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Veröffentlicht am 29.03.2019

Die Schönheit der Gefühle

Die Schönheit der Nacht
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"Die Schönheit der Nacht" von Nina George hat mir sehr gut gefallen.
Claire ist erfolgreiche Verhaltensbiologie-Professorin in Paris, Mutter, Ehefrau. Julie eine Angestellte in einem Hotel, indem Claire ...

"Die Schönheit der Nacht" von Nina George hat mir sehr gut gefallen.
Claire ist erfolgreiche Verhaltensbiologie-Professorin in Paris, Mutter, Ehefrau. Julie eine Angestellte in einem Hotel, indem Claire sich mit einem Fremden trifft, um von ihm gesehen zu werden, um Leidenschaft zu spüren, um sich nicht verloren zu fühlen, um als Frau zu fühlen, nicht als Mutter, Ehefrau oder kalküle Biologie-Professorin. Als Claire das Hotel verlässt, um in ihren Alltag zurückzukehren, begegnet sie der jungen Frau. Diese offenbarte in einem unbeobachteten Moment, dass sie eine leidenschaftliche Sängerin ist, dies jedoch vor der Welt versteckt. Und wie der Zufall es will, ist Julie außerdem die neue Freundin ihres Sohnes, wie sich im späteren Verlauf der Geschichte herausstellt.

Beide Frauen wahren das Geheimnis der anderen, fühlen eine Verbindung zueinander, die sie jedoch anfangs unwirklich, beschämend, unverständlich finden.
Als jedoch ein Umstand zum anderen kommt und letztendlich Claire, ihr Mann Gilles, ihr Sohn Nicolas und Julie gemeinsam in die Bretagne fahren, um dort den Sommer zu verbringen, gibt es Momente, in denen die beiden Frauen ihre gemeinsame Verbindung zueinander ergründen, ihre individuellen Gefühle reflektieren und beginnen, ihr Leben zu überdenken...

Nina George hat ein außerordentlich zartes Feingespür für sinnliche Momente. Sie beschreibt Farben, Formen, Momente, Umgebungen und Gefühle auf eine solche emotional eingefärbte Weise, das ich mich beim Lesen jedes Mal wieder in den grade beschriebenen Ort oder Moment verliebt habe. Emotional geballte Gedankenkraft durchfließen diesen Roman, über das Leben, Lieben und Entscheiden von zwei Frauen. Die Frau, die wird und die Frau, die geworden ist. Aus der Sichtweise von Julie und Claire erscheint das Leben bzw. der umschriebene Moment unterschiedlich eingefärbt. Während sich Julie nach Höhepunkten, emotional aufgeladenen Momenten, Action, Spaß, Freude und den leidenschaftlichsten Rauscherfahrungen in ihrem jungen Leben sehnt, nach einem Feuer, dass in ihr entbrannt wird, erkennt Claire sich in ihr wieder. Von einem unbändigen Drang getrieben, Julie zu zeigen, dass eine Frau wie sie, Claire, für Mann, Sohn und Beruf Verantwortung übernimmt, möglicherweise eigene Bedürfnisse aus Liebe zurückstellt, kommt es zu Augenblicken mit wenigen Worten, in denen so viel mehr steckt, als das Gesagte und optisch beschriebene. In denen Claire erkennt, dass sie mehr vom Leben möchte, dass sie Wegweiser sein möchte, dass auch sie den Rausch des Lebens nach Freude, purer Schaffensfreude und Hingabe ersehnt. Nina George schafft es, dass die Gefühle die Handlung des Romans erzählen, Stück für Stück mehr von den Hauptfiguren offenbaren und sich in eine sinnlichen Spannungsbogen zu einem Fazit ausweiten.

Ein Höhepunkt der Geschichte beschreibt einen Moment, in dem die Schönheit der Nacht einen Tunnel öffnet, in dem die beiden Frauen sich näher kommen und einander erkennen, wie sie sind und fühlen...
Um eins klar zu stellen. Claire ist nicht einfach eine Fremdgeherin. Viele Motive und Gründe führten sie zu den Glauben, sich diesbezüglich auszuleben. Wie das Beobachten von Affären ihres Mannes, dessen Handlungen sie auf die ein oder andere Weise verstehen kann. Da sie nicht nur als Verhaltensbiologin ein ausgezeichnetes Verständnis für das Lesen von Menschen mitbringt, sondern auch als Frau starke empathische Fähigkeiten besitzt. Und Julie trägt Ängste in sich, die sie in eine Richtung treiben, in der sie womöglich ihre eigenen Bedürfnisse unterdrückt. Das Singen scheint ihr wichtig zu sein. Dennoch ließ die Angst bisher nicht zu es auszuleben und es für die Zukunft relevant zu machen.

