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Veröffentlicht am 29.04.2024

Die Wegwerfmenschen - Nicht gehört, nicht gesehen, nicht geachtet

Und alle so still
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Elin, Ruth, Alma, Nuri. Vier Personen und jede leidet auf jeweils eigene Art unter den patriarchalen Strukturen, der Diskriminierung und Ausbeutung in der Gegenwartsgesellschaft. Während die junge Elin ...

Elin, Ruth, Alma, Nuri. Vier Personen und jede leidet auf jeweils eigene Art unter den patriarchalen Strukturen, der Diskriminierung und Ausbeutung in der Gegenwartsgesellschaft. Während die junge Elin als Social Media Star an der hohlen Selbstdarstellung zweifelt und Nähe und Anerkennung in kurzen sexuellen Abenteuern sucht, bekommt Nuri jeden Tag zu spüren, was es als Arbeiterkind mit Migrationshintergrund bedeutet zu den nicht privilegierten Klassen in der modernen kapitalistischen Dienstleistungsökonomie mit zum Teil nicht mal rudimentärer sozialer Absicherung zu gehören. Ruth wiederum bekommt als Krankenpflegerin täglich die Konsequenzen eines Gesundheitssystems zu spüren, in dem echte Fürsorge und menschenwürdige Pflege nicht honoriert wird, im Gegenzug jedoch das Sparen auf Kosten von Patient:innen und dem Personal. Der Personalmangel in der Pflege wird so mit allen Konsequenzen für Patientinnen und Pflegekräfte bildlich herausgearbeitet.

Was die Protagonist:innen eint ist Einsamkeit und eine Verzweiflung an den Zumutungen, die dieses System an jeden einzelnen von ihnen und letztlich uns alle stellt. Doch wie dem entkommen? Wie kann Veränderung gelingen? Die Autorin skizziert im Roman hierzu ein mögliches Szenario und setzt dieses auch sprachlich hervorragend um.

Gekonnt buchstabiert Mareike Fallwickl die Bedeutung von Systemrelevanz literarisch aus und führt uns damit vor Augen was tatsächlich passiert, wenn all die als selbstverständlich wahrgenommenen Tätigkeiten von Frauen im Privaten wie im Beruflichen nicht erledigt werden. Dabei beweist sie einen sensiblen Blick nicht nur auf Sexismus und Misogynie sondern ebenso auf all die Zumutungen eines harten Arbeiter:innenlebens.

Und alle so still - ist das Gegenteil seines Titels, denn still ist dieser aufwühlende, emanzipatorische Roman sicher nicht! Und das ist genau richtig!

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Veröffentlicht am 27.04.2024

Manod und die Insel

Die Tage des Wals
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Es ist das Jahr 1938, Manod lebt mit ihrer jüngeren Schwester Llinos und ihrem Vater auf einer kleinen Insel vor der walisischen Küste. Das Leben auf dem kleinen Eiland ist einsam, hart, geprägt von Abgeschiedenheit ...

Es ist das Jahr 1938, Manod lebt mit ihrer jüngeren Schwester Llinos und ihrem Vater auf einer kleinen Insel vor der walisischen Küste. Das Leben auf dem kleinen Eiland ist einsam, hart, geprägt von Abgeschiedenheit und dem täglichen Überleben mit Fischerei und etwas Tierhaltung.

Die ohnehin geringe Inselbevölkerung im niedrigen zweistelligen Bereich dezimiert sich kontinuierlich. Junge Männer suchen ihr Glück und bessere Lebensbedingungen oft auf dem nahe gelegenen Festland. Mit 18 Jahren ist für Manod in diesem Umfeld ihr Weg als Frau scheinbar vorbestimmt, heiraten, Kinder bekommen, früh Witwe werden, weil das Meer den Mann genommen hat, völlig ausgelaugt bereits unter 30. Die intelligente junge Frau spürt jedoch, dass sie etwas anderes möchte, lernen, sich entwickeln, unabhängig sein.

Als die Forscher Joan und Edward auf die Insel kommen, bringen sie nicht nur das Leben auf der Insel aus der gewohnten Routine. Gerade der Kontakt zur selbständigen Joan zeigt Manod andere Perspektiven und Lebensweisen als Frau auf, die für sie neue Hoffnungen auf ein anderes Leben jenseits der Insel Gestalt annehmen lassen.

Neben Manods persönlicher Entwicklung gelingt es der Autorin sehr sensibel und authentisch die Gemeinschaft der Inselbewohner:innen zu porträtieren, ihr Leben mit nur sporadischen Informationen vom Festland und nah an der Natur, das gerade deshalb auch hart ist und vom Respekt vor den Naturgewalten, allen voran dem Meer, geprägt ist. Mit Joan und Edward thematisiert sie, ob und in wie weit der Blick mit dem die Forschung abgeschiedene autochthone Gemeinschaften vor der walisischen Küste untersucht hat von Respekt und Augenhöhe gelenkt war.

Die Sprache ist karg und poetisch zugleich. An einigen Stellen erinnert sie mich an Annie Ernaux, was vermutlich kein Zufall ist. Denn wie erfasst man ein karges, einfaches (Arbeits-)Leben, dass von so viel Härte und Entbehrung geprägt ist, angemessen? Es sind die schlichten, kraftvollen Sätze, die dieses Leben auch sprachlich einfangen und ein Gefühl dafür vermitteln. Was bei Ernaux das entbehrungsreiche Arbeiterleben in der französischen Provinz ist, ist bei O‘Connor das Leben auf einer walisischen Insel.

Die Tage des Wals ist ein ruhiger Roman mit einer wundervollen, reifen Sprache, die in ihrer kargen Poesie die Lebensrealität Manods und der Inselbewohner authentisch einzufangen weiß.

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Veröffentlicht am 21.04.2024

Ein echter Allrounder für die Küche aus dem Ofen für Anfänger und Profis gleichermaßen

Al forno - Ofenfrische Gerichte
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In Al Forno - Ofenfrische Gerichte nimmt uns Stefano Cavado mit an seinen Ofen und teilt mit uns süße und herzhafte Gerichte, die tatsächlich für jede Gelegenheit taugen.

Der Titel verspricht hier nicht ...

In Al Forno - Ofenfrische Gerichte nimmt uns Stefano Cavado mit an seinen Ofen und teilt mit uns süße und herzhafte Gerichte, die tatsächlich für jede Gelegenheit taugen.

Der Titel verspricht hier nicht zu viel, denn mit den verschiedenen Schwerpunktkapiteln lassen sich grundsätzlich ganze Mahlzeiten von Vorspeise über Hauptspeise bis zur Nachspeise zaubern. Jedes Kapitel und die Rezepte darin können jedoch genauso für sich stehen, seien es die kleinen Leckerbissen, Vorspeisen, Einzelgerichte, Kuchen/Torten oder die Kekse. Ganz besonders gefällt mir jedoch das ganze Kapitel zum Brotbacken. Wie auch die übrigen Rezepte sind diese eine sehr gelungene Mischung aus traditionellen, lokalen Gerichten (hier Schüttelbrot) bis hin zu originelleren Rezepten wie Schwarzbeer-Marmorbrot oder Kastenbrot alla Pizzaiola, das tatsächlich die Küche in einen wunderbaren Pizzaduft eintaucht. Jedes Gericht wird mit einer kurzen Einführung des Autors zur Herkunft, Eignung und seinem persönlichen Bezug dazu vorgestellt. Meine bisherigen Versuche waren gelungen, mit Mengen, Zutaten und Beschreibung, habe ich mich gut mitgenommen gefühlt.

Neben den kulinarischen Köstlichkeiten ist zum einen das Kapitel - Wissenswertes - direkt zu Beginn erwähnenswert, denn hier finden auch bisher nicht versierte Bäcker:innen und Kochkünstler:innen alles notwendige Wissen zu Utensilien über Mehltypen bis hin zu den verschiedenen Heizarten. Zum anderen muss das Layout, die Fotoqualität und die hochwertige Haptik des Buchs betont werden. Es ist bereits ein Genuss das Buch in die Hand zu nehmen und sich beim Blättern inspirieren zu lassen. Damit eignet es sich auch wunderbar als Geschenk - im Zweifelsfall auch an sich selbst 😉.

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Veröffentlicht am 21.04.2024

Eine sizilianisch-deutsche Familiengeschichte, bitter-süß und stimmungsvoll erzählt

Nostalgia Siciliana
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Ein plötzlicher Anruf aus Sizilien, das Tita nach dem Tod ihres Vaters 26 Jahre nicht besucht hat, stellt ihr Leben von einem auf den anderen Tag auf den Kopf. Nach dem Tod ihres Onkels erbt sie anteilig ...

Ein plötzlicher Anruf aus Sizilien, das Tita nach dem Tod ihres Vaters 26 Jahre nicht besucht hat, stellt ihr Leben von einem auf den anderen Tag auf den Kopf. Nach dem Tod ihres Onkels erbt sie anteilig das alte Familienanwesen in Ragusa, auf dem nicht nur ihr verstorbener Vater aufgewachsen ist, sondern mit dem auch sie ein Gefühl von Heimat und wundervolle Sommer mit ihrer sizilianischen Familie verbindet. Der ungeplante Besuch aufgrund der Erbangelegenheiten wird für Tita eine Reise in eine zum Teil verdrängte Vergangenheit und gleichzeitig näher zu ihrem Vater, aber auch zu sich selbst.

Die Handlung begleitet neben Tita in der Gegenwart auf einer weiten Zeitebene Titas Vater Gianni beim Aufwachsen in den Nachkriegsjahren im ländlichen Sizilien. Neben der wundervollen Flora und Fauna, der köstlichen Küche, Sonne und einem Leben mit der Natur steht auch Armut und soziale Ungleichheit, die die Lebenswege vorbestimmen. Die Suche nach anderen Lebenschancen führt Gianni schließlich als Gastarbeiter nach Deutschland. Einfühlsam und authentisch werden im Roman so zum einen die Motive Giannis, aber auch die schwierigen Bedingungen für Gastarbeitende in der Bundesrepublik erzählt.

Patricia di Stefano zeichnet Sizilien als Insel der Gegensätze bittersüß, mit Licht und Schatten und beweist einen sensiblen Blick für das Sowohl als Auch, das unser Leben durchzieht. So mischt sich auch unter die Sehnsucht nach und Leichtigkeit Siziliens, Entbehrung und große Herausforderungen, die mit dem Leben im sonnigen Süden verbunden sind, was jedoch nicht minder auf das neue Leben Giannis in Deutschland zutrifft, mit steter Sehnsucht nach seiner Heimat. Auch hier zeigt die Autorin Licht und Schatten, in all seinen Schattierungen auf.

Neben der gelungenen Sprache, die mich immer wieder unmittelbar die Handlung erleben und zum Teil fast fühlen und schmecken hat lassen, ist dies für mich die größte Stärke dieses wundervollen Familienromans. Zur Authentizität tragen zudem die italienischen Einschübe und Redewendungen bei, die auch ohne Sprachkenntnisse jederzeit zu verstehen sind. Eine unbedingte Leseempfehlung von mir, und für das perfekte Leseerlebnis mit Soundtrack und Rezepten der Autorin! https://nostalgiasiciliana.de/playlist.html

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Veröffentlicht am 14.04.2024

Potential für einen neuen Klassiker!

James
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James erzählt ausgehend von Mark Twains Klassiker Die Abenteuer des Huckleberry Finn, die Geschichte um Huck Finn und Jim neu bzw. ergänzt sie aus Perspektive des Sklaven Jim.

Everett schreibt mit James ...

James erzählt ausgehend von Mark Twains Klassiker Die Abenteuer des Huckleberry Finn, die Geschichte um Huck Finn und Jim neu bzw. ergänzt sie aus Perspektive des Sklaven Jim.

Everett schreibt mit James die Geschichte einer immer stetiger wachsenden Einsicht in die Ungerechtigkeit und Grausamkeit der Verhältnisse, der Evolution eines Zorns auf diese und in der Konsequenz einer inneren und äußeren Befreiung von Unfreiheit. Die Einsichten in die Sklaverei mit all ihren Grausamkeiten sind zum Teil schwer auszuhalten und es ist für mich fast unvorstellbar, dass dies möglich und gesellschaftlich akzeptiert war, sogar verteidigt wurde.

Trotzdem kommt der Roman stellenweise auch mit einer seltsamen Leichtigkeit zwischen den Zeilen daher, die zunächst gar nicht so recht zu der furchtbaren Realität James’ passen mag. Diese ergibt sich jedoch insbesondere in den Gesprächen zwischen James und dem jungen Huckleberry Finn, der mit kindlichem Übermut und Neugier beginnt die gesellschaftlichen Strukturen in Frage zu stellen.

Eindrucksvoll waren für mich die Passagen in denen Everett über das Lesen, Wissen und Schreiben reflektiert und diese als Macht und Weltzugang, der Freiheit ermöglicht und Trost spendet, herausarbeitet. Besonders gefallen haben mir auch die kurzen ideengeschichtlichen Reflexionen James‘ über Freiheit und Gleichheit in der Auseinandersetzung mit Voltaire, Montesquieu und Locke.

Etwas gewöhnungsbedürftig beim Lesen ist der Slang mit dem Jim und auch alle Sklaven sprechen. Eine, wie sich schnell herausstellt bewusste, vermeintlich primitiv wirkende Sprache und Ausdrucksweise mit der die Sklaven vor den Weißen eine Rolle spielen, die ihnen von diesen zugeschrieben wird und daher auch im Sprachgebrauch nicht hinterfragt wird.

Mit James ist Percival Everett ein sowohl literarisch als auch gesellschaftspolitisch bedeutendes Werk gelungen, das als Ergänzung zu Mark Twains Huckleberry Finn unabdingbar ist und keinen Tag zu früh kommt.

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