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Veröffentlicht am 23.01.2024

Ein einfühlsamer, moderner (Familien-)Roman über Zugehörigkeit in einer komplexen Welt

Weiße Wolken
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Leukonychia punctata - oder auch weiße Wolken. So nennt man die weißen Flecken auf den Fingernägeln. Dachte man lange dies wäre ein Ausdruck von Nährstoffmangel, geht man mittlerweile davon aus, ...

Leukonychia punctata - oder auch weiße Wolken. So nennt man die weißen Flecken auf den Fingernägeln. Dachte man lange dies wäre ein Ausdruck von Nährstoffmangel, geht man mittlerweile davon aus, dass es sich dabei um Mikroverletzungen handelt. Was hat das mit dem Roman zu tun? Erstaunlich viel! Denn auch in weiße Wolken geht es um Verletzungen, Erschütterungen, Einwirkungen, die ein Gesellschaftssystem und andere Menschen auf jede:n Einzelne:n ausüben. Und darum, wie wir dabei uns selbst, unsere Identität bilden und zu wem oder was wir in einer immer komplexeren Welt Zugehörigkeit empfinden. Letztlich ist es die Gesellschaft, auch ihre Zwänge und Machtstrukturen, ebenso wie die Menschen in unserem Umfeld, die uns formen und einwirken auf unser Leben.

Dieses doch sehr abstrakte Konstrukt vermittelt uns Yandé Seck in einem kurzweiligen, jedoch nicht weniger tiefgründigen, modernen Familienroman. Im Mittelpunkt zwei Schwestern, Dieo Mitte 30, angehende Psychoanalytikerin, Mutter von drei Kindern und in einer Beziehung mit Simon. Ihre Schwester Zazie ist Ende 20, Pädagogin, Masterabsolventin mit Job im Jugendbereich und mit einem untrüglichen Radar für jede Nuance einer Diskriminierung aufgrund von Geschlecht oder Hautfarbe. Beide sind bei ihrer deutschen Mutter, selbst Psychoanalytikerin aufgewachsen, der Vater stammt ursprünglich aus dem Senegal, ein Freigeist und Nietzschefan, der oft abwesend war.

Die Geschichte wird abwechselnd aus den Perspektiven von Dieo, Zazie und Simon erzählt. Denn alle drei hadern auf ihre Art mit sich selbst, ihrem Lebensweg und ihrer Position in der Gesellschaft.

Etwas schwer auszuhalten war für mich die Blase, in der sich alle Protagonist:innen bewegen. In einem Wort sind alle sehr „woke“, jede:r in seiner:ihrer eigenen Ausprägung.

Es wird sehr viel über Rassismus gesprochen und dabei erstaunlich wenig die eigenen Privilegien der Protagonist:innen aufgrund der sozialen Herkunft, allesamt aus gut situierten westdeutschen Akademikerhaushalten, reflektiert. Der Grad der Sensibilisierung für soziale Ungerechtigkeit manifestiert sich im Roman primär an den Merkmalen Hautfarbe und Geschlecht. Andere, ebenso wichtige gesellschaftliche Distinktionslinien, wie Bildung, Klasse etc. bleiben nahezu vollständig außen vor. Vor dem Hintergrund der intensiven Beschäftigung mit gesellschaftlichen Macht- und Diskriminierungsstrukturen bei den Protagonist:innen, verwundern diese blinden Flecken in der Reflexion.

Wirklich stark finde ich den Roman, wenn es um Zugehörigkeit und Identität geht. Was macht uns aus? Wo gehören wir hin? Welches sind die relevanten Merkmale, die zur Verbundenheit führen? Ist es das Aussehen? Die Herkunft? Die Klasse? Die Kultur? Die Familie? Hier zeigt die Autorin am Beispiel von Dieo und Zazie überraschende Antworten auf, die der komplexen Gegenwart gerecht werden.

Auch ein Hauptsymptom dieser Gegenwart arbeitet die Autorin immer wieder sehr gut heraus. Eine Welt, in der es nicht mehr um Inhalte geht, sondern nur noch um Darstellung. - „Es ging nicht mehr darum die Welt besser zu verstehen, sondern ihr einen Stempel aufzudrücken. Seinen inhaltsleeren, industrial-designten Stempel.“ -

Aber auch die Themen Frausein und Mutterschaft und im Gegenpol, Vaterschaft und (neue) Männlichkeit als eigene Herausforderung werden im Laufe des Roman behandelt, ebenso wie die nicht immer einfachen Beziehungen zu Müttern und Vätern.

Das klingt viel, jedoch wirkt der Roman nie überladen. Wie sich Dieo, Zazie und Simon in dieser Welt zurechtfinden, zweifeln, sich selbst finden, ihren Weg gehen und letztlich auch näher zueinander finden, ist in jedem Fall sehr lesenswert.

