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Veröffentlicht am 17.10.2021

Ein Klassiker, der Spaß macht.

Sodom und Berlin
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„Durch Schicksal Jude, durch Zufall in Frankreich geboren, durch ein Stempelpapier als Deutscher bezeichnet.“ hat Yvan Goll (1891 - 1950) sich selbst beschrieben. Ein deutsch-französischer Schriftsteller ...

„Durch Schicksal Jude, durch Zufall in Frankreich geboren, durch ein Stempelpapier als Deutscher bezeichnet.“ hat Yvan Goll (1891 - 1950) sich selbst beschrieben. Ein deutsch-französischer Schriftsteller in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit seinem surrealistischen, kritischen und skurrilen Dramen und Romane bekannt war. Sein Berlin-Roman "Sodome et Berlin“ hat er 1929 in Frankreich veröffentlicht, erst wurde das Buch 1980 auf Deutsch bei Fischer-Verlag erschienen. Dies ist Neuübersetzung von Gerhard Meier, der literarische Werke aus dem Türkischen und Französischen übersetzt, unter anderem Nobelpreisträger Orhan Pamuk.

Odemar Müller heißt Golls Protagonist. Groß, dünn, blond, blauäugig. Sohn eines thüringischen Oberförsters, gewachsen in Vaters privater Klassiker-Bibliothek. Corpsstudent aus Bonn, Reaktionär, Romantiker auf der Suche nach der blauen Blume. Überzeugte deutscher Soldat, begeisterte Spielhöhlen Gast, Freigeist, Frauenheld, Betrüger...

Zynisch, grotesk, stellenweise skurril aber sehr bildhaft und fein gewürzt mit bitterbösen Wahrheiten nimmt Yvan Goll seine Leser*in nach ersten Weltkriegszeiten Berlin mit und durchführt mit Odemar eine satirische Stadtrundfahrt. Mit dabei sind vielschichtige, kuriose Figuren, die mir immer wieder ein Lächeln ins Gesicht gezauberten. Ich hatte nicht ein einziges Mal Gefühl gehabt, als ob lese ich einen Klassiker, denn der Text wirkte mir sehr modern. Es ist wirklich eine ausgezeichnete Wiederentdeckung von Manesse Verlag, welche ich mit viel Vergnügen gelesen hab und für historische Romanliebhaber wärmsten empfehlen kann.

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Veröffentlicht am 21.09.2021

Sucht, Armut und eine verlorene Kindheit

Shuggie Bain
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„Flammen sind nicht nur das Ende, sie sind auch der Anfang. Denn alles, was zerstört wird, kann wieder entstehen. Du kannst aus deiner eigenen Asche wieder wachsen.“ (S.271)

Kennt ihr diese Bücher, die ...

„Flammen sind nicht nur das Ende, sie sind auch der Anfang. Denn alles, was zerstört wird, kann wieder entstehen. Du kannst aus deiner eigenen Asche wieder wachsen.“ (S.271)

Kennt ihr diese Bücher, die man nicht lesen mag, aber trotzdem nicht aus der Hand legen kann? Die so Wort- und bildgewaltig geschrieben sind, einen unter die Haut geht, dabei auch extrem wütend macht? Obwohl man der Hauptfigur schon ersten Seiten ans Herz schließt, aber sein Leben zu folgen fast eine Qual wird? Shuggie Bain gehört für mich aus diese Kategorie der Bücher.

Hugh Bain, genannt auch Shuggie, wächst mit seinen beiden älteren Halbschwestern bei seiner alkoholkranken Mutter in Glasgow der 80er Jahre auf. Sein Umfeld ist geprägt von Arbeits und Perspektivlosigkeit, Armut und von soziale Disparität. Doch wie dreckig die Siedlung ist, deren Wohnung und seine Klamotten sind immer blitzblank sauber. Denn egal wie tief seine Mutter Agnes ins Glas guckt, eins ist für sie immer wichtig: für außen muss alles glänzen. Shuggie ist anders als seine Altersgenossen. Er redet ordentlich, ist zart und feminin, hasst Fußball, liebt Tanzen aber vor allem liebt er seine Mutter von ganzem Herzen. Er erlebt wegen seinem „Anderssein“ Tag täglich Hänseleien und Gewalt. Bevor er selbst wusste, dass er schwul ist, wurde er als Schwuchtel beleidigt und beschimpft, doch Shuggie macht mehr Sorgen um seine Mutter als um sich selbst. Er weiß haargenau wann und wie viel Agnes trinkt. Allein wie die Gardinen an den Fenstern hängen, erkennt er aus der Ferne, in welcher Stimmung seine Mutter ist. Wo Agnes Tag zu Tag tiefer stürzt und ihren Trost bei mehr Alkohol sucht, macht Shuggie seine Aufgabe ihr zu helfen. Er will sie retten. Er will mit seiner Mutter neu anfangen, doch Agnes Alkoholsucht und ihre psychischen Probleme sind größer als Shuggies Liebe...

