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Veröffentlicht am 20.12.2022

Aufwachsen im Kiez

Für euch
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Die preisgekrönte Journalistin und Juristin Iris Sayram widmet ihren ergreifenden, ungeschönten und authentischen Roman „Für euch“ ihrer Mutter Sonja – aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen im Kölner ...

Die preisgekrönte Journalistin und Juristin Iris Sayram widmet ihren ergreifenden, ungeschönten und authentischen Roman „Für euch“ ihrer Mutter Sonja – aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen im Kölner Kiez und Brennpunkt-Viertel der 1980er-Jahre, opfert sich die Mutter von der Putzfrau bis zur Prostituierten auf, um ihrer Tochter Iris ein besseres Leben zu ermöglichen. Der Vater Mustafa ist türkischer Einwanderer, verliert seine Arbeit bei Ford, ist spielsüchtig und hält sich meist bedeckt im Lösen von Familienproblemen. Eine bewegende, kluge und autobiografische Geschichte zwischen Gesellschafts-, Familien- und Milieuroman mit viel atmosphärischem Kölner Lokalkolorit sowie Dialekt und schonungslos ehrlichen Einblicken in eine Kindheit voller Schamgefühlen abseits der deutschen Wohlstandsgesellschaft.

Zwischen Rotlicht-Amüsements, Kaschemmen und Spielhöllen des Friesenwalls schildert Iris Sayram ihre Kindheit und Jugend voller klarsichtigen, warmherzigen Anekdoten, die mal humorvoll und mal hart-direkt ihr Heranwachsen unter schwierigen sozialen Bedingungen schildern. Die Mutter muss zwischendurch sogar ins Gefängnis und infiziert sich mit HIV – sie nimmt alles in Kauf, um ihre kleine Familie durchzubringen, nachdem sie ihre erste Familie verloren hat.

Die versierte Autorin hat mit „Für euch“ eine bewegende und empfehlenswerte Hommage an ihre Mutter und ungewöhnliche Herkunft geschrieben und öffnet präzise die Augen für andere soziale Blickwinkel – und obwohl ihre Lebensgeschichte in den 80er-, 90er-Jahren angesiedelt ist, bleiben die gesellschaftspolitischen Themen wie Kinderarmut und die dadurch fehlende Bildungsmöglichkeiten bis heute aktuell. Sayram hat sich nach oben gekämpft, ihr Abitur gemacht und erfolgreich studiert – mit der Kraft ihrer außergewöhnlichen Eltern und einem immensen inneren Willen. Ihr damaliges Schamgefühl lässt die Autorin nun hinter sich und wandelt es in ein sehr lesenswertes und unterhaltsames Denkmal für ihre Mutter, das auf ihrer ergreifenden Beerdigungsrede basiert.

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Veröffentlicht am 01.12.2022

Träume vom Ausbrechen

Connemara
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Der gefeierte französische Autor und Goncourt-Preisträger Nicolas Mathieu nimmt in seinem neuen Roman, der auf einen Chanson-Party-Hit von Michel Sardou anspielt, seine Generation der Vierzigjährigen in ...

Der gefeierte französische Autor und Goncourt-Preisträger Nicolas Mathieu nimmt in seinem neuen Roman, der auf einen Chanson-Party-Hit von Michel Sardou anspielt, seine Generation der Vierzigjährigen in der Provinz von Lothringen en détail unter die Lupe. Dabei hat er eine präzise Beobachtungsgabe und erschafft eine dichte Atmosphäre voller Gefühle, Träume, Versäumnissen und Sehnsüchten.

Im Mittelpunkt steht die zweifache Mutter Hélène, die in der von Männern dominierten Consulting-Branche Karriere machen möchte und trotz Klassenaufstieg innerlich mit Unsicherheiten und einer stetigen Zerrissenheit zu kämpfen hat – nach einem schweren Burnout ist sie weg aus der Metropole Paris, zurück in ihre Heimat in der Provinz von Nancy. Der Alltag mit zwei Töchtern und einer eingefahrenen Ehe locken sie in eine Affäre mit ihrem Jugendschwarm Christophe, der die Kleinstadt Cornécourt nie verlassen hat und in Trennung lebt. Doch auch das geht trotz leidenschaftlichen Nächten nicht gut und mit viel Schwermut, Melancholie und Einfühlungsvermögen zieht Nicolas Mathieu den Leser tief in seine in Rückblenden und tiefsinnig erzählte Milieustudie hinein. Detaillierte und anschauliche Beschreibungen treffen auf emotionale sowie politische Stimmungen und genaue Umgebungsbeschreibungen – jeder Charakter ist tief und fein geschliffen, hat mit anderen Generationen, Klassen, Familienstrukturen und negativen Emotionen zu kämpfen und kann seine provinzielle Herkunft trotz teilweise gelungenen Aufstieg nicht leugnen. Alle träumen von einem besseren Leben, vom Ausbrechen aus festgefahrenen Wegen.

Trotz ein paar pathetischen Längen in der erzählerischen Ausführlichkeit ist Nicolas Mathieu mit „Connemara“ ein tiefgründiges Gesellschaftspanorama gelungen, die nicht nur von geplatzten Träumen und Lieben in der Provinz erzählt, sondern auch soziale und politische Aspekte bis in die 1980er-Jahre verwebt. Dabei sieht der Leser besonders tief in die Lebensläufe und Gefühlswelten von Hélène und Christophe, aber auch in gesellschaftliche Entwicklungen eines ganzen Landes.

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Veröffentlicht am 25.11.2022

Chance des Bedauerns

Die Kraft der Reue
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Der amerikanische Bestseller-Autor Daniel H. Pink hat sich in seinem neuen Sachbuch versiert, spannend und umfassend einer unangenehmen, sehr starken Emotion angenommen, in der viel Kraft stecken kann, ...

Der amerikanische Bestseller-Autor Daniel H. Pink hat sich in seinem neuen Sachbuch versiert, spannend und umfassend einer unangenehmen, sehr starken Emotion angenommen, in der viel Kraft stecken kann, wenn man sie zulässt und transformiert – die Reue.

In einer Mischung aus fundierter Wissenschaft mit einer groß angelegten Studie aus dem Jahre 2020, weltweiten Ergebnissen seiner großen Bedauern-Website sowie zahlreichen Praxisgeschichten von bekannten und unbekannten Menschen fächert Daniel Pink eine Emotion auf, die viele lieber nach dem Motto „Bloß nichts bereuen“ verdrängen, bis sie vielleicht irgendwann doch schweißgebadet mit Albträumen aufwachen.

Hier ist es an der Zeit, der Reue mutig tiefer in die Augen zu sehen und aus ihr zu lernen – wie das am besten funktioniert, erläutert Pink mit vielen anschaulichen Anekdoten und psychologischem Hintergrundwissen, bestens unterteilt in übersichtlichen Kapiteln und einer flüssig verfassten und leicht verständlichen Sprache. Denn Bedauern ist nicht gefährlich oder abseits der Norm, sie kann sehr gesund sein und gehört zum natürlichen Menschsein dazu. Gerade in einer so unsicheren Zeit wie heute mit Pandemie, Umweltkrisen und Kriegen zeigt Daniel Pink auf, wie der akzeptierende Blick in die Vergangenheit auf Reue und Bedauern ein Weg voller Stärke in die Zukunft weisen kann. Denn nicht selten äußert sich diese starke Emotion auch als körperlicher Schmerz.

Pink unterteilt die Reue in „vier Kernbedauern“, unter denen die Verbindungsreue und Karriere-Reue dominieren – mit bewegenden Beispielen schildert der Autor hier Fälle, in denen Freunde, Angehörige oder Liebespartner weggedriftet sind und wie Betroffene mit diesem Schmerz und getroffenen Entscheidungen mit Selbstmitgefühl und ohne endlose, quälende Grübelei umgehen können.

Unterhaltsam, informativ und lehrreich für alle, die sich gerne mit Psychologie und Lebensweisheit beschäftigen, liefert Pink nicht nur einen tiefen Blick in die menschliche Seele, sondern auch einen eindringlichen Ratgeber voller gesammelten Ergebnisse seiner Studie mit vielen wichtigen Anregungen für das eigene erfüllte Leben. Ein faszinierender Einblick in die verschlungenen Wege der Reue!

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Veröffentlicht am 26.10.2022

Komplexe Familien-Traumata

Meine bessere Schwester
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In „Meine bessere Schwester“ seziert die Autorin Rebecca Wait scharfsinnig und mit subtilen Humor die komplexen Dynamiken einer Familie, die unter toxischen Verstrickungen und generationsübergreifenden ...

In „Meine bessere Schwester“ seziert die Autorin Rebecca Wait scharfsinnig und mit subtilen Humor die komplexen Dynamiken einer Familie, die unter toxischen Verstrickungen und generationsübergreifenden Traumata leidet. Dabei kommen facettenreich alle Familienmitglieder Stück für Stück zu Wort und ihre seelischen Verletzungen werden detailliert sowie mit Rückblicken untersucht.

Alice und Hanna sind Zwillingsschwestern, aber alles andere als unzertrennlich und sehr unterschiedlich – seit Jahren sprechen sie nicht mehr miteinander und treffen erstmals wieder bei der Beerdigung ihrer an Schizophrenie erkrankten Tante Katy aufeinander. Auch der Kontakt zu Mutter Celia und Bruder Michael ist für Hanna abgerissen und während Rebecca Wait feinfühlig die Lebenswege der Protagonisten nachzeichnet, wird diese Spaltung und mögliche Familienzusammenführung der berührend-humorvolle Plot der Geschichte ausmachen.

„Es tut mir leid, dass du dich so fühlst“ lautet der englische Originaltitel dieser flüssig und klug geschriebenen Tragikomödie und dieser macht deutlich, worauf es hinausläuft: Die Familie lernt, sich langsam zu öffnen und ihre Finger in die schmerzenden Wunden zu legen. Mutter Celia hat selbst an der psychischen Erkrankung ihrer Schwester und der Vernachlässigung durch ihre Eltern gelitten, gibt aber ihre alte Verletzungen in Form von emotionalen Erpressungen und Zwanghaftigkeit an ihre Kinder weiter – nicht jedes wird gleich geliebt und schnell verurteilt; der Ehemann und Vater verlässt die Familie. Und so entwickeln sich die Geschwister in diesem familiären Geflecht sehr unterschiedlich: Während Hanna selbstbewusst ist, ist für die schüchterne Alice das Leben eher von Hindernissen und Einsamkeit geprägt. Sie klammert auch noch später ungesund an der narzisstischen Mutter, will ihr alles Recht machen und hat Angst vor dem Scheitern – was ihr Leben zum Stillstand gebracht hat.

Die klar und scharf beobachtete Familienaufstellung spickt Rebecca Wait noch mit lustigen Alltagsbeobachtungen, was die ernsten Themen auflockert und ein authentisch-rundes Gesamtbild ergibt. Jeden ihrer Protagonisten zeichnet Wait dicht und mit viel Liebe zum Detail – der Leser fiebert empathisch mit Hanna, Alice und ihrem weiteren möglichen Lebensweg mit. Eine außergewöhnliche, pfiffige und lebensnahe Geschichte über dysfunktionale Familienstrukturen mit Tiefgang und Witz!

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Veröffentlicht am 18.10.2022

Nostalgischer Kriminalfall

Die rätselhaften Honjin-Morde
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Seishi Yokomizo war einer der berühmtesten Kriminalroman-Autoren Japans – mit „Die rätselhaften Honjin-Morde“ erscheint nun in der präzisen und gelungenen Übersetzung von Ursula Gräfe der erste Band der ...

Seishi Yokomizo war einer der berühmtesten Kriminalroman-Autoren Japans – mit „Die rätselhaften Honjin-Morde“ erscheint nun in der präzisen und gelungenen Übersetzung von Ursula Gräfe der erste Band der Kindaichi-Reihe endlich auf Deutsch.

Im Jahre 1937 heiratet der älteste Sohn Kenzo der angesehenen, wohlhabenden Ichiyanagi-Familie im japanischen Ort Okamura seine Verlobte Katsuko auf dem herrschaftlichen Anwesen. Doch nach der traditionellen Zeremonie und Feier dann der große Schrecken in der Nacht: Nach auffälligen Geräuschen sowie Koto-Melodien im abgeschlossenen Raum des frisch vermählten Paares finden Angehörige das Ehepaar mit Stichwunden ermordet darin auf. Wie kann das nur möglich sein? Im Schnee befinden sich keine Spuren, doch mittendrin steckt die Tatwaffe, ein blutverschmiertes Schwert. Und Tage zuvor hat sich schon ein ominöser Landstreicher mit nur drei Fingern und einer Maske im Dorf herumgeschlichen und sich nach dem Anwesen erkundigt. Doch auch die Angehörigen der Familie Ichiyanagi halten zwar ihr Honjin-Erbe hoch, verhalten sich aber sehr seltsam und sind von exzentrischen Charakteren gekennzeichnet. Ein pfiffiger und klassischer Kriminalfall mit einem spannenden Locked-Room-Mysterium nimmt seinen wendungsreichen Lauf.

Erzählt wird aus der humorvoll-detaillierten Perspektive eines Krimiautors, der den Fall nochmal als wahre Geschichte nacherzählt und dabei auch gerne den Leser direkt bei seinen Gedankengängen anspricht. Den verzwickten Fall auflösen soll zuerst Kommissar Isokawa, der aber vor einem Rätsel steht und bald scharfsinnig-kluge Unterstützung von dem unkonventionellen, jungen Privatdetektiv Kosuke Kindaichi erhält – dieser hat einen außergewöhnlichen Lebenslauf mit Drogenvergangenheit und fehlender Ausbildung, was seinem sehr schlauen Ermittler-Geist aber wenig schadet. Mit stürmischer Vogelnest-Frisur und einem sympathischen Stottern stochert er in jeder Kleinigkeit, kombiniert blitzschnell seine Geistesblitze und löst die vertrackten Honjin-Morde.

Bereits 1973 in Japan erschienen, sind dort dem ersten Band 76 weitere erfolgreiche Folgen rund um den verschroben-blitzgescheiten Privatdetektiv Kosuke Kindaichi erschienen. Eingebettet in viel nostalgischem Lokalkolorit, strengen japanischen Traditionen und szenischer Atmosphäre zu dieser Zeit, taucht der Leser tief in eine Zeitreise und lernt etwas über die japanische Kultur hinzu. Der trickreiche Krimi lädt zum Miträtseln ein und wartet mit einer zwar leicht unrealistisch-überkonstruierten, aber sehr klaren Auflösung. Ein Personenregister und Glossar am Ende des Buches helfen, sich bei den vielen Namen und japanischen Begriffen zurecht zu finden. Zudem hat der Rätsel-Krimi trotz seines älteren Erscheinungsjahres einen modern-frechen Ton und spielt auch mit der Reflexion über das Krimigenre an sich. Ein solider Klassiker mit raffinierter Handlung, gut gezeichneten Charakteren und japanischen Traditionen.

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