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Veröffentlicht am 25.12.2023

Ein Leseerlebnis wie ein Tanz: 4 Frauen in einem Jahrzehnt des Aufbruchs und des Tanzes

Lindy Girls
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Bereits nach den ersten Seiten von Lindy Girls taucht man in das Berlin des Jahres 1928 ein und kann die Stimmung fast schon mitfühlen, die Musik, der Tanz, man fühlt sich bei jeder Beschreibung fast wie ...

Bereits nach den ersten Seiten von Lindy Girls taucht man in das Berlin des Jahres 1928 ein und kann die Stimmung fast schon mitfühlen, die Musik, der Tanz, man fühlt sich bei jeder Beschreibung fast wie im Tanzsaal. Im Mittelpunkt der Handlung steht die Entstehung und ersten Erfolge der Tanzgruppe Lindy Girls, erzählt jeweils aus den Perspektiven von Gila, Thea, Wally und Alice. Vier vollkommen unterschiedliche Frauen, mit ihrer eigenen durch die Zeit geprägten schwierigen Vergangenheit und Herausforderungen der Gegenwart.

Sehr schön dargestellt und beschrieben finde ich die Aufbruchstimmung dieser Zeit, gerade für Frauen, Wahlrecht und weitere Veränderungen schlagen sich deutlich in einem anderen Lebenswandel, Selbstbild und auch Selbstbewusstsein wider, wobei zugleich auch die Grenzen deutlich werden. Der Autorin gelingt es auch die historischen gesellschaftlichen Problemlagen in die Geschichte einzuflechten, die schwierige tatsächliche Emanzipation der Frauen, die traumatisierten und verletzten Männer aus dem Krieg, die spanische Grippe etc. mit allen Folgen. Auch den teils schon präsenten Nationalsozialismus und wenig versteckten Antisemitismus hat die Autorin sehr gut in die sonst so heitere Handlung eingewebt und thematisiert damit auch die dunklen Seiten des Jahrzehnts.

Etwas getrübt war mein Leseerlebnis lediglich durch kleinere Logikfehler in der Handlung.

Insgesamt ist dem Roman ein guter Kontrast zwischen der Glitzerwelt des Tanzes und des goldenen Berlins und der harten Realität der Nachkriegsgesellschaft gelungen. Ich war ganz in die Geschichte eingetaucht, konnte die Musik fast hören und die Lindy Girls beim Tanzen vor mir sehen.

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Veröffentlicht am 05.12.2023

Wenn ein Unfall zum Glücksfall wird…

Die Eisfischerin vom Helgasjön
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Oft zeigt sich erst in Notsituationen auf wen man sich verlassen kann. So auch bei Rieke, Mitte 30, aus Hamburg, nach ihrem schmerzhaften Zusammenstoß mit einem Elektroroller. Denn Freund Marco präsentiert ...

Oft zeigt sich erst in Notsituationen auf wen man sich verlassen kann. So auch bei Rieke, Mitte 30, aus Hamburg, nach ihrem schmerzhaften Zusammenstoß mit einem Elektroroller. Denn Freund Marco präsentiert sich nicht als der unterstützende Partner, den man sich nach einem Unfall inkl. Kreuzbandriss wünschen würde.

Und so beginnt man bereits nach den ersten Seiten zu ahnen, dass der Unfall mit all seinen Folgen vielleicht gerade zur rechten Zeit kam, um Riekes Leben eine Wendung zu geben, dies nicht nur im privaten sondern auch im beruflichen Bereich. Während der langen Genesungsphase verschlägt es Rieke nach Schweden und mit der Reise nach Lappland geht ein Kindheitstraum von der Suche nach den Polarlichtern in Erfüllung. In der wunderschön beschriebenen Winterlandschaft Schwedens erhält Riekes Leben jedoch noch weitere Wendungen bereit. Da ist nicht nur Theo, ihr alter Studienfreund, dem sie begegnet, auch Brigitta, die Herbergsmutter der Unterkunft des Familienurlaubs aus Riekes Kindheit in Schweden umgibt ein Geheimnis, das mit Rieke verbunden ist.

Ein schönes Buch für Zwischendurch zum Abtauchen in das winterliche Schweden und eine Beziehungs- und Familiengeschichte mit einigen spannenden Wendungen.

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Veröffentlicht am 23.11.2023

Verlust, Natur, Einsamkeit, Liebe, Verrat: Ein Buch zum Abtauchen in eine andere Welt

Das Hotel am Fuße des Vulkans
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Wie viel kann ein einzelner Mensch ertragen? Und wie findet man wieder zu sich selbst und Vertrauen in das Leben und die Liebe, wenn man alles verloren hat? Irene muss dies mit Ende 20 herausfinden. Auf ...

Wie viel kann ein einzelner Mensch ertragen? Und wie findet man wieder zu sich selbst und Vertrauen in das Leben und die Liebe, wenn man alles verloren hat? Irene muss dies mit Ende 20 herausfinden. Auf ihrer Suche nach dem Leben und sich selbst verschlägt es sie an einen magischen Ort in Mittelamerika.

Das Hotel am Fuße des Vulkans wird zu Irenes neuem Lebensmittelpunkt und mit ihm, die BewohnerInnen des Dorfes, die Gäste und nicht zuletzt Flora und Fauna des magischen Ortes. Die Beschreibungen der Natur und des Ortes sind wunderbar gelungen, sodass vor dem inneren Auge ein kleines Paradies in Mittelamerika auftaucht und man sich fast mittendrin in der Handlung fühlt. An diesem Ort spürt man fast wie Irenes Lebensgeister wieder erweckt werden, doch auch neue Trauer, Enttäuschung und Rückschläge begegnen ihr auf dem neuen Lebensabschnitt. Neben Irenes werden die Geschichten von weiteren BewohnerInnen und auch Gästen erzählt, ebenso wie Herausforderungen, die das Leben in der Abgeschiedenheit bedeutet, insbesondere auch für die autochthone Bevölkerung. Besonders hat mir gefallen, wie sensibel das Aufeinandertreffen von einheimischer Kultur und der Zugereister mit allen Facetten beschrieben wurde.

Der Stil ist unglaublich leichtfüßig und kurzweilig, sodass die fast 500 Seiten wie im Flug vergehen. Etwas getrübt wurde mein Leseerlebnis durch einige kleinere Logikfehler insbesondere im Mittelteil. Gerade weil die Sprache so wunderbar bildlich ist, fällt schnell auf, wenn beispielsweise ein Kleid plötzlich zur Bluse wird.

Insgesamt ein wundervolles Buch zum Abtauchen in eine andere Welt, zum Mitleiden und Mitfreuen, wie eine Frau nach schweren Schicksalsschlägen wieder zu sich selbst findet.

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Veröffentlicht am 12.11.2023

Eine satirische Kulturvermittlerin für das deutsche Amtswesen

Da bin ick nicht zuständig, Mausi
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Mürrisch, faul, unfreundlich… und sicher noch viele weitere Attribute werden bemüht um deutsche Beamte zu bezeichnen. Mit diesen Vorurteilen spielt Conny from the Block und macht daraus eine durchaus unterhaltsame ...

Mürrisch, faul, unfreundlich… und sicher noch viele weitere Attribute werden bemüht um deutsche Beamte zu bezeichnen. Mit diesen Vorurteilen spielt Conny from the Block und macht daraus eine durchaus unterhaltsame Lektüre. Ich kannte Conny from the Block zuvor nicht, und bin auch ohne Vorwissen gut in das Buch gestartet. Im Mittelpunkt steht natürlich Conny, Mitte 40, Sachbearbeiterin in einer Berliner Behörde. Dazu gesellt sich ihr buntes Kollegium, an dem beispielhaft herausgearbeitet wird, welche unterschiedliche Motivation Menschen als Mitarbeitende zum Amt bringt. Und so haben wir Teil an Büroklatsch, lernen den Nutzen von Umlaufmappen als Schutzschilde und den Amtsalltag mit seinen Höhen und Tiefen in überspitzter Form, kennen. Nebenbei erfahren wir auch einiges aus Connys Single Alltag in Neukölln, lernen u.a. ihre Nachbarn Gül kennen, von der sie uns auch ein paar leckere Rezepte verrät.

Hinter all der Comedy stecken jedoch auch ernste und wichtige Themen, wie interkulturelle Kompetenz in Behörden sowie Ost- und Westerfahrungen bei Mitarbeitenden, die geschickt in der Erzählung vermittelt werden.

Der Stil ist durchweg sehr leicht und flüssig, immer wieder mit Berlinerisch, was das Leseerlebnis zusätzlich authentisch wirken lässt. Etwas zu viel und flach war mir, trotzt Comedy, manchmal der Stereotype von schmachtenden Frauen, die vermeintlich alles um sie herum vergessen, sobald ein für sie attraktiver Mann vor ihnen steht.

Conny spielt mit Vorurteilen auf beiden Seiten, klärt auf und schafft es so mit ihrer Erzählung Empathie für die spezielle Spezies Beamte zu wecken, und damit zwischen Amt und BürgerInnen zu vermitteln. Insgesamt eine kurzweilige und amüsante Lektüre für zwischendurch, die das Phänomen Amt ein bisschen besser zu verstehen hilft.

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