Douglas Stuart erzählt die Geschichte, angesichts der erbarmungslosen Geschehnissen, sehr locker, verfeinert mit glitzernden Details und mit feinem Humor. Die Handlug umfasst die Jahre 1981 bis 1992. 10 Jahre, in dem vieles passiert, aber kaum was verändert hat. Dabei beschreibt er diese Jahre sehr atmosphärisch und gibt tiefe Einblicke frei. Auf ein mal taucht das Grau in Grau von der Sozialsiedlung vor den Augen und man atmet Kohlenstaub ein. Die Darstellungen zwischenmenschlichen Beziehungen wie Neid, Missgunst oder die selbstlose Liebe eines Kindes zur Mutter sind nicht nur glaubwürdig, sondern stellenweise sehr ergreifend.

Bemerkenswert ist, dass das Stuarts Debüt ist, in dem er eigene Kindheit verarbeitet. Es ist nüchtern, zart, feinfühlig, zerstörend, aufwühlend, hoffnungs- und liebevoll. Ein Roman, der nicht einfach zum Lesen ist, dafür aber sehr empfehlenswert ist.

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Veröffentlicht am 14.09.2021

Eine ganz besondere Geschichte

Das Jahr, in dem wir verschwanden
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Im Sommer 1979 beginnen erschütternde Serienmorde von Kindern in Tayari Jones Heimatstadt Atlanta. Zwei Jahre lang wurden fast 30 Kinder und Jugendliche, überwiegend Jungen aus afroamerikanischer Herkunft, ...

Im Sommer 1979 beginnen erschütternde Serienmorde von Kindern in Tayari Jones Heimatstadt Atlanta. Zwei Jahre lang wurden fast 30 Kinder und Jugendliche, überwiegend Jungen aus afroamerikanischer Herkunft, entführt und ermordet. Die Hintergründe und die genaue Opferzahl weiß man bis Heute nicht! In den Jahren war die Autorin selbst im Grundschulalter und was ich zwischen den Zeilen gelesen hab, denke ich, hat sie die grausamen Taten als Schulkameradin mit erleben musste.

In ihrem Roman erzählt Jones die Kindermorde von Atlanta in drei Abschnitten und aus drei Kinder-Perspektiven. Dabei passt sie die Erzählweise an das jeweilige Kind sehr geschickt an. Mal erzählt eine Fünftklässlerin aus der Ich-Perspektive, mal greifen die Klassenkameraden ans Wort und berichten sie aus dem Du oder Dritten-Personensicht. Dank diesen individuellen Erzählstimmen konnte ich deren Gefühlswelt Bedienungslos verstehen. Die Kinder wohnen zwar in dem gleichen Stadtteil, gehen in die gleiche Klasse doch ihr Lebensstil, ihr Alltag, ihre Ängste und Sorgen sind sehr verschieden. Oft verunsichern und beängstigen die bedeutungslose Dinger die Kinder, umso mehr sind sie glücklich und dankbar über die schönen Kleinigkeiten. Jones trifft den Ton der Kinder auf dem Punkt genau und lässt ihre Leser behutsam und gefühlvoll in eine Welt eintauchen, worauf Rassismus, Klassenteilung und Armut große Rolle spielen.

Tayari Jones neuer Roman ist zwar auf wahre Ereignissen vor 40 Jahren basiert, trotzdem ist die Story erschreckend brandaktuell. Es ist eine ganz besondere Geschichte, welche mich stellenweise wütend und sprachlos gemacht und zutiefst berührt hat.

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Veröffentlicht am 11.09.2021

Schein oder Sein

Kleine Paläste
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Ein beschauliche Kleinstadt und zwei völlig verschiedene Familien im direkten Nachbarschaft, deren Leben durch ein Ereignis vor 30 Jahren für immer miteinander geflochten sind.

Familie Holtz mit Sohn ...

Ein beschauliche Kleinstadt und zwei völlig verschiedene Familien im direkten Nachbarschaft, deren Leben durch ein Ereignis vor 30 Jahren für immer miteinander geflochten sind.

Familie Holtz mit Sohn Hanno und Familie Dreyer mit Tochter Susanne leben zwar nebeneinander, aber für eine enge Freundschaft waren Frau Dreyers Brüste zu perfekt und Herr Holtzs Geldbörse zu dick. Trotzdem wachsen Hanno und Susanne zusammen auf, gehen gleiche Schule, streifen stundenlang durch den Wald. Bis Sommer 1986 auf einem Geburtstagsfest alles auseinanderbrach. Die Familien nehmen sich ab da an voneinander noch mehr Abstand, Hanno zieht weg, Susanne bleibt. Nach 32 Jahre später kehrt Hanno zurück. Nicht dass er seine Eltern vermisst oder jahrelang wöchentlich gewechselte Bettwäsche auf seinem Jugendbett nach ihm gerufen hat, sondern seine Mutter Sylvia plötzlich und unerwartet stirbt, wobei sein Vater seit Jahren pflegebedürftig auf dem Rollstuhl sitzt. Hanno beerdigt seine Mutter, übernimmt die Pflege von seinem Vater und Susanne, die mittlