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Veröffentlicht am 08.02.2022

Fiktion einer Verwirrung

Das Vorkommnis
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Julia Schoch beginnt mit „Das Vorkommnis“ einen herausragenden und sehr klug komponierten Auftakt der Trilogie „Biografie einer Frau“, in der die autofiktionale Ich-Erzählerin und Autorin anhand einem ...

Julia Schoch beginnt mit „Das Vorkommnis“ einen herausragenden und sehr klug komponierten Auftakt der Trilogie „Biografie einer Frau“, in der die autofiktionale Ich-Erzählerin und Autorin anhand einem verwirrenden Vorkommnis tief in ihre Erinnerungen, Wahrheiten und das zarte Geflecht ihrer Familie eintaucht.

Bei einer Lesung kommt eine Frau auf sie zu und gibt zu verstehen, dass sie ihre Halbschwester ist – sie haben den gleichen Vater! Ein Familiengeheimnis, das eigentlich keins ist, denn schon lange ist das Dasein der zur Adoption freigegebenen Schattenschwester bekannt, aber das persönliche Treffen bringt die Autorin in einen Strudel der allgemeinen und tiefen Verwirrung, den sie gedanklich zu ordnen versucht. Assoziativ, philosophisch und intim geht sie auf Spurensuche in ihren zerbrechlichen Erinnerungen und bringt die vorbestimmte Geometrie einer Familie in ihren Gedanken erheblich zum Wanken. Wer sind ihre Eltern und ihre 'richtige' Schwester? Ist ihr Ehemann derjenige, den er vorgibt oder eine Täuschung? Was macht eine Ehe und eine Mutterschaft aus und kann man die Erinnerungen und Familiengeschichte umschreiben?

Achronologisch verwebt Julia Schoch hierbei Ereignisse aus der Gegenwart der Autorin wie ihr Auslandaufenthalt in den USA, wo sie an einer Universität Vorlesungen zum Deutsch-deutschen Literaturstreit hält, mit Reflexionen zu ihrer Vergangenheit. Sie sinniert und entwirft neue Gedankenkonstrukte zu ihren Eltern, dem Aufwachsen in einem Provinzort der DDR sowie dem Da-Sein als Mutter und Ehefrau. Und sie geht noch weiter – gehemmt durch eine Schreibblockade taucht sie immer tiefer ein in das, was wir unsere feste Vergangenheit nennen und wie sie anhand des Schreibens eventuell umgeformt werden kann. Währenddessen liegt ihr Vater in Deutschland im Sterben, die Mutter kümmert sich um die kleinen Kinder in den USA, der Mann kommt zu Besuch und argwöhnisch sucht die Erzählerin ihm auf die Schliche zu kommen – könnte auch er anderswo Kinder gezeugt haben? Warum hat eine Familie diese festen Strukturen und unsichtbaren Geflechte?

Vielschichtig, mit einer sprachlichen Stilsicherheit und klaren Poesie sowie sehr präzis-dichten Gedankengängen entführt Schoch den Leser in sein eigenes Lebenskonstrukt, in seine privaten Vorkommnisse und Katastrophen und stellt philosophische Fragen, ohne jemals pathetisch-rührselig zu wirken oder den Ball zur Geschichte zu verlieren. Subtil und virtuos spinnt sie einen literarisch brillanten Faden, der in die gedanklichen Geäste und Rückblicke der Erzählerin führt, in ihre Lebenslinien zwischen Wahrheit und Verwirrung und am Ende ein kluges Bild über gesellschaftliche Zusammenhänge präsentiert.

„Mir scheint, ich bin nach all den Jahren einer Erklärung auf der Spur, einem Zusammenhang zwischen Dingen, die auf den ersten Blick nicht miteinander verbindet. Dieser Zusammenhang lässt sich nicht logisch begründen. Ich versuche, ihn schreibend herzustellen. Schreiben bedeutet, Einzelteile aufeinander zufliegen zu lassen, damit sie sich zusammenschieben und in der richtigen Weise überlagern, wie bei einem 3D-Puzzle, das plötzlich einen Körper im Raum gibt.“ S. 90

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Veröffentlicht am 21.01.2022

Weitverzweigte Rettung

Erschütterung
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Pulitzer Prize-Finalist Percival Everett erkundet in seinem bewegenden Roman „Erschütterung“ in vielschichtigen Ebenen und mit spielerischer Erzählfreude die Trauerbewältigung eines Mannes um seine todkranke ...

Pulitzer Prize-Finalist Percival Everett erkundet in seinem bewegenden Roman „Erschütterung“ in vielschichtigen Ebenen und mit spielerischer Erzählfreude die Trauerbewältigung eines Mannes um seine todkranke Tochter. Ich-Erzähler ist der melancholische und eher träge Geologe-Paläobiologe Zach Wells – mit der Erforschung von Höhlen im Grand Canyon kennt er sich bestens aus, doch Emotionen meidet er und seine Ehe zu Meg ist mehr eingefroren als lebendig. Seine Liebe und Aufmerksamkeit gilt Tochter Sarah, mit der er gerne lacht, denkt und Schach spielt. Als sie bei einem Schachzug nicht reagiert, beginnt sich langsam eine Tragödie über die Familie zu legen: Sarah leidet an einer tödlichen, degenerativen Erkrankung, der Batten-Krankheit – Aussetzer, Krampfanfälle und ein schleichender Tod.

Hilflosigkeit macht sich breit und Zach sucht Schmerzlinderung und kleine Ausflüchte in sein weit verzweigtes, logisches Denken und Analysieren sowie in assoziative Tagträume und philosophisch-geologische Ausführungen, die ihn immer mehr in ein dunkles Loch ziehen. Aber auch in Unternehmungen außer Haus versucht er Trost und Halt aus dem quälenden Schmerz. Zach kann zwar seine Tochter nicht retten, sucht aber andere außergewöhnliche Wege, um sich selbst und andere zu retten. In seiner Second-Hand-Jacke findet er einen mysteriösen Zettel mit dem Hilferuf „Ayúdame“ – er wird diesem in die Wüste von New Mexico folgen, um krimihaft einer Gruppe zwangsverarbeiteter Frauen zu helfen. Realität, Tagtraum und Fiktion beginnen sich immer mehr zu vermischen und mit Gedanken zu verschachteln – die lange Wanderung und das berührende Ende in New Mexico war Everett in der Originalfassung sogar drei Versionen wert, die im Handel zu kaufen sind.

Percival Everett gelingt es in „Erschütterung“ mit einer herausragend schönen Prosa, existentielle Themen wie Trauer und Tod nicht in einen rührseligen Plot zu verpacken, sondern mit intellektuell-lakonischen Gedankenspiralen und weiteren teils abstrakten Assoziationen von Zach einen ebenso rätselhaften wie intim-packenden Trip in die verzweifelte, menschliche Psyche zu kreieren, der sich tief einprägt und facettenreich interpretiert sowie rezipiert werden kann. Ein außergewöhnlicher, philosophischer und tiefgreifender Roman über Ohnmacht, Schmerz, Trauer und dem Weitermachen sowie den vielen weitverzweigten Gabelungen, Entscheidungen und Wegen, die sie unkontrollierbar in sich bergen.

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Veröffentlicht am 08.12.2021

Zerbrochene Tulpen und Ehen

Oh, William!
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Auch in ihrem neuen Roman „Oh William“ beweist die preisgekrönte Autorin Elizabeth Strout ein feinfühliges, bewegendes und lebenskluges Fingerspitzengefühl für menschliche Emotionen und quälende Geister ...

Auch in ihrem neuen Roman „Oh William“ beweist die preisgekrönte Autorin Elizabeth Strout ein feinfühliges, bewegendes und lebenskluges Fingerspitzengefühl für menschliche Emotionen und quälende Geister der Vergangenheit – als Protagonistin taucht die alte Bekannte Lucy Barton auf.
Die Schriftstellerin Lucy Barton war lange mit William verheiratet, zusammen haben sie zwei Töchter großgezogen – William hatte Affären und Lucy hat sich getrennt, doch eine innige und ehrliche Freundschaft ist geblieben. Danach war Lucy mit dem Musiker David verheiratet, eine harmonische Beziehung, bei der beide aus eher traurigen, abgeschiedenen Kindheiten stammten – doch David ist an Krebs gestorben. Nun steht William vor Veränderungen: seine jüngere dritte Ehefrau hat sich getrennt und über ein Ahnungsforschungsportal hat er eine bis dato unbekannte Halbschwester entdeckt. Auch plagen ihn Albträume über Konzentrationslager – sein Vater war deutscher Soldat. Immer wenn sich im Leben der beiden etwas Existenzielles ereignet, stehen sie sich in Krisenzeiten zur Seite und so wird Lucy William nach Maine in seine Vergangenheitsbewältigung begleiten, während sie selbst immer wieder gedanklich zurückblickt in die Stufen und Treppen ihres Lebens, ihrer schwierigen, bitterarmen Kindheit und tief in ihre Ängste, Unsicherheiten und Einsamkeit, ihrem Gefühl, trotz schriftstellerischer Erfolge unsichtbar zu sein. Was bewegt uns im Inneren, was sagt unsere Herkunft über uns aus und was versuchen wir zu verbergen?

„Oh William“ ist dabei ein Seufzer von Lucy, wenn sie ihren langen Lebensbegleiter beobachtet und über seine Eigenarten sinniert, aber es ist auch ein emotionaler Ausdruck über schmerzhafte Selbsterkenntnisse und vermeintliche Wahrheiten. Elizabeth Strout lässt Lucy assoziativ und in persönlichem Plauderton in Erinnerungen schwelgen und wichtige Stationen berührend und tiefsinnig resümieren, ohne dass es kitschig oder rührselig wird.

Es ist ein unheimlich sensibler, weiser und komplexer Roman über emotionale Wellen von Panik und Verlassenheit, über Traumata in der Kindheit, die weitergegeben wurden, über Familienangehörige, die nicht das waren, was sie vorgegeben haben und eine seelentiefe Geschichte über die Liebe, den Verlust und die Wiederannäherung. Strout geht dabei sehr klar und präzise im Schreibstil vor und verwebt alltägliche Beobachtungen mit zutiefst Menschlichem und kleinen Lebenslügen – das Erzählte trifft unheimlich psychologisch scharf die menschliche Suche nach Glück und Sinn, entlarvt geschickt Makel, aber auch den Wunsch nach Nähe und Zugehörigkeit.

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Veröffentlicht am 09.09.2021

Die Honigwabe-Doppelhelix

Der perfekte Kreis
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Die beiden unkonventionellen Freunde Calvert und Redbone erschaffen in Südengland im Jahre 1989 ein hoffnungsstiftendes Narrativ der anderen Art: Ihre geheime Lebensmission ist es, wunderschöne und mystische ...

Die beiden unkonventionellen Freunde Calvert und Redbone erschaffen in Südengland im Jahre 1989 ein hoffnungsstiftendes Narrativ der anderen Art: Ihre geheime Lebensmission ist es, wunderschöne und mystische Kornkreise in den weiten Getreidefelder zu kreieren, angetrieben nach Perfektion und dem Willen, immer detailreichere und präzisere Muster zu schaffen. Ihr Meiserwerk soll der Kreis „Die Honigwabe-Doppelhelix“ werden. Immer in der Nacht machen sich die beiden unterschiedlichen und idealistischen Freunde an ihre aufsehenerregenden Kunstwerke, philosophieren tiefsinnig über facettenreiche Themen, betrachten den Mond und schenken sich auch ohne große Worte über die traumatische Vergangenheit tiefe Zuversicht und Verbundenheit. Ihr Ziel ist es, mit den Kreisen Hoffnung und Glaube an die Menschheit zu verbreiten, aber auch die Leidenschaft, die Schönheit der Natur zu sehen und zu schützen.

„Sie sind Teil einer wortlosen Erzählung, die über Sprachbarrieren hinausgeht und für manche zur Metapher wird, für andere zum Mythos und für fast alle außer uns zum Mysterium. Sie erzählen eine sonderbare Geschichte, schaffen ein Narrativ. Vor allen sind sie etwas, woran man in zynischen Zeiten glauben kann.“ S. 183

Nachts begegnen sie vielfältigen Menschen und Situationen - Umweltverschmutzer, Haudegen und anderen Charakteren. Und so langsam rollt auch das mediale Interesse an den mystischen und wunderschönen Kornkreisen auf - Zeitungen berichten weltweit über die Zeichen, sprechen von paranormalen Urhebern und Außerirdischen, während die Menschheit begeistert ist.

Benjamin Myers hat mit „Der perfekte Kreis“ eine poetische, ruhig erzählte und philosophische Parabel auf die Menschheit und die Schönheit der Umwelt geschaffen - mit präzisen, spirituellen und bildgewaltigen Beschreibungen von Natur, Gestirnen aber auch der Gesellschaft. Die Kapitel sind mit kreativen Musterbezeichnungen der Kreise betitelt, Myers versteht es außerdem, eine feinfühlige Spannung aufzubauen - eine mysteriöse Atmosphäre umweht den Roman und einige Zeitungsartikel wurden miteingewoben. Es ist eine zeitlose, universelle und kluge Geschichte, die frei von egozentriertem Handeln ist und sich einer tiefsinnigeren, existenziellen Bedeutung widmet.

