängig von den Umständen? [...] Ich entscheide nicht, ob ich schwitze, oder ob ich Krebs oder C. difficile kriege oder so was, also ist es auch nicht wirklich mein Körper. Ich entscheide überhaupt nichts - es wird alles von äußeren Kräften entschieden. Ich bin eine Geschichte, die jemand anderes erzählt. Ich bin eine Verkettung von Umständen.“


Trotz der ernsten Thematik schafft es John Green wie wir es von ihm gewohnt sind, ab und zu durch trockenen Humor, wunderschöne philosophische Sätzen und eine ruhige, leichte Liebesgeschichte, die sich aber hier eher am Rand abspielt, aufzulockern. Im Gegensatz zu seinen anderen Werken schafft er es hier nicht, der Handlung die ganze Schwere zu nehmen, trotzdem ist sein Stil mal wieder wunderschön und etwas anspruchsvoller als sonst in Jugendbüchern. Mit vielen unterschiedlichen Metaphern und Formulierungsweisen versichert er, dass auch wirklich jeder Leser verstehen kann, was er meint und bringt Gefühle und Gedanken seiner Figuren wunderbar direkt und erlebbar auf den Punkt. Feinfühlige Zitate berühmter Personen, die in Auszügen von Davis´ Blog vorkommen, unterstützen die philosophischen Überlegungen der Charaktere, die aber immer so bodenständig und dezent bleiben, dass keine plumpe Belehrungssituationen zu Stande kommen.


"Wenn man lange genug in den Himmel hoch sieht, fängt man an die eigene Winzigkeit zu spüren. Der Unterschied zwischen lebendig oder nicht lebendig - das ist etwas. Aber von den Sternen aus betrachtet, gibt es fast keinen Unterschied zwischen den verschiedenen Arten von lebendig, zwischen mir und dem frisch gemähten Gras, auf dem ich liege. Beide sind wir Unwahrscheinlichkeiten: das, was im Universum einem Wunder am nächsten kommt."



Das Kernstück der Geschichte ist hier aber wie so oft die Vielfalt an skurriler aber liebenswerter Protagonisten. Natürlich handelt die Geschichte in erster Linie von Aza und ihrem Kampf gegen ihre Zwangsstörung, charakterisiert sie als ganz besondere Person und erzählt von ihren Beziehungen zu anderen Personen: ihrer Freundschaft zu Daisy, ihre Beziehung zu Davis, das Verhältnis mit ihrer Mutter, die Liebe zu Harold, ihrem Auto...


"Unsere Herzen waren an der gleichen Stelle gebrochen. Das ist so etwas wie Liebe, aber vielleicht nicht ganz dasselbe."



Das Buch handelt aber auch von Davis, dessen Vater verschwunden ist, der sich furchtbar einsam fühlt und nicht bereit dazu ist, die Verantwortung für seinen kleinen Bruder zu übernehmen. Es handelt von Daisy, Azas bester Freundin, die sich in Starwars Fanfiction vor der Armut ihrer Eltern flüchtet und aus Angst vor der Stille ununterbrochen plappert. Und von Noah, Davis‘ kleinem Bruder, der auf der einen Seite den großen Macker raushängen lässt, sich aber vor allem nach Geborgenheit und Sicherheit sehnt und deshalb nachts weinend zu Davis ins Bett schlüpft, wenn es keiner sieht. Es handelt von Verlust und Ohnmacht, Liebe, Kraft und Hoffnung. Es handelt von realistisch geschriebenen Charakteren, die mit dem Leben kämpfen. Das Problem: "Keiner versteht den anderen, nicht richtig. Wir sind alle in uns selbst gefangen."
Das Ende hat es dann nochmal in sich. Auf der einen Seite hasse ich es, weil es kein wirkliches Happyend ist, auf der anderen Seite muss ich John Green leider zustimmen wenn er durch Aza sagt:


„Das Problem bei Happy Ends ist, dass sie entweder nicht richtig glücklich sind, oder sie sind kein richtiges Ende. Im richtigen Leben werden manche Dinge besser und manche Dinge werden schlechter und irgendwann stirbst Du“


Ja, irgendwann stirbt man dann, und wenn das passiert kann man es nicht ändern, doch man kann dieses Buch gelesen haben, was das zurückgelegte Leben dann um ein winziges bisschen besser macht!

Zum Schluss noch mein Lieblingszitat:

"In die Augen kann man jedem sehen. Aber jemand zu finden, der dieselbe Welt sieht, ist ziemlich selten."


Fazit:

Ein echter John Green: berührend, verstörend, authentisch. Leider ist es schleppender und erdrückender als seine anderen Werke, dennoch voller leisem Tiefgang, wundervollen Charakteren und Mut.

Veröffentlicht am 28.02.2018

Ein echter John Green: berührend, verstörend, authentisch!

Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken
0

Allgemeines:

Titel: Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken
Autor: John Green
Verlag: Carl Hanser Verlag (10. November 2017)
Genre: Roman
ISBN-10: 3446259031
ISBN-13: 978-3446259034
Vom Hersteller empfohlenes ...

Allgemeines:

Titel: Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken
Autor: John Green
Verlag: Carl Hanser Verlag (10. November 2017)
Genre: Roman
ISBN-10: 3446259031
ISBN-13: 978-3446259034
Vom Hersteller empfohlenes Alter: 14 - 17 Jahre
Seitenzahl: 288 Seiten
Originaltitel: Turtles All the Way Down
Preis: 15,99€ (Kindle-Edition)
12€ (gebundene Ausgabe)


Inhalt:

"Das wahre Grauen ist nicht, Angst zu haben; es ist, keine andere Wahl zu haben."

Die 16-jährige Aza Holmes hatte ganz sicher nicht vor, sich an der Suche nach dem verschwundenen Milliardär Russell Pickett zu beteiligen. Sie hat genug mit ihren eigenen Sorgen und Ängsten zu kämpfen, die ihre Gedankenwelt zwanghaft beherrschen. Doch als eine Hunderttausend-Dollar-Belohnung auf dem Spiel steht und ihre furchtlose beste Freundin Daisy es kaum erwarten kann, das Geheimnis um Pickett aufzuklären, macht Aza mit. Sie versucht Mut zu beweisen und überwindet durch Daisy nicht nur kleine Hindernisse, sondern auch große Gegensätze, die sie von anderen Menschen trennen. Für Aza wird es ein großes Abenteuer und eine Reise ins Zentrum ihrer Gedankenspirale, der sie zu entkommen versucht.


Bewertung:

"Du bist ein Wir. Du bist ein Du. Du bist eine Sie, ein Es, Sie Mehrzahl. Ein Königreich für ein Ich."

"Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken" ist wie alle anderen Romane John Greens kein Buch, was man mal eben so weg liest, vom Inhalt, den Charakteren und auch der Sprache nicht. Natürlich war für mich gleich nach der Veröffentlichung klar, dass diese Geschichte früher oder später den Weg zu mir finden wird, auch wenn sie mal wieder auf viel Gegen- wie Rückenwind gestoßen ist.


„Die Leute tun immer so, als gäbe es eine klare Grenze zwischen der Erinnerung und der Fantasie, aber die gibt es nicht, jedenfalls nicht bei mir. Ich erinnere mich an das, was ich mir ausgedacht habe, und denke mir aus, woran ich mich erinnere.“


Das Cover gefällt mir grundsätzlich sehr gut. Zusehen ist eine schwarze Spirale auf blau-weißem Untergrund, welche Azas seelische Unruhe und Gedankenspiralen verkörpern soll. Der orangefarbene Titel fügt sich gut in die Lücken zwischen den dunklen Strichen ein. Im Gegensatz zum englischen Original wirkt es viel zurückhaltender und weniger aufdringlich, mir gefällt die düsterere Ausgabe mit dem dunkelblauen Hintergrund, dem angedeuteten Boot und den winzigen Sternen aber viel besser. Schade, dass sich die Leserschaft bei der Befragung, welches Cover die deutsche Ausgabe zieren soll, für das jetzige entschieden hat und ich auch keines der limitierten Erstausgaben mit dem Wendecover ergattern konnte. Gut gefallen mit hier die zwei kleinen Schildkröten am Rand, welche auf den englischen Titel "Turtles all the way down" anspielen. Das somit wenigstens ein Element des perfekt passenden Titels in der Hanser-Ausgabe erhalten wurde, wenn schon der wunderbare Hintergrund des Titels entkernt wurde, ist ein kleiner Trost. Auch wenn man nach der Lektüre des Buches durchaus nachvollziehen kann, wie der Titel gemeint ist, fehlt ihm einfach die Tiefgründigkeit des Originaltitels. "Schildkröten bis untenhin" hätte auf der anderen Seite aber auch nicht besonders ansprechend geklungen...


Erster Satz: "Als mir zum ersten Mal klar wurde, dass ich vielleicht Fiktion bin, verbrachte ich meine Tage an einer öffentlichen Bildungsanstalt namens White River High im Norden von Indianapolis, wo ich von fremden Kräften, die so übermächtig waren, dass ich sie nicht ansatzweise identifizieren konnte, dazu gezwungen wurde, jeden Tag zu einer bestimmten Uhrzeit Mittag zu essen, nämlich zwischen 12 Uhr 37 und 13 Uhr 14."


(Puh, das ist wohl die Königin aller Schachtelsätze! Wenn sich mein Deutschlehrer bei meiner nächsten Klausur beschwert, meine Sätze seien zu lang, werde ich ihm diesen Beweis hier vorlegen. Wenn John Green das darf - und er wurde mehrfach mit etlichen wichtigen Preisen auf der ganzen Welt ausgezeichnet - beweist das wohl, dass Schachtelsätze keine grundsätzlich schwarze Seele haben, oder nicht?)


"Die Schritte meiner Mutter, waren so leise,
ich hörte sie kaum, als sie ging. (...)
Das Leben reimt sich, aber nie an der Stelle, wo man es erwartet"


Naja, bleiben wir beim Thema.
Im Fokus der Geschichte steht die 16-jährige Aza, die aus der Ich-Perspektive zuerst einmal von ihrem Teenager-Alltag erzählt, welcher sich neben den gewöhnlichen Problemen einer Heranwachsenden wie Schule, Familie und Freunde durch eine Angststörung beherrscht wird. Jeden Tag und jede Minute muss sie gegen ihre inneren Dämonen ankämpfen, um ein halbwegs normales Leben führen zu können. Um sich von ihren immer wiederkehrenden Gedankenspiralen abzulenken stürzt sie sich zusammen mit ihrer besten Freundin Daisy in die Suche nach dem verschollenen Milliardären Russel Pickett, welcher gleichzeitig der Vater ihres Kindheitsfreundes Davis ist. Als sie beginnen nach dem Verschollenen zu suchen, wissen beide noch nicht, wie sehr sich dabei ihre Beziehung und ihr ganzes Leben verändern werden...


„Ich konnte mein Leben lang nicht geradeaus denken oder auch nur einen Gedanken zu Ende denken, weil meine Gedanken keine Linien, sondern ineinander verknotete Schleifen waren, Treibsand, Wurmlöcher, die alles Licht verschluckten“


Ich muss zugeben, die Geschichte startet mit angezogener Handbremse, während Aza von ihrem Alltag erzählt. Nachdem wir Azas Alltag und die Hintergründe ihres Lebens besser kennengelernt haben, scheint die Suche nach Pickett in den Fokus der Geschichte zu rücken. Doch die detektivischen Tätigkeiten der beiden Freundinnen beschränken sich auf minimalistischer Suche im Internat und einem Besuch bei der Familie des Milliardärs. Schon bald wird klar, dass eigentlich Aza als Mensch Haupthandlung ist, und man außer ihren Gedanken, Ängsten und ihrem drohenden Kontrollverlust angesichts ihrer Angststörung nicht besonders viel an Handlung präsentiert bekommt. Das fand ich als Gegenstand der Geschichte unheimlich spannend, hätte das aber trotzdem gerne vorher gewusst: der Klapptext ist in dieser Hinsicht recht irreführend.


"Ich denke: Du wirst nie frei davon sein."
Ich denke: "Du suchst dir deine Gedanken nicht aus.
Ich denke: "Du stirbst, und du hast Keime in dir, die sich am Ende von innen durch deine Haut fressen."
Ich denke und denke und denke."


Wer hier eine abenteuerliche Hinweissuche nach einem verschollenen Milliardär sucht, ist also eindeutig an der falschen Adresse. Doch das bedeutet aber noch lange nicht, dass wir es hier mit einer Geschichte zu tun haben die langweilig ist. Manchmal habe ich das Gefühl dass John Green einfach über erzähltechnischen Elementen wie unvorhersehbaren Wendungen, einer komplexe Story Line mit rotem Faden, einen zum bersten gespannten Spannungsbogen oder schockierender Action steht - all das, was das durchschnittliche Buch spannend und lesenswert macht, scheint er einfach nicht zu brauchen. Oft haben seine Bücher eigentlich nicht besonders viel Handlung, sind aber trotzdem spannender als jeder Krimi. Die ganze Welt fragt sich beim Lesen seiner Bücher: Wie bekommt er das bloß hin? Der Autor weiß einfach mit ganz besonderen Figuren, Lebensweisheiten und einer fantastischen Atmosphäre zu überzeugen und mit leisen Tönen still und heimlich den Leser um den Finger zu wickeln, zu packen und bis zum Schluss nicht mehr loszulassen.
Auch wenn das Buch anders ist als seine vorhergehende Romane, ernster, ruhiger und in sich ruhender daherkommt ist es doch wieder ein echter John Green: berührend, verstörend, authentisch.


„Hast du Angst?“
„Ein bisschen.“
„Wovor?“
„Kann ich nicht sagen. Es gibt kein Wovor. Ich habe einfach Angst.“


Berührend und authentisch, klar, aber warum verstörend? Die Konfrontation mit Azas Angst- und Zwangsstörung hat mich durchaus überrumpelt und sowohl unangenehme Fakten über das menschliche Mikrobiom als auch selbst verletzende Züge wie das zwanghafte Öffnen einer nie ganz verheilenden Wunder an ihrem Mittelfinger können dem Leser schon mal auf den Magen schlagen. Wer will schon wissen, dass der eigene Körper zu 50% aus fremden Organismen besteht oder beim küssen über 80 Millionen Bakterien übertragen werden? Ich nicht, und Aza eigentlich auch nicht, doch ihre Angst lässt sie immer wieder Wikipedia Artikel über solche Fakten lesen. Oder sie zwingt sie dazu, an nichts anderes denken, als an C. difficile, ein Bakterium, das sich in ihrem Körper vermehren und zu einer lebensbedrohlichen Erkrankung führen könnte, während sie eigentlich in der Cafeteria sitzt und versucht, sich ganz normal mit ihren Freunden zu unterhalten.


"Sorgen sind die angemessene Reaktion auf das Leben. Das Leben ist besorgniserregend."


John Green beschreibt sehr intensiv und nachvollziehbar schockierend wie Aza sich immer wieder in ihren eigenen Gedankenspiralen verläuft, unfähig ihrem eigenen Kopf zu entfliehen. Obwohl Azas Reaktionen auf ihre Angst und viele ihrer Handlungen, wie zum Beispiel Desinfektionsmittel zu trinken oder zwanghaft das Pflaster an ihrem Finger zu wechseln, rein rational betrachtet gar keinen Sinn machen und für den Durchschnittsmenschen verrückt und unlogisch erscheinen, schafft der Autor es, dem Leser klarzumachen, warum Aza so handelt, warum sie so handeln muss. Als Leser hab ich mit ihr gelitten und ihr versucht mental Kraft zu schicken, aus ihren Gedankenspiralen auszubrechen. Dass John Green ebenfalls an Störungen aus dem Angst- und Zwangsbereich leidet, wie man in seiner Danksagung nachlesen kann, gibt dem Buch nochmal einen viel ernsteren Beigeschmack.


„Aber was ich mich frage, ist, gibt es überhaupt ein Selbst, unabhängig von den Umständen? [...] Ich entscheide nicht, ob ich schwitze, oder ob ich Krebs oder C. difficile kriege oder so was, also ist es auch nicht wirklich mein Körper. Ich entscheide überhaupt nichts - es wird alles von äußeren Kräften entschieden. Ich bin eine Geschichte, die jemand anderes erzählt. Ich bin eine Verkettung von Umständen.“


Trotz der ernsten Thematik schafft es John Green wie wir es von ihm gewohnt sind, ab und zu durch trockenen Humor, wunderschöne philosophische Sätzen und eine ruhige, leichte Liebesgeschichte, die sich aber hier eher am Rand abspielt, aufzulockern. Im Gegensatz zu seinen anderen Werken schafft er es hier nicht, der Handlung die ganze Schwere zu nehmen, trotzdem ist sein Stil mal wieder wunderschön und etwas anspruchsvoller als sonst in Jugendbüchern. Mit vielen unterschiedlichen Metaphern und Formulierungsweisen versichert er, dass auch wirklich jeder Leser verstehen kann, was er meint und bringt Gefühle und Gedanken seiner Figuren wunderbar direkt und erlebbar auf den Punkt. Feinfühlige Zitate berühmter Personen, die in Auszügen von Davis´ Blog vorkommen, unterstützen die philosophischen Überlegungen der Charaktere, die aber immer so bodenständig und dezent bleiben, dass keine plumpe Belehrungssituationen zu Stande kommen.


"Wenn man lange genug in den Himmel hoch sieht, fängt man an die eigene Winzigkeit zu spüren. Der Unterschied zwischen lebendig oder nicht lebendig - das ist etwas. Aber von den Sternen aus betrachtet, gibt es fast keinen Unterschied zwischen den verschiedenen Arten von lebendig, zwischen mir und dem frisch gemähten Gras, auf dem ich liege. Beide sind wir Unwahrscheinlichkeiten: das, was im Universum einem Wunder am nächsten kommt."



Das Kernstück der Geschichte ist hier aber wie so oft die Vielfalt an skurriler aber liebenswerter Protagonisten. Natürlich handelt die Geschichte in erster Linie von Aza und ihrem Kampf gegen ihre Zwangsstörung, charakterisiert sie als ganz besondere Person und erzählt von ihren Beziehungen zu anderen Personen: ihrer Freundschaft zu Daisy, ihre Beziehung zu Davis, das Verhältnis mit ihrer Mutter, die Liebe zu Harold, ihrem Auto...


"Unsere Herzen waren an der gleichen Stelle gebrochen. Das ist so etwas wie Liebe, aber vielleicht nicht ganz dasselbe."



Das Buch handelt aber auch von Davis, dessen Vater verschwunden ist, der sich furchtbar einsam fühlt und nicht bereit dazu ist, die Verantwortung für seinen kleinen Bruder zu übernehmen. Es handelt von Daisy, Azas bester Freundin, die sich in Starwars Fanfiction vor der Armut ihrer Eltern flüchtet und aus Angst vor der Stille ununterbrochen plappert. Und von Noah, Davis‘ kleinem Bruder, der auf der einen Seite den großen Macker raushängen lässt, sich aber vor allem nach Geborgenheit und Sicherheit sehnt und deshalb nachts weinend zu Davis ins Bett schlüpft, wenn es keiner sieht. Es handelt von Verlust und Ohnmacht, Liebe, Kraft und Hoffnung. Es handelt von realistisch geschriebenen Charakteren, die mit dem Leben kämpfen. Das Problem: "Keiner versteht den anderen, nicht richtig. Wir sind alle in uns selbst gefangen."
Das Ende hat es dann nochmal in sich. Auf der einen Seite hasse ich es, weil es kein wirkliches Happyend ist, auf der anderen Seite muss ich John Green leider zustimmen wenn er durch Aza sagt:


„Das Problem bei Happy Ends ist, dass sie entweder nicht richtig glücklich sind, oder sie sind kein richtiges Ende. Im richtigen Leben werden manche Dinge besser und manche Dinge werden schlechter und irgendwann stirbst Du“


Ja, irgendwann stirbt man dann, und wenn das passiert kann man es nicht ändern, doch man kann dieses Buch gelesen haben, was das zurückgelegte Leben dann um ein winziges bisschen besser macht!

Zum Schluss noch mein Lieblingszitat:

"In die Augen kann man jedem sehen. Aber jemand zu finden, der dieselbe Welt sieht, ist ziemlich selten."


Fazit:

Ein echter John Green: berührend, verstörend, authentisch. Leider ist es schleppender und erdrückender als seine anderen Werke, dennoch voller leisem Tiefgang, wundervollen Charakteren und Mut.

Veröffentlicht am 28.02.2018

Ein echter John Green: berührend, verstörend, authentisch.!

Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken
0

Allgemeines:

Titel: Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken
Autor: John Green
Verlag: Carl Hanser Verlag (10. November 2017)
Genre: Roman
ISBN-10: 3446259031
ISBN-13: 978-3446259034
Vom Hersteller empfohlenes ...

Allgemeines:

Titel: Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken
Autor: John Green
Verlag: Carl Hanser Verlag (10. November 2017)
Genre: Roman
ISBN-10: 3446259031
ISBN-13: 978-3446259034
Vom Hersteller empfohlenes Alter: 14 - 17 Jahre
Seitenzahl: 288 Seiten
Originaltitel: Turtles All the Way Down
Preis: 15,99€ (Kindle-Edition)
12€ (gebundene Ausgabe)


Inhalt:

"Das wahre Grauen ist nicht, Angst zu haben; es ist, keine andere Wahl zu haben."

Die 16-jährige Aza Holmes hatte ganz sicher nicht vor, sich an der Suche nach dem verschwundenen Milliardär Russell Pickett zu beteiligen. Sie hat genug mit ihren eigenen Sorgen und Ängsten zu kämpfen, die ihre Gedankenwelt zwanghaft beherrschen. Doch als eine Hunderttausend-Dollar-Belohnung auf dem Spiel steht und ihre furchtlose beste Freundin Daisy es kaum erwarten kann, das Geheimnis um Pickett aufzuklären, macht Aza mit. Sie versucht Mut zu beweisen und überwindet durch Daisy nicht nur kleine Hindernisse, sondern auch große Gegensätze, die sie von anderen Menschen trennen. Für Aza wird es ein großes Abenteuer und eine Reise ins Zentrum ihrer Gedankenspirale, der sie zu entkommen versucht.


Bewertung:

"Du bist ein Wir. Du bist ein Du. Du bist eine Sie, ein Es, Sie Mehrzahl. Ein Königreich für ein Ich."

"Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken" ist wie alle anderen Romane John Greens kein Buch, was man mal eben so weg liest, vom Inhalt, den Charakteren und auch der Sprache nicht. Natürlich war für mich gleich nach der Veröffentlichung klar, dass diese Geschichte früher oder später den Weg zu mir finden wird, auch wenn sie mal wieder auf viel Gegen- wie Rückenwind gestoßen ist.


„Die Leute tun immer so, als gäbe es eine klare Grenze zwischen der Erinnerung und der Fantasie, aber die gibt es nicht, jedenfalls nicht bei mir. Ich erinnere mich an das, was ich mir ausgedacht habe, und denke mir aus, woran ich mich erinnere.“


Das Cover gefällt mir grundsätzlich sehr gut. Zusehen ist eine schwarze Spirale auf blau-weißem Untergrund, welche Azas seelische Unruhe und Gedankenspiralen verkörpern soll. Der orangefarbene Titel fügt sich gut in die Lücken zwischen den dunklen Strichen ein. Im Gegensatz zum englischen Original wirkt es viel zurückhaltender und weniger aufdringlich, mir gefällt die düsterere Ausgabe mit dem dunkelblauen Hintergrund, dem angedeuteten Boot und den winzigen Sternen aber viel besser. Schade, dass sich die Leserschaft bei der Befragung, welches Cover die deutsche Ausgabe zieren soll, für das jetzige entschieden hat und ich auch keines der limitierten Erstausgaben mit dem Wendecover ergattern konnte. Gut gefallen mit hier die zwei kleinen Schildkröten am Rand, welche auf den englischen Titel "Turtles all the way down" anspielen. Das somit wenigstens ein Element des perfekt passenden Titels in der Hanser-Ausgabe erhalten wurde, wenn schon der wunderbare Hintergrund des Titels entkernt wurde, ist ein kleiner Trost. Auch wenn man nach der Lektüre des Buches durchaus nachvollziehen kann, wie der Titel gemeint ist, fehlt ihm einfach die Tiefgründigkeit des Originaltitels. "Schildkröten bis untenhin" hätte auf der anderen Seite aber auch nicht besonders ansprechend geklungen...


Erster Satz: "Als mir zum ersten Mal klar wurde, dass ich vielleicht Fiktion bin, verbrachte ich meine Tage an einer öffentlichen Bildungsanstalt namens White River High im Norden von Indianapolis, wo ich von fremden Kräften, die so übermächtig waren, dass ich sie nicht ansatzweise identifizieren konnte, dazu gezwungen wurde, jeden Tag zu einer bestimmten Uhrzeit Mittag zu essen, nämlich zwischen 12 Uhr 37 und 13 Uhr 14."


(Puh, das ist wohl die Königin aller Schachtelsätze! Wenn sich mein Deutschlehrer bei meiner nächsten Klausur beschwert, meine Sätze seien zu lang, werde ich ihm diesen Beweis hier vorlegen. Wenn John Green das darf - und er wurde mehrfach mit etlichen wichtigen Preisen auf der ganzen Welt ausgezeichnet - beweist das wohl, dass Schachtelsätze keine grundsätzlich schwarze Seele haben, oder nicht?)


"Die Schritte meiner Mutter, waren so leise,
ich hörte sie kaum, als sie ging. (...)
Das Leben reimt sich, aber nie an der Stelle, wo man es erwartet"


Naja, bleiben wir beim Thema.
Im Fokus der Geschichte steht die 16-jährige Aza, die aus der Ich-Perspektive zuerst einmal von ihrem Teenager-Alltag erzählt, welcher sich neben den gewöhnlichen Problemen einer Heranwachsenden wie Schule, Familie und Freunde durch eine Angststörung beherrscht wird. Jeden Tag und jede Minute muss sie gegen ihre inneren Dämonen ankämpfen, um ein halbwegs normales Leben führen zu können. Um sich von ihren immer wiederkehrenden Gedankenspiralen abzulenken stürzt sie sich zusammen mit ihrer besten Freundin Daisy in die Suche nach dem verschollenen Milliardären Russel Pickett, welcher gleichzeitig der Vater ihres Kindheitsfreundes Davis ist. Als sie beginnen nach dem Verschollenen zu suchen, wissen beide noch nicht, wie sehr sich dabei ihre Beziehung und ihr ganzes Leben verändern werden...


