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buecherbelle

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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 06.04.2018

Schmerzhaft und packend

Super, und dir?
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„Man sieht nicht, wie das Mädchen ertrinkt, ganz im Gegenteil.“ (S. 17/S. 168)

Marlene lebt am Ort ihrer Träume, sie hat den Job ihrer Träume und den Freund ihrer Träume. Trotzdem – oder deswegen? – rutscht ...

„Man sieht nicht, wie das Mädchen ertrinkt, ganz im Gegenteil.“ (S. 17/S. 168)

Marlene lebt am Ort ihrer Träume, sie hat den Job ihrer Träume und den Freund ihrer Träume. Trotzdem – oder deswegen? – rutscht sie langsam aber sicher ab, immer weiter, und verliert zunehmend den Halt. Wo landet jemand wie sie, wenn alles um sie herum zerbrochen ist?

Alles an diesem Buch ist ziemlich verworren, was das sich durchziehende Thema der Drogenabhängigkeit wirklich fühlbar macht. Das macht es zwischendurch etwas anstrengend zu lesen, sorgte aber zumindest bei mir für ein überwältigendes Gefühl der Beklemmung, während Marlene verzweifelt versucht, sich an irgendetwas festzuhalten. Beinahe hat man selbst das Gefühl, zu fallen und zu ertrinken.

Nicht sicher war ich mir jedoch bis zum Schluss, was ich von Marlene selbst halten sollte. Irgendwie tat sie mir unheimlich leid, aber irgendwie fand ich sie auch furchtbar anstrengend. Ja, meine Güte, das Leben ist halt manchmal ätzend, aber dann sollte man versuchen, etwas daran zu ändern, und nicht auf irgendwelche Substanzen zurück zu greifen, die einen den Mist ertragen lassen.
Und doch: Gerade damit schafft es dieses Buch vielleicht, einem ein kleines Bisschen die Augen zu öffnen.

„Etwas funktioniert nicht mehr, und dieses Etwas bin ich.“ (S. 110)
„Und in das Loch „Niemand liebt mich“ passt „Eine bunte gemischte Tüte für 4 Euro“ nicht rein, egal, wie doll man drückt und schiebt.“ (S. 116)

Ich glaube, dass viele Situationen und Gefühle, die in „Super, und dir?“ geschildert werden, Gefühle dieser Generation sind. Der Leistungsdruck, alles scheint sich der Kontrolle zu entziehen, und dann versucht man das einzige zu kontrollieren, was noch bleibt: Den eigenen Körper. Spannend, wie sehr mich das schon beim Lesen mitgerissen hat – und das trotz der teils wirklich verwirrenden Zeitsprünge.

Veröffentlicht am 28.03.2018

Grausame Zeit

Die Farbe von Milch
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„Und dann schloss ich die Augen doch mein Herz schlug schnell vor Aufregung und obwohl mein Körper ganz still im Bett lag tobte mein Geist wild herum und wollte nicht stellstehen, als wäre er eine Biene ...

„Und dann schloss ich die Augen doch mein Herz schlug schnell vor Aufregung und obwohl mein Körper ganz still im Bett lag tobte mein Geist wild herum und wollte nicht stellstehen, als wäre er eine Biene im Sommer.“ (S. 79)

Mary ist jung, als sie zwangsweise ihr Leben hinter sich lassen muss und an einen neuen Ort kommt: Von der elterlichen Farm, auf der das Leben hart aber vorhersehbar ist, in den Haushalt des Pfarrers, um dessen kranke Frau zu pflegen. Die Geschichte der darauf folgenden Geschehnisse erzählt sie selbst aus der Perspektive der ein Jahr älteren Mary – und man wird das Gefühl nicht los, dass zwischendurch etwas Gravierendes geschehen ist.

Es hat wirklich eine ganze Zeit gedauert, bis ich mich an den doch sehr eigenwilligen Stil in „Die Farbe von Milch“ gewöhnt habe, und obwohl dieser sicherlich zur Atmosphäre beiträgt, bin ich mir nicht sicher, ob es meiner Meinung nach nicht auch ein allwissender Erzähler getan hätte. Aber es ist wie es ist, und irgendwann hatte ich mich dann auch an die fehlenden Kommata gewöhnt.
Während also die Aufmachung es mir erst schwer machte, in das Buch einzutauchen, war die Handlung schon deutlich ansprechender: Zunächst scheint das Leben auf dem Bauernhof hart und grausam zu sein, was für mich als unbeteiligte Leserin das Gefühl aufkommen ließ, das Leben im Pfarrhaus sei deutlich erstrebenswerter; langsam tritt jedoch die Erkenntnis ein, dass die Vorhersehbarkeit des Farmlebens im Pfarrhaus völlig fehlt, und ab dem Moment hatte mich das Buch fest im Griff.

Mary ist klug, trotz der widrigen Umstände, und häufig klüger als es gut für sie ist. Diese Idee hat mir sehr gut gefallen, denn ich kann mir gut vorstellen, dass ein Leben wie ihres in der Geschichte unserer Gesellschaft häufiger vorkam als man wahrhaben möchte. Die meisten anderen Charaktere scheinen mehr oder weniger (eher mehr) eindeutig im übermächtigen sozialen Gefüge und den Gepflogenheiten der damaligen Zeit (immerhin spielt sich die ganze Geschichte in einem Bauerndorf des 19. Jahrhunderts ab) zu stecken und zeigen auch keine Ambitionen, diesen Umstand zu ändern oder auch nur darüber nachzudenken.

„Du solltest weniger drauf schauen was andere Leute machen, sagte ich, und lieber selbst mehr machen.“ (S. 9)
„Oh Mary, sagte sie. Ich will kein Morgen und ich will nicht dass die Zeit jemals weiterläuft.“ (S. 67)

„Die Farbe von Milch“ war überraschend grausam, überraschend ehrlich und überraschend schmerzhaft, dabei jedoch ein Buch, bei dem ich froh bin, es gelesen zu haben. Gerade die Betrachtung aus dem Blickwinkel der Frauenrechte zeigt hier, dass ein Buch, das in einem historischen Kontext angesiedelt ist, durchaus auch für unser Leben Erkenntnisse bieten kann.

Veröffentlicht am 11.03.2018

Schmerzhaft ehrliche Einblicke

Was nie geschehen ist
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„Es gibt keine objektive Realität. Jedes Erzählen ist auch Fiktion.“ (S. 108)

In „Was nie geschehen ist“ erzählt Nadja Spiegelman ihre eigene Lebensgeschichte und, damit eng verwoben, die ihrer Mutter, ...

„Es gibt keine objektive Realität. Jedes Erzählen ist auch Fiktion.“ (S. 108)

In „Was nie geschehen ist“ erzählt Nadja Spiegelman ihre eigene Lebensgeschichte und, damit eng verwoben, die ihrer Mutter, ihrer Groß- und ihrer Urgroßmutter. Dabei stellt sich heraus, dass Erinnerungen nichts objektives sind und jeder der Menschen, die eine Geschichte erzählen, sie ein kleines bisschen anders erzählen.

„Ich versuchte mir vor Augen zu führen, dass jeder von uns ein Recht auf seine eigene Version der Vergangenheit hatte.“ (S. 39)

Selten hatte ich nach der Lektüre eines Buches mehr das Gefühl, dass der Titel perfekt passt: Verknüpft mit den Lebensgeschichten, die wir als Leser in „Was nie geschehen ist“ kennenlernen, wird nämlich sehr deutlich, dass die eine Lebensgeschichte nicht existiert. Wesentliche Erlebnisse im Leben aller vorkommenden Frauen weisen in der Erinnerung gravierende Unterschiede auf und das scheint für alle Beteiligten immer wieder ziemlich schmerzhaft zu sein – nachvollziehbarer Weise.
Einzusehen, dass sich etwas, das mich furchtbar verletzt hat, für jemand anderen völlig anders darstellt, ist ziemlich ernüchternd und sorgt dafür, dass ich nicht gewinnen kann: Der andere wird sich nicht schuldig fühlen, wird die Fehler, die er meiner Ansicht nach gemacht hat, nicht einsehen, weil er einfach eine andere Version der Situation hat.
Das ist vielleicht keine überraschende Erkenntnis, aber wohl das erste Mal, dass ein Buch mir das auf diese Weise vor Augen geführt hat, und auf jeden Fall das erste Mal, dass ich mich dabei den Protagonisten so nah gefühlt habe – obwohl ich vorher gesagt hätte, dass meine familiären Beziehungen keines der Probleme hat, die hier geschildert werden.

Bei einer (AutBiografie über die Glaubwürdigkeit der Protagonisten zu reden, ist immer ein bisschen schwierig. Was aber auf jeden Fall die Erwähnung wert ist: Wie nachvollziehbar und ehrlich das Bild ist, das Spiegelman von den Frauen zeichnet, die ihr so häufig so wehgetan haben. Es wäre ein leichtes gewesen, die Geschichten so zu erzählen, dass die Autorin selbst am Ende gut dasteht. Stattdessen beleuchtet sie die Geschichte aus mehreren Blickwinkeln und scheut sich nicht, Widersprüche stehen zu lassen.

Für mich lag der Fokus bei diesem Buch darauf, dass Vergangenheit, Geschichte und Erinnerung niemals objektiv ist. Darüber darf man nicht vergessen, dass auch die Geschehnisse selbst spannend und teils erschütternd sind, sodass es niemals langweilig wird. Und auch wenn mir am Ende das letzte Fünkchen zur Begeisterung fehlte, so finde ich „Was nie geschehen ist“ dennoch ziemlich lesenswert.

Veröffentlicht am 26.02.2018

Familienbande

Der große Bruder
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„Olivia kam gern genau pünktlich, niemals zu früh, um die Unordnung am Anfang nicht mit höflichen Floskeln füllen zu müssen.“ (S. 9)

Nach langen Jahren, in denen der Kontakt eher spärlich war, führt das ...

„Olivia kam gern genau pünktlich, niemals zu früh, um die Unordnung am Anfang nicht mit höflichen Floskeln füllen zu müssen.“ (S. 9)

Nach langen Jahren, in denen der Kontakt eher spärlich war, führt das Schicksal Olivia und ihren Bruder nach einer Operation wieder zusammen. Langsam und gemeinsam mit dem Leser stellt Olivia fest, dass die ungeplanten Konfrontationen ihr eigenes bröckelndes Familienleben offenlegen.

Bis heute bin ich mir nicht sicher, was ich von der Länge/Kürze dieses Romans halten soll. Auf der einen Seite ist es durchaus reizvoll, sich seinen Teil selbst zu denken: Erzählt wird im Prinzip nur das, was in wenigen Tagen passiert, wir erleben bloß die Veränderungen, die angestoßen werden. Das Ende ist daher nicht abgeschlossen, aber das ist das Leben schließlich auch nicht.
Auf der anderen Seite könnte man unter Umständen geneigt sein, der Autorin Bequemlichkeit vorzuwerfen. Im Prinzip steckt da eine spannende Idee drin, die wurde auch ausgearbeitet, aber das ganze bleibt doch recht minimalistisch.

Getragen wird das ganze durch die Charakterentwicklungen und die Entwicklungen der Verhältnisse zwischen den einzelnen Figuren, und auch hier findet sich wieder: Die einzelnen Entwicklungspunkte vollziehen sich im Verborgenen, wir bekommen nur sehr minimalistisch die Auswirkungen mit und müssen uns vieles selbst denken.
Zu Beginn hatte ich ein paar Sympathieprobleme, besonders mit Olivia und ihrem Mann, doch das legte sich naturgemäß mit der Charakterentwicklung. Da sollte man also durchaus noch eine Chance geben.

„„Alles nur Angst“, sagte Frau Derksen. „Die ist einfach da. Kann man nichts gegen machen.““ (S. 25)

Insgesamt hat mir „Der große Bruder“ gut gefallen, es sollte einem nur vorher schon bewusst sein, dass eine gewisse „Eigenleistung“ notwendig ist. Wem das zu viel ist, der sollte von diesem Roman die Finger lassen.

Veröffentlicht am 26.02.2018

Auswirkungen eines Krieges

Ein mögliches Leben
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„Und was Franz gelernt hat über die Angst, ist, dass sie schnell kommt und sich einrichtet, aber nur sehr langsam wieder geht, dass sie Stollen gräbt in ihm, die tief gehen, sich verzweigen, dass sie wächst ...