Anfangs hatte ich die Befürchtung, das ich diese Rezension unmöglich dem Buch gerecht werdend schreiben könnte. Da mich beim Lesen eine Welle von so vielen unterschiedlichen Emotionen einholte und ich die eigentlich passierte Handlung des Buches für recht schnell zu erklären befand. Denn der Roman ist so voller intensiver Weiblichkeit und beschreibt so tiefsinnig das Fühlen und Denken der beiden Frauen, macht keinen Halt vor unbequemen Themen, spricht Sexualität, wie Alltag, wie Mut und Unmut an, ohne dabei zu Urteilen oder zu Bereuen.

Wenn ich das Buch vor ein paar Jahren gelesen hätte, hätte ich es vielleicht nicht so gut verstanden oder verinnerlicht. Ich bin jetzt 29 und bin wirklich glücklich, dass ich das Buch von Nina George gelesen habe. Gerne möchte ich weitere Werke von ihr lesen und mich so emotional abholen lassen. Wen die Rolle der Frau in unserer Zeit, Feminismus und große Gefühle, das Werden und Vergehen ansprechen, sollte einen Blick ins Buch wagen.

Einigen könnt ihr Schreibstil zu poetisch sein. Sie nutzt Metaphern und verliert sich in der Beschreibung des Augenblicks. Ein zügiges Voranschreiten der Handlung ist somit nicht der Fall. Was, meiner Meinung nach, ihre Authentizität und Sichtweise auch nicht entspricht.

"Die Schönheit der Nacht" ist für mich ein sehr tiefgründiges Werk, ich empfinde es als wichtige und wunderschöne Frauenliteratur der Neuzeit. Mit philosophisch angehauchten Fragen und auch spannenenden Allgemeinwissen, das hier und da aufgegriffen wird, regt es zum Nachdenken an und macht Lust auf den Rausch des Lebens.

Trotz melancholischen Unterton, steckt so viel Liebe im Detail, so viel Liebe in der Beschreibung, dass ich mich am Ende von der Geschichte umarmt fühlte und mir die Wärme ins Herz stieg. Wunderschön!

Veröffentlicht am 29.03.2019

Bildung macht einen bedeutenden Unterschied

Befreit
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Aufgewachsen in den Bergen Idahos, inmitten einer Großfamilie, die sich voller Inbrunst dem Mormonentum widmet, autark leben möchte und Sozialismus ausschließt, beginnt die junge Tara Westover Glaubenssätze ...

Aufgewachsen in den Bergen Idahos, inmitten einer Großfamilie, die sich voller Inbrunst dem Mormonentum widmet, autark leben möchte und Sozialismus ausschließt, beginnt die junge Tara Westover Glaubenssätze und Überzeugungen ihres Vaters anzunehmen und zu verinnerlichen. Als fromme Mormonen sind die Westovers davon überzeugt, dass der Gang zur Schule etwas Böses sei. Die vom Sozialismus geprägte Gesellschaft sei vom Teufel unterwandert und nicht im Sinne Gottes, da unwahre Richtlinien und Gedanken nicht auf den Untergang vorbereiten würden und am Ende ins Chaos stürzen würden. Der Gang zum Arzt kommt in keinem Fall infrage und moderne Medizin lässt den Körper von innen verfaulen. Die Frau gehört in die Küche und die Familie kommt an erster Stelle.

Tara Westover schildert ihre Tage am Fuß des Berges und präsentiert dabei ihre wachsende Sehnsucht nach etwas, dass sie nicht zu denken wagt, da es den Weg ihrer Familie nicht entspricht. Das Leben stellt einen Menschen jedoch immer wieder vor Herausforderungen und Entscheidungen, sodass sie immer wieder dazu gezwungen wird zu hinterfragen, zu erkennen und zu entscheiden, ob sie vom Pfad abweicht oder sich für die bekannte Zone erwärmt, die ihr bisher als das wahre Leben erscheint. Da ist zum Beispiel ihr Bruder Tyler, der eine Entscheidung trifft, die sie bewundert, jedoch nicht versteht. Fragen über Fragen und Taras Neugier schaffen es einfach nicht, ihrer bekannten Weltordnung widerspruchslos zu folgen. Bis sie eines Tages eine Forderung stellt: Sie möchte schulische Bildung erlangen und etwas ändern.

Das Buch hat mich in vieler Hinsicht tief bewegt. Ein Leben ohne die Bildung, die ich bisher erhielt, kann und möchte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Bildung ist ein Schatz, der uns Verständnis, Sicherheit und Möglichkeiten geben kann. Ohne diese Möglichkeiten gäbe es so viele Mauern und Grenzen, die vielleicht noch nicht einmal erkannt werden würden.
Je mehr Bildung Tara zuteil wurde, desto größer wurde die Kluft zu ihrer Familie. Schmerzvolle Erkenntnisse und Angst vor dem Verlust der Wurzeln, vor dem Alleinsein, dem nie mehr Umkehren können, hielten Tara oft wach, stürzten sie in tiefe Gewissensbisse. Sie verriet ihre Familie! Je mehr sie das fühlte, desto mehr spürte sie den Verrat der eigenen Familie an ihr selbst. Das Dilemma ist handgemacht und doch fühlte ich beim Lesen jede Sekunde mit Tara, verstand ihre Gefühle.
Ihr Weg war nicht nur steinig und kalt, als Gläubige befürchtete sie zusätzlich, entgegen ihres bestimmten Lebens, wie sie dachte, zu handeln und den Weg der Sünde zu wählen.

Frau Westover, ich bin zutiefst gerührt, erschreckt und beeindruckt von Ihrem Lebensweg, der sie bis hierher führte und Sie nun dieses Buch geschrieben haben. Betrachten Sie es als Trophäe, den nichts anderes ist es. Eine Trophäe des Verständnisses, des Mutes und der Erfahrung, das Liebe immer einen Weg finden kann, wenn es gewollt ist.

Veröffentlicht am 29.03.2019

Zwischen Kultur und Moderne: Frauen in China

Mulans Töchter
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Mit dem Sachbuch „Mulans Töchter“ von der niederländischen Autorin Bettine Vriesekopp begibt sich der Leser oder die Leserin auf eine Suche nach Verständnis und Wissen. Zusammen mit ihrer chinesischen ...

Mit dem Sachbuch „Mulans Töchter“ von der niederländischen Autorin Bettine Vriesekopp begibt sich der Leser oder die Leserin auf eine Suche nach Verständnis und Wissen. Zusammen mit ihrer chinesischen Assistentin reiste die Autorin durch China, verabredete sich mit Kindern der Ein-Kind-Politik, Feministinnen, Lesben, Sexberaterinnen, politischen Aktivistinnen, modernen Schwertfrauen und anderen Frauen des Landes und verschafft sich ein Bild vom Leben und Wirken der jeweiligen Gesprächspartnerinnen, um sich ein Bild vom Spiegel der chinesischen Gesellschaft zu machen. Sie findet heraus, wie Fühlen und Denken, Religion und Politik das Leben der Bevölkerung beeinflussen. Traditionen, wie das Binden der Füße, kommen zur Sprache. Eine schleichende sexuelle Revolution ist im Gange und verändert die Sichtweise einiger Frauen. Wann wird die chinesische Bevölkerung bereit sein, eine vollkommene Gleichberechtigung zu wünschen? Und wann beginnt das große Hinterfragen, das einige Wenige bereits dazu antreibt, ihre Stimme zu erheben und Wellen zu schlagen?

Ich finde das Buch aufschlussreich und mir hat es definitiv mehr Verständnis gebracht. Ein Exkurs in das Fühlen und Denken chinesischer Frauen half mir, meinen Blick auf die Welt zu erweitern. Ich bin der Meinung, mit Mitgefühl haben wir einen wichtigen Baustein gelegt, um einander mit Nächstenliebe und Freude zu begegnen.

Veröffentlicht am 29.03.2019

Vom Erkennen der Zusammenhänge

Der Wal und das Ende der Welt
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»Dieser Roman gibt einem den Glauben an die Menschheit zurück.« Elle

Ein Zitat, welches mich sofort davon überzeugte, das Buch lesen zu müssen. Und ich muss sagen, Herr John Ironmonger, sie haben mich ...

»Dieser Roman gibt einem den Glauben an die Menschheit zurück.« Elle

Ein Zitat, welches mich sofort davon überzeugte, das Buch lesen zu müssen. Und ich muss sagen, Herr John Ironmonger, sie haben mich mit ihrem Werk ebenfalls überzeugt.
Joe Haak war Analyst einer Bank in London. Er studierte Mathematik an der Universität und seine alltäglichen Aufgaben bestanden unter anderem aus Prognosen (und negativen Zukunftsvisionen). Als er eines Tages mithilfe eines selbstgeschriebenen Computer-Programmes eine besonders düstere Voraussage erkannte, brannten seine Nerven mit ihm durch. Kurzerhand saß er in seinem teuren Sportwagen und fuhr immer der Nase nach Richtung Südwesten, um bisher Dagewesenes hinter sich zu lassen.

Der Roman zäumt das Pferd von hinten auf. Viele Hintergrundinformationen und Beweggründe von Joe erfährt der Lesende erst im Laufe des Geschehens. Zu Beginn des Buches ist nur klar, dass ein nackter Mann an den Strand von St. Piran, einem 300-Seelen-Dorf im äußersten Zipfel von Cornwall, gespült wird. Dieser Mann ist Joe. Die Dorfbewohner kümmern sich um den merkwürdigen jungen Mann, der wirre Sachen erzählt, aber dennoch sympathisch zu sein scheint. Als Joe wenig Zeit später einen gestrandeten Wal am Strand entdeckt und daraufhin viele Menschen des Dorfes zu seiner Rettung animiert, wird er über Nacht zum Helden.

Aber das ist nur der Beginn dieser Geschichte, denn Joe erkennt Zusammenhänge, welche ihm nicht zuletzt durch seinen Beruf bis tief ins Unterbewusstsein eingebrannt sind. Diese Zusammenhänge sind es auch, die ihn ins Auto steigen ließen und wegen denen er bis an die Küste Cornwalls fuhr, um dort ins kalte Nass zu steigen. Um eine Grenze zu überschreiten. Um herauszufinden, ob da noch mehr in ihm ist, als diese triste Idee von einer düsteren Zukunft mit Katastrophen und Dingen, die aufgrund des menschlichen Egoismus zum Scheitern verurteilt sind.

Darum beschließt er, sein Vermögen für Grundnahrungsmittel auszugeben, sie in einem Lager aufzubewahren und die bevorstehende Epidemie zu überleben. St. Piran ist der richtige Ort dafür. Die Anzahl der Menschen im Dorf scheint ihm ideal. Außerdem kommt eine unerwartete Komponente dazu: Diese warmen Gefühle der Hoffnung und der Geborgenheit, welche die Menschen von St. Piran in ihm auslösen. Mitgefühl, Hilfsbereitschaft, Toleranz und Gemeinschaft, sowie ein entschleunigter Lebensstil fahren Joe tief durch Mark und Bein, setzten sich fest und legen in ihm Gedanken frei, die er lange Zeit unbeachtet gelassen hatte.

Über den weiteren Verlauf des Romans „Der Wal und das Ende der Welt“ ließe sich noch eine ganze Menge sagen. Viele der Dorfbewohner werden namentlich genannt, mit einem Beruf, einer bestimmten Rolle oder einer bestimmten Eigenschaft vorgestellt und treten mal mehr und mal weniger als Gesprächspartner mit Joe in den Fokus der Aufmerksamkeit. So entstehen verschiedene Rollenbilder der ansässigen Menschen, die sich in sympathische Klischees kleiden lassen und die auf liebenswürdige Weise einen Kontrast zu dem sanften Joe bilden, welcher von einem schnellen und leistungsorientierten Lebensstil desillusioniert ist.

In Rückblenden wird Joes verworrene Lage deutlicher. Ob Erinnerungen an seiner Mutter, die früh starb, an seine Schwester und seinen Vater, die in anderen Teilen Europas verstreut leben oder an das Leben als Mitarbeiter einer großen Bank in der Londoner Innenstadt – Joe hat mit vielen inneren Dämonen zu kämpfen. Dazu kommt ein gefürchteter Zusammenbruch der Gesellschaft, wie Joe sie kennt.
John Ironmongers Roman ist vielschichtig. Im Zentrum steht Joe Haak mit seinen Ängsten. Viele beschriebene Abläufe der Wirtschaft und des Zusammenlebens gilt es zu hinterfragen. Wie verhält sich eine Gesellschaft im Ausnahmezustand? Ist sich jeder nur der nächste und Egoismus an der Tagesordnung? Kann die Zukunft vorhergesehen werden? Oder gibt es Dinge, mit denen wirklich niemand rechnen kann? Was ist den alten Hochkulturen unserer Geschichte passiert, die es nun nicht mehr gibt. Ein auch im Buch erwähntes Beispiel ist die damalige Gesellschaft auf den im Pazifik befindlichen Osterinseln. Es kam zu einem völligen Verfall der tradierten, auf der Ahnenverehrung fußenden Kultur.

Der Roman gab mir neues Gedankenfutter und erzählte mir nebenbei eine herzerwärmende Geschichte über den Zusammenhalt von Menschen. Danke, John Ironmonger.

Veröffentlicht am 18.05.2020

Mysteriöses Verschwinden

Das Dorf der toten Seelen
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Alice ist eine Absolventin der Filmhochschule in Stockholm. Für ihr Debüt plant sie einen Dokumentarfilm zu drehen – über Silvertjärn, einen abgelegenen Grubenort im Wald von Norrland. Sie stellt ein kleines ...

Alice ist eine Absolventin der Filmhochschule in Stockholm. Für ihr Debüt plant sie einen Dokumentarfilm zu drehen – über Silvertjärn, einen abgelegenen Grubenort im Wald von Norrland. Sie stellt ein kleines Team zusammen und macht sich auf den Weg. Auf den Spuren der rund 900 verschwundenen Seelen, die vor 60 Jahren wie vom Erdboden verschluckt sind, erforschen Alice, Tone, Emmy, Robert und Max das Geheimnis um das Dorf und seine ehemaligen Einwohner. Alice Großmutter Margareta zog einst von dort weg. Einige Anhaltspunkte über die Geschehnisse im Dorf vor dem Verschwinden geben Briefe aus den späten 1950er Jahren von Margaretas jüngerer Schwester Aina. Diese berichtete von einem jungen, attraktiven Pfarrer, der den Job seines Vorgängers – ein Trunkenbold – übernahm und fortan immer mehr Dorfbewohner in seinen Bann zog...

Nachdem vor 60 Jahren die Polizei das Rätsel um das kleine Örtchen nicht lösen konnte – es gab weder Leichen noch andere Anhaltspunkte auf den Aufenthaltsort der 900 Menschen – stellten sich einige grundlegende Fragen: Wer war die gesteinigte Frau, die mitten auf dem Marktplatz an einem Pfahl angebunden von er Polizei gefunden wurde? Und wieso fanden sie außerdem einen Säugling – mutterseelenallein?

Ich habe mich sehr in die Geschichte hineinziehen lassen. In kleinen Häppchen präsentierte die Autorin mit jedem weiteren Kapitel im „Heute“ oder „Damals“ – zum Teil über die Briefe von Aina an Margareta – weitere Details, die den Spannungsaufbau wunderbar vorantrieben. Es fühlte sich für mich tatsächlich an wie ein Puzzle, das ich mit jedem passenden Teil immer mehr in Augenschein nehmen konnte. Und das ist meiner Meinung nach eine große Stärke von diesem Buch. Dabei geht es nicht ausschließlich um Silvertjörns Geheimnisse, sondern auch um die ehemalige Freundschaft zwischen Alice und Emmy, die aufgrund einer schwierigen Lebensphase auseinanderging. Es geht um die psychisch labile Tone, deren Großmutter das Baby war, das einst gefunden wurden war. Auch im „Damals“ hinterfragt die skeptische Elsa – Ainas und Margaretas Mutter – die Ereignisse, misstraut dem jungen Pfarrer und kümmert sich liebevoll um jene, die plötzlich zu mehr als Außenseitern werden.

Das Figurenkonstruckt scheint mir sehr gelungen. Unterschiedliche Temperamente treffen aufeinander und sorgen für ein hohes Konfliktpotenzial, welches zusätzliche – in der unheilschwangeren Lage – den Spannungsbogen dehnt und mich des Öfteren zum sofortigen Weiterlesen antrieb. Ich würde behaupten, die Autorin hat ein gutes Gespür für die Darstellung zwischenmenschlicher Beziehungen – und das auf einem simplen Weg ohne Ausschweifungen oder großartige Erklärungen.

Trotz aller Spannung habe ich einen Kritikpunkt. Was den charismatischen Pfarrer angeht – der Leser erfährt einige, wenige Details über ihn – ist nicht ganz klar, wie er es schafft, so viele Menschen für sich einzunehmen. Und hier wird es spannend. Für den mysteriösen Horrorcharakter des Thrillers ist das sicher sehr unterstützend. Religiöser Fanatismus oder politischer Extremismus sind mir bekannte Ideologien oder Überzeugungen. Jedoch hätte ich gerne einen weitgehenderen Eindruck von der Vorgehensweise des Pfarrers erhalten.

Für mich ist „Das Dorf der toten Seelen“ von Camilla Sten ein spannender Thriller mit guter Charakterentwicklung. Das Setting der Geschichte und die Intentionen der Handelnden überzeugen mich. In den Wäldern von Schweden, in einer Region, die einst vom Bergbau geprägt war, steht ein verlassenes Dorf – Brrrrrrr, Gänsehaut-Feeling! – überzeuge dich selbst!

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