„Ich konnte mein Leben lang nicht geradeaus denken oder auch nur einen Gedanken zu Ende denken, weil meine Gedanken keine Linien, sondern ineinander verknotete Schleifen waren, Treibsand, Wurmlöcher, die alles Licht verschluckten“


Ich muss zugeben, die Geschichte startet mit angezogener Handbremse, während Aza von ihrem Alltag erzählt. Nachdem wir Azas Alltag und die Hintergründe ihres Lebens besser kennengelernt haben, scheint die Suche nach Pickett in den Fokus der Geschichte zu rücken. Doch die detektivischen Tätigkeiten der beiden Freundinnen beschränken sich auf minimalistischer Suche im Internat und einem Besuch bei der Familie des Milliardärs. Schon bald wird klar, dass eigentlich Aza als Mensch Haupthandlung ist, und man außer ihren Gedanken, Ängsten und ihrem drohenden Kontrollverlust angesichts ihrer Angststörung nicht besonders viel an Handlung präsentiert bekommt. Das fand ich als Gegenstand der Geschichte unheimlich spannend, hätte das aber trotzdem gerne vorher gewusst: der Klapptext ist in dieser Hinsicht recht irreführend.


"Ich denke: Du wirst nie frei davon sein."
Ich denke: "Du suchst dir deine Gedanken nicht aus.
Ich denke: "Du stirbst, und du hast Keime in dir, die sich am Ende von innen durch deine Haut fressen."
Ich denke und denke und denke."


Wer hier eine abenteuerliche Hinweissuche nach einem verschollenen Milliardär sucht, ist also eindeutig an der falschen Adresse. Doch das bedeutet aber noch lange nicht, dass wir es hier mit einer Geschichte zu tun haben die langweilig ist. Manchmal habe ich das Gefühl dass John Green einfach über erzähltechnischen Elementen wie unvorhersehbaren Wendungen, einer komplexe Story Line mit rotem Faden, einen zum bersten gespannten Spannungsbogen oder schockierender Action steht - all das, was das durchschnittliche Buch spannend und lesenswert macht, scheint er einfach nicht zu brauchen. Oft haben seine Bücher eigentlich nicht besonders viel Handlung, sind aber trotzdem spannender als jeder Krimi. Die ganze Welt fragt sich beim Lesen seiner Bücher: Wie bekommt er das bloß hin? Der Autor weiß einfach mit ganz besonderen Figuren, Lebensweisheiten und einer fantastischen Atmosphäre zu überzeugen und mit leisen Tönen still und heimlich den Leser um den Finger zu wickeln, zu packen und bis zum Schluss nicht mehr loszulassen.
Auch wenn das Buch anders ist als seine vorhergehende Romane, ernster, ruhiger und in sich ruhender daherkommt ist es doch wieder ein echter John Green: berührend, verstörend, authentisch.


„Hast du Angst?“
„Ein bisschen.“
„Wovor?“
„Kann ich nicht sagen. Es gibt kein Wovor. Ich habe einfach Angst.“


Berührend und authentisch, klar, aber warum verstörend? Die Konfrontation mit Azas Angst- und Zwangsstörung hat mich durchaus überrumpelt und sowohl unangenehme Fakten über das menschliche Mikrobiom als auch selbst verletzende Züge wie das zwanghafte Öffnen einer nie ganz verheilenden Wunder an ihrem Mittelfinger können dem Leser schon mal auf den Magen schlagen. Wer will schon wissen, dass der eigene Körper zu 50% aus fremden Organismen besteht oder beim küssen über 80 Millionen Bakterien übertragen werden? Ich nicht, und Aza eigentlich auch nicht, doch ihre Angst lässt sie immer wieder Wikipedia Artikel über solche Fakten lesen. Oder sie zwingt sie dazu, an nichts anderes denken, als an C. difficile, ein Bakterium, das sich in ihrem Körper vermehren und zu einer lebensbedrohlichen Erkrankung führen könnte, während sie eigentlich in der Cafeteria sitzt und versucht, sich ganz normal mit ihren Freunden zu unterhalten.


"Sorgen sind die angemessene Reaktion auf das Leben. Das Leben ist besorgniserregend."


John Green beschreibt sehr intensiv und nachvollziehbar schockierend wie Aza sich immer wieder in ihren eigenen Gedankenspiralen verläuft, unfähig ihrem eigenen Kopf zu entfliehen. Obwohl Azas Reaktionen auf ihre Angst und viele ihrer Handlungen, wie zum Beispiel Desinfektionsmittel zu trinken oder zwanghaft das Pflaster an ihrem Finger zu wechseln, rein rational betrachtet gar keinen Sinn machen und für den Durchschnittsmenschen verrückt und unlogisch erscheinen, schafft der Autor es, dem Leser klarzumachen, warum Aza so handelt, warum sie so handeln muss. Als Leser hab ich mit ihr gelitten und ihr versucht mental Kraft zu schicken, aus ihren Gedankenspiralen auszubrechen. Dass John Green ebenfalls an Störungen aus dem Angst- und Zwangsbereich leidet, wie man in seiner Danksagung nachlesen kann, gibt dem Buch nochmal einen viel ernsteren Beigeschmack.


„Aber was ich mich frage, ist, gibt es überhaupt ein Selbst, unabhängig von den Umständen? [...] Ich entscheide nicht, ob ich schwitze, oder ob ich Krebs oder C. difficile kriege oder so was, also ist es auch nicht wirklich mein Körper. Ich entscheide überhaupt nichts - es wird alles von äußeren Kräften entschieden. Ich bin eine Geschichte, die jemand anderes erzählt. Ich bin eine Verkettung von Umständen.“


Trotz der ernsten Thematik schafft es John Green wie wir es von ihm gewohnt sind, ab und zu durch trockenen Humor, wunderschöne philosophische Sätzen und eine ruhige, leichte Liebesgeschichte, die sich aber hier eher am Rand abspielt, aufzulockern. Im Gegensatz zu seinen anderen Werken schafft er es hier nicht, der Handlung die ganze Schwere zu nehmen, trotzdem ist sein Stil mal wieder wunderschön und etwas anspruchsvoller als sonst in Jugendbüchern. Mit vielen unterschiedlichen Metaphern und Formulierungsweisen versichert er, dass auch wirklich jeder Leser verstehen kann, was er meint und bringt Gefühle und Gedanken seiner Figuren wunderbar direkt und erlebbar auf den Punkt. Feinfühlige Zitate berühmter Personen, die in Auszügen von Davis´ Blog vorkommen, unterstützen die philosophischen Überlegungen der Charaktere, die aber immer so bodenständig und dezent bleiben, dass keine plumpe Belehrungssituationen zu Stande kommen.