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Veröffentlicht am 02.09.2021

Zeiten und Menschen im Wandel

Kairos
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Eine Frau blickt mit Mitte 50 auf ihr jugendliches Ich zurück, als sie mit jungen 19 Jahren mit einem Mann zusammen war, der damals so alt war, wie sie heute: Die angehende Bühnenbildnerin Katharina trifft ...

Eine Frau blickt mit Mitte 50 auf ihr jugendliches Ich zurück, als sie mit jungen 19 Jahren mit einem Mann zusammen war, der damals so alt war, wie sie heute: Die angehende Bühnenbildnerin Katharina trifft Ende der 1980er-Jahre in Ostberlin auf den charismatischen, narzisstischen und über 30 Jahre älteren Schriftsteller Hans und die beiden erleben eine Amour Fou, während die DDR und ihr System zu bröckeln beginnt. Jenny Erpenbeck erzählt in ihrem neuen Roman „Kairos“ (aus dem Griechischen „der richtige Moment, der richtige Zeitpunkt“) von einer leidenschaftlichen, aber auch ungesund manipulativen und gewaltvollen Liebe, deckt psychologisch nuanciert und bewegend Seelenwelten auf und blickt in der Außenschau präzise auf die untergehende DDR mit ihrem Alltag, Konstrukten und nicht zuletzt dem Stasi-Apparat. Wichtige deutsch-deutsche Geschichte spiegelt sich in der Anziehung der Zwei raffiniert und metaphorisch wider.

Dabei lässt Erpenbeck mit einer klaren, szenischen und großartigen Prosa zwei Zeiten ineinanderlaufen: die heutige Katharina in der Gegenwart, die in Kartons voller Erinnerungen der Zeit zwischen 1986 und 1992 wühlt und ihr Bild von damals neu zusammensetzt: Erlebnisse mit Hans, die Einführung in die Kunst- und Schriftstellerwelt, aber auch Anschuldigungen, Zwänge und Unterwerfung in der Beziehung zum herrischen Hans, der selbst noch Frau, Geliebte und Kinder hatte, aber bei Katharina keine Zuneigung zu anderen Männern duldete. Auf der einen Seite ist Hans ein reifer Mentor, auf der anderen ein harscher Ankläger und demütigender Liebhaber, der süchtig nach Katharinas Unbefangenheit ist. Schicht für Schicht legt Katharina ihre Erinnerungen der Beziehung voller Schuldzuweisungen und Verstrickungen frei, die eng in Einklang mit Orten und Begebenheiten von Ost-Berlin stehen - so setzt Erpenbeck ein kongeniales Bild deutsch-deutscher Geschichte und eine Kartografie von Ost-Berlin und seinen Menschen und Künstlern zusammen.

Ein intensiver, eindringlicher und spannend komponierter Roman, der sich langsam und detailliert aufbaut, bevor am Ende alles zusammenbricht - die Augenblicke und Möglichkeiten stehen im Wandel der Zeit, der anfängliche Zauber der Verliebtheit, der Kairos-Moment, weicht. Katharina und Hans kommen aus unterschiedlichen Generationen und blicken sehr verschieden auf den Umbruch - und mit der Wende kehrt eine neue Verlorenheit ein.

„Alles zerfällt jetzt. Einiges ist kollabiert, einiges zerschlagen, anderes im Aufbruch. Hans erinnert sich an einen Blick durch Ingrids Mikroskop: erhitzte Moleküle in einer Versuchsanordnung, manche rasen, manche schweben, manche taumeln. Die Frage ist nur, sagt Ingrid, welche Form das Ganze annehmen wird, wenn es sich wieder zurückverwandelt in Feststoff.“

Eine faszinierende und sprachlich hochwertig mit vielen pointierten Metaphern erzählte Geschichte, die Erpenbeck sowohl emotional als auch zeithistorisch bewegend einfängt - mit klugen Reflexionen zur Zeit, Kultur, Mythologie und Dramatik, da einige Charaktere aus einem bekannten und intellektuell interessanten Ostberliner Kulturmilieu mit eigenen Chiffren stammen.

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