„Und was Franz gelernt hat über die Angst, ist, dass sie schnell kommt und sich einrichtet, aber nur sehr langsam wieder geht, dass sie Stollen gräbt in ihm, die tief gehen, sich verzweigen, dass sie wächst nur aus sich selbst und sie befeuert, dass sie nur kleine Anlässe braucht, nur das nächtliche Klappen einer Tür, Stimmen am Fenster der Baracke, nur den Blick eines Kameraden, den er nicht deuten kann.“ (S. 110)

Hannes Köhlers „Ein mögliches Leben“ erzählt eine Geschichte aus dem Krieg mit den Auswirkungen, die die Geschehnisse nicht bloß auf diejenigen haben, die direkt beteiligt sind, sondern über Generationen hinweg auf ganze Familien.

Dabei hat mich schon das Bild auf dem Cover in seinen Bann geschlagen, auch wenn man davon bei einem E-Book ja leider nicht so viel hat und ich deswegen wahrscheinlich weniger Wert darauf legen sollte. Und was zwischen den Deckeln dieses Romans steckt, das hat es auch echt in sich.

„Eine Sprache ist nie eine Flause, sondern immer eine Möglichkeit.“ (S. 148)

Hannes Köhler bedient sich in diesem Buch einer Sprache, die mich zum einen sehr begeistert hat, und die er zum anderen auch sehr gut an die verschiedenen Charaktere, denen in den entsprechenden Abschnitten Platz eingeräumt wird, anpassen kann. Dabei werden die Orte, die vorkommen, lebendig und zwischendurch kommt beinahe ein Gefühl von Dabeisein auf, obwohl die Handlung sowohl zeitlich als auch räumlich so weit entfernt ist.
Zwischendurch hatte ich Schwierigkeiten, dem Handlungsverlauf zu folgen, weil plötzliche perspektivische oder zeitliche Sprünge passierten. Das war vermutlich beabsichtigt und ein stilistisches Mittel, es hat mir an sich auch ganz gut gefallen, doch es riss mich auch aus dem Lesefluss. An einer Stelle blätterte ich zurück, weil ich den Eindruck hatte, dass die Seiten in falscher Reihenfolge hintereinander kamen, und das ist doch ein Punkt, der nicht gerade für ein stilistisches Mittel spricht.

„Und Franz nickt, obwohl er nicht begreift, er würde zu allem nicken, er staunt, kann die Augen nicht abwenden, sein Blick ist hungrig, hat einen Appetit, den Franz nicht gekannt hat bisher, der mehr will, nicht satt zu kriegen ist.“ (S. 40)

„Ein Gefühl der Wärme geht aus von den dreien, eine Wärme, die durch ihre Worte und Gesten in ihn eindringt, die sich in seinen Magen setzt und dort einen Klumpen Ruhe formt, einen warmen, glatten Stein.“ (S. 90)

„Ich fühle mich unglaublich müde, ich fühle mich alt, wir sind alle alt hier, auf eine gewisse Art und Weise.“ (S. 215)

Die Sprache, die mich sowieso schon von sich überzeugt hatte, setzte noch einen drauf, indem sie mich mit den Charakteren (allen voran mit dem Großvater Franz) so fabelhaft mitfühlen ließ. Er lässt sich in Metaphern aus, die auf mich nie „zu viel“ wirkten, weil sie genau das richtige Mittel waren, um die krassen Situationen und menschliche Reaktionen darauf einzufangen. Ich musste nicht lesen, was eine Figur gerade empfand, ich konnte es fühlen. Und das ist einer der größten Pluspunkte dieses Romans.

„Ein mögliches Leben“ ist ein beeindruckender Roman, der geschichtliche Perspektiven aufzeigt, die mir bis dahin fremd waren. Es ist ein Roman über Menschen und das, was sie beeinflusst in ihrem Leben, und all das in wirklich schöner Sprache. Dass mir das letzte Fünkchen zur Begeisterung fehlt, hängt vermutlich nur mit der oben erwähnten Irritation beim Lesen zusammen, die mir von Zeit zu Zeit den Flow nahm.