"Wenn man lange genug in den Himmel hoch sieht, fängt man an die eigene Winzigkeit zu spüren. Der Unterschied zwischen lebendig oder nicht lebendig - das ist etwas. Aber von den Sternen aus betrachtet, gibt es fast keinen Unterschied zwischen den verschiedenen Arten von lebendig, zwischen mir und dem frisch gemähten Gras, auf dem ich liege. Beide sind wir Unwahrscheinlichkeiten: das, was im Universum einem Wunder am nächsten kommt."



Das Kernstück der Geschichte ist hier aber wie so oft die Vielfalt an skurriler aber liebenswerter Protagonisten. Natürlich handelt die Geschichte in erster Linie von Aza und ihrem Kampf gegen ihre Zwangsstörung, charakterisiert sie als ganz besondere Person und erzählt von ihren Beziehungen zu anderen Personen: ihrer Freundschaft zu Daisy, ihre Beziehung zu Davis, das Verhältnis mit ihrer Mutter, die Liebe zu Harold, ihrem Auto...


"Unsere Herzen waren an der gleichen Stelle gebrochen. Das ist so etwas wie Liebe, aber vielleicht nicht ganz dasselbe."



Das Buch handelt aber auch von Davis, dessen Vater verschwunden ist, der sich furchtbar einsam fühlt und nicht bereit dazu ist, die Verantwortung für seinen kleinen Bruder zu übernehmen. Es handelt von Daisy, Azas bester Freundin, die sich in Starwars Fanfiction vor der Armut ihrer Eltern flüchtet und aus Angst vor der Stille ununterbrochen plappert. Und von Noah, Davis‘ kleinem Bruder, der auf der einen Seite den großen Macker raushängen lässt, sich aber vor allem nach Geborgenheit und Sicherheit sehnt und deshalb nachts weinend zu Davis ins Bett schlüpft, wenn es keiner sieht. Es handelt von Verlust und Ohnmacht, Liebe, Kraft und Hoffnung. Es handelt von realistisch geschriebenen Charakteren, die mit dem Leben kämpfen. Das Problem: "Keiner versteht den anderen, nicht richtig. Wir sind alle in uns selbst gefangen."
Das Ende hat es dann nochmal in sich. Auf der einen Seite hasse ich es, weil es kein wirkliches Happyend ist, auf der anderen Seite muss ich John Green leider zustimmen wenn er durch Aza sagt:


„Das Problem bei Happy Ends ist, dass sie entweder nicht richtig glücklich sind, oder sie sind kein richtiges Ende. Im richtigen Leben werden manche Dinge besser und manche Dinge werden schlechter und irgendwann stirbst Du“


Ja, irgendwann stirbt man dann, und wenn das passiert kann man es nicht ändern, doch man kann dieses Buch gelesen haben, was das zurückgelegte Leben dann um ein winziges bisschen besser macht!

Zum Schluss noch mein Lieblingszitat:

"In die Augen kann man jedem sehen. Aber jemand zu finden, der dieselbe Welt sieht, ist ziemlich selten."


Fazit:

Ein echter John Green: berührend, verstörend, authentisch. Leider ist es schleppender und erdrückender als seine anderen Werke, dennoch voller leisem Tiefgang, wundervollen Charakteren und Mut.

Veröffentlicht am 28.02.2018

Ein echter John Green: berührend, verstörend, authentisch!

Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken
0

Allgemeines:

Titel: Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken
Autor: John Green
Verlag: Carl Hanser Verlag (10. November 2017)
Genre: Roman
ISBN-10: 3446259031
ISBN-13: 978-3446259034
Vom Hersteller empfohlenes ...

Allgemeines:

Titel: Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken
Autor: John Green
Verlag: Carl Hanser Verlag (10. November 2017)
Genre: Roman
ISBN-10: 3446259031
ISBN-13: 978-3446259034
Vom Hersteller empfohlenes Alter: 14 - 17 Jahre
Seitenzahl: 288 Seiten
Originaltitel: Turtles All the Way Down
Preis: 15,99€ (Kindle-Edition)
12€ (gebundene Ausgabe)


Inhalt:

"Das wahre Grauen ist nicht, Angst zu haben; es ist, keine andere Wahl zu haben."

Die 16-jährige Aza Holmes hatte ganz sicher nicht vor, sich an der Suche nach dem verschwundenen Milliardär Russell Pickett zu beteiligen. Sie hat genug mit ihren eigenen Sorgen und Ängsten zu kämpfen, die ihre Gedankenwelt zwanghaft beherrschen. Doch als eine Hunderttausend-Dollar-Belohnung auf dem Spiel steht und ihre furchtlose beste Freundin Daisy es kaum erwarten kann, das Geheimnis um Pickett aufzuklären, macht Aza mit. Sie versucht Mut zu beweisen und überwindet durch Daisy nicht nur kleine Hindernisse, sondern auch große Gegensätze, die sie von anderen Menschen trennen. Für Aza wird es ein großes Abenteuer und eine Reise ins Zentrum ihrer Gedankenspirale, der sie zu entkommen versucht.


Bewertung:

"Du bist ein Wir. Du bist ein Du. Du bist eine Sie, ein Es, Sie Mehrzahl. Ein Königreich für ein Ich."

"Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken" ist wie alle anderen Romane John Greens kein Buch, was man mal eben so weg liest, vom Inhalt, den Charakteren und auch der Sprache nicht. Natürlich war für mich gleich nach der Veröffentlichung klar, dass diese Geschichte früher oder später den Weg zu mir finden wird, auch wenn sie mal wieder auf viel Gegen- wie Rückenwind gestoßen ist.


„Die Leute tun immer so, als gäbe es eine klare Grenze zwischen der Erinnerung und der Fantasie, aber die gibt es nicht, jedenfalls nicht bei mir. Ich erinnere mich an das, was ich mir ausgedacht habe, und denke mir aus, woran ich mich erinnere.“


Das Cover gefällt mir grundsätzlich sehr gut. Zusehen ist eine schwarze Spirale auf blau-weißem Untergrund, welche Azas seelische Unruhe und Gedankenspiralen verkörpern soll. Der orangefarbene Titel fügt sich gut in die Lücken zwischen den dunklen Strichen ein. Im Gegensatz zum englischen Original wirkt es viel zurückhaltender und weniger aufdringlich, mir gefällt die düsterere Ausgabe mit dem dunkelblauen Hintergrund, dem angedeuteten Boot und den winzigen Sternen aber viel besser. Schade, dass sich die Leserschaft bei der Befragung, welches Cover die deutsche Ausgabe zieren soll, für das jetzige entschieden hat und ich auch keines der limitierten Erstausgaben mit dem Wendecover ergattern konnte. Gut gefallen mit hier die zwei kleinen Schildkröten am Rand, welche auf den englischen Titel "Turtles all the way down" anspielen. Das somit wenigstens ein Element des perfekt passenden Titels in der Hanser-Ausgabe erhalten wurde, wenn schon der wunderbare Hintergrund des Titels entkernt wurde, ist ein kleiner Trost. Auch wenn man nach der Lektüre des Buches durchaus nachvollziehen kann, wie der Titel gemeint ist, fehlt ihm einfach die Tiefgründigkeit des Originaltitels. "Schildkröten bis untenhin" hätte auf der anderen Seite aber auch nicht besonders ansprechend geklungen...


Erster Satz: "Als mir zum ersten Mal klar wurde, dass ich vielleicht Fiktion bin, verbrachte ich meine Tage an einer öffentlichen Bildungsanstalt namens White River High im Norden von Indianapolis, wo ich von fremden Kräften, die so übermächtig waren, dass ich sie nicht ansatzweise identifizieren konnte, dazu gezwungen wurde, jeden Tag zu einer bestimmten Uhrzeit Mittag zu essen, nämlich zwischen 12 Uhr 37 und 13 Uhr 14."


(Puh, das ist wohl die Königin aller Schachtelsätze! Wenn sich mein Deutschlehrer bei meiner nächsten Klausur beschwert, meine Sätze seien zu lang, werde ich ihm diesen Beweis hier vorlegen. Wenn John Green das darf - und er wurde mehrfach mit etlichen wichtigen Preisen auf der ganzen Welt ausgezeichnet - beweist das wohl, dass Schachtelsätze keine grundsätzlich schwarze Seele haben, oder nicht?)


"Die Schritte meiner Mutter, waren so leise,
ich hörte sie kaum, als sie ging. (...)
Das Leben reimt sich, aber nie an der Stelle, wo man es erwartet"


Naja, bleiben wir beim Thema.
Im Fokus der Geschichte steht die 16-jährige Aza, die aus der Ich-Perspektive zuerst einmal von ihrem Teenager-Alltag erzählt, welcher sich neben den gewöhnlichen Problemen einer Heranwachsenden wie Schule, Familie und Freunde durch eine Angststörung beherrscht wird. Jeden Tag und jede Minute muss sie gegen ihre inneren Dämonen ankämpfen, um ein halbwegs normales Leben führen zu können. Um sich von ihren immer wiederkehrenden Gedankenspiralen abzulenken stürzt sie sich zusammen mit ihrer besten Freundin Daisy in die Suche nach dem verschollenen Milliardären Russel Pickett, welcher gleichzeitig der Vater ihres Kindheitsfreundes Davis ist. Als sie beginnen nach dem Verschollenen zu suchen, wissen beide noch nicht, wie sehr sich dabei ihre Beziehung und ihr ganzes Leben verändern werden...


„Ich konnte mein Leben lang nicht geradeaus denken oder auch nur einen Gedanken zu Ende denken, weil meine Gedanken keine Linien, sondern ineinander verknotete Schleifen waren, Treibsand, Wurmlöcher, die alles Licht verschluckten“


Ich muss zugeben, die Geschichte startet mit angezogener Handbremse, während Aza von ihrem Alltag erzählt. Nachdem wir Azas Alltag und die Hintergründe ihres Lebens besser kennengelernt haben, scheint die Suche nach Pickett in den Fokus der Geschichte zu rücken. Doch die detektivischen Tätigkeiten der beiden Freundinnen beschränken sich auf minimalistischer Suche im Internat und einem Besuch bei der Familie des Milliardärs. Schon bald wird klar, dass eigentlich Aza als Mensch Haupthandlung ist, und man außer ihren Gedanken, Ängsten und ihrem drohenden Kontrollverlust angesichts ihrer Angststörung nicht besonders viel an Handlung präsentiert bekommt. Das fand ich als Gegenstand der Geschichte unheimlich spannend, hätte das aber trotzdem gerne vorher gewusst: der Klapptext ist in dieser Hinsicht recht irreführend.


"Ich denke: Du wirst nie frei davon sein."
Ich denke: "Du suchst dir deine Gedanken nicht aus.
Ich denke: "Du stirbst, und du hast Keime in dir, die sich am Ende von innen durch deine Haut fressen."
Ich denke und denke und denke."


Wer hier eine abenteuerliche Hinweissuche nach einem verschollenen Milliardär sucht, ist also eindeutig an der falschen Adresse. Doch das bedeutet aber noch lange nicht, dass wir es hier mit einer Geschichte zu tun haben die langweilig ist. Manchmal habe ich das Gefühl dass John Green einfach über erzähltechnischen Elementen wie unvorhersehbaren Wendungen, einer komplexe Story Line mit rotem Faden, einen zum bersten gespannten Spannungsbogen oder schockierender Action steht - all das, was das durchschnittliche Buch spannend und lesenswert macht, scheint er einfach nicht zu brauchen. Oft haben seine Bücher eigentlich nicht besonders viel Handlung, sind aber trotzdem spannender als jeder Krimi. Die ganze Welt fragt sich beim Lesen seiner Bücher: Wie bekommt er das bloß hin? Der Autor weiß einfach mit ganz besonderen Figuren, Lebensweisheiten und einer fantastischen Atmosphäre zu überzeugen und mit leisen Tönen still und heimlich den Leser um den Finger zu wickeln, zu packen und bis zum Schluss nicht mehr loszulassen.
Auch wenn das Buch anders ist als seine vorhergehende Romane, ernster, ruhiger und in sich ruhender daherkommt ist es doch wieder ein echter John Green: berührend, verstörend, authentisch.


„Hast du Angst?“
„Ein bisschen.“
„Wovor?“
„Kann ich nicht sagen. Es gibt kein Wovor. Ich habe einfach Angst.“


Berührend und authentisch, klar, aber warum verstörend? Die Konfrontation mit Azas Angst- und Zwangsstörung hat mich durchaus überrumpelt und sowohl unangenehme Fakten über das menschliche Mikrobiom als auch selbst verletzende Züge wie das zwanghafte Öffnen einer nie ganz verheilenden Wunder an ihrem Mittelfinger können dem Leser schon mal auf den Magen schlagen. Wer will schon wissen, dass der eigene Körper zu 50% aus fremden Organismen besteht oder beim küssen über 80 Millionen Bakterien übertragen werden? Ich nicht, und Aza eigentlich auch nicht, doch ihre Angst lässt sie immer wieder Wikipedia Artikel über solche Fakten lesen. Oder sie zwingt sie dazu, an nichts anderes denken, als an C. difficile, ein Bakterium, das sich in ihrem Körper vermehren und zu einer lebensbedrohlichen Erkrankung führen könnte, während sie eigentlich in der Cafeteria sitzt und versucht, sich ganz normal mit ihren Freunden zu unterhalten.


"Sorgen sind die angemessene Reaktion auf das Leben. Das Leben ist besorgniserregend."


John Green beschreibt sehr intensiv und nachvollziehbar schockierend wie Aza sich immer wieder in ihren eigenen Gedankenspiralen verläuft, unfähig ihrem eigenen Kopf zu entfliehen. Obwohl Azas Reaktionen auf ihre Angst und viele ihrer Handlungen, wie zum Beispiel Desinfektionsmittel zu trinken oder zwanghaft das Pflaster an ihrem Finger zu wechseln, rein rational betrachtet gar keinen Sinn machen und für den Durchschnittsmenschen verrückt und unlogisch erscheinen, schafft der Autor es, dem Leser klarzumachen, warum Aza so handelt, warum sie so handeln muss. Als Leser hab ich mit ihr gelitten und ihr versucht mental Kraft zu schicken, aus ihren Gedankenspiralen auszubrechen. Dass John Green ebenfalls an Störungen aus dem Angst- und Zwangsbereich leidet, wie man in seiner Danksagung nachlesen kann, gibt dem Buch nochmal einen viel ernsteren Beigeschmack.


„Aber was ich mich frage, ist, gibt es überhaupt ein Selbst, unabhängig von den Umständen? [...] Ich entscheide nicht, ob ich schwitze, oder ob ich Krebs oder C. difficile kriege oder so was, also ist es auch nicht wirklich mein Körper. Ich entscheide überhaupt nichts - es wird alles von äußeren Kräften entschieden. Ich bin eine Geschichte, die jemand anderes erzählt. Ich bin eine Verkettung von Umständen.“


Trotz der ernsten Thematik schafft es John Green wie wir es von ihm gewohnt sind, ab und zu durch trockenen Humor, wunderschöne philosophische Sätzen und eine ruhige, leichte Liebesgeschichte, die sich aber hier eher am Rand abspielt, aufzulockern. Im Gegensatz zu seinen anderen Werken schafft er es hier nicht, der Handlung die ganze Schwere zu nehmen, trotzdem ist sein Stil mal wieder wunderschön und etwas anspruchsvoller als sonst in Jugendbüchern. Mit vielen unterschiedlichen Metaphern und Formulierungsweisen versichert er, dass auch wirklich jeder Leser verstehen kann, was er meint und bringt Gefühle und Gedanken seiner Figuren wunderbar direkt und erlebbar auf den Punkt. Feinfühlige Zitate berühmter Personen, die in Auszügen von Davis´ Blog vorkommen, unterstützen die philosophischen Überlegungen der Charaktere, die aber immer so bodenständig und dezent bleiben, dass keine plumpe Belehrungssituationen zu Stande kommen.


"Wenn man lange genug in den Himmel hoch sieht, fängt man an die eigene Winzigkeit zu spüren. Der Unterschied zwischen lebendig oder nicht lebendig - das ist etwas. Aber von den Sternen aus betrachtet, gibt es fast keinen Unterschied zwischen den verschiedenen Arten von lebendig, zwischen mir und dem frisch gemähten Gras, auf dem ich liege. Beide sind wir Unwahrscheinlichkeiten: das, was im Universum einem Wunder am nächsten kommt."



Das Kernstück der Geschichte ist hier aber wie so oft die Vielfalt an skurriler aber liebenswerter Protagonisten. Natürlich handelt die Geschichte in erster Linie von Aza und ihrem Kampf gegen ihre Zwangsstörung, charakterisiert sie als ganz besondere Person und erzählt von ihren Beziehungen zu anderen Personen: ihrer Freundschaft zu Daisy, ihre Beziehung zu Davis, das Verhältnis mit ihrer Mutter, die Liebe zu Harold, ihrem Auto...


"Unsere Herzen waren an der gleichen Stelle gebrochen. Das ist so etwas wie Liebe, aber vielleicht nicht ganz dasselbe."



Das Buch handelt aber auch von Davis, dessen Vater verschwunden ist, der sich furchtbar einsam fühlt und nicht bereit dazu ist, die Verantwortung für seinen kleinen Bruder zu übernehmen. Es handelt von Daisy, Azas bester Freundin, die sich in Starwars Fanfiction vor der Armut ihrer Eltern flüchtet und aus Angst vor der Stille ununterbrochen plappert. Und von Noah, Davis‘ kleinem Bruder, der auf der einen Seite den großen Macker raushängen lässt, sich aber vor allem nach Geborgenheit und Sicherheit sehnt und deshalb nachts weinend zu Davis ins Bett schlüpft, wenn es keiner sieht. Es handelt von Verlust und Ohnmacht, Liebe, Kraft und Hoffnung. Es handelt von realistisch geschriebenen Charakteren, die mit dem Leben kämpfen. Das Problem: "Keiner versteht den anderen, nicht richtig. Wir sind alle in uns selbst gefangen."
Das Ende hat es dann nochmal in sich. Auf der einen Seite hasse ich es, weil es kein wirkliches Happyend ist, auf der anderen Seite muss ich John Green leider zustimmen wenn er durch Aza sagt:


„Das Problem bei Happy Ends ist, dass sie entweder nicht richtig glücklich sind, oder sie sind kein richtiges Ende. Im richtigen Leben werden manche Dinge besser und manche Dinge werden schlechter und irgendwann stirbst Du“


Ja, irgendwann stirbt man dann, und wenn das passiert kann man es nicht ändern, doch man kann dieses Buch gelesen haben, was das zurückgelegte Leben dann um ein winziges bisschen besser macht!

Zum Schluss noch mein Lieblingszitat:

"In die Augen kann man jedem sehen. Aber jemand zu finden, der dieselbe Welt sieht, ist ziemlich selten."


Fazit:

Ein echter John Green: berührend, verstörend, authentisch. Leider ist es schleppender und erdrückender als seine anderen Werke, dennoch voller leisem Tiefgang, wundervollen Charakteren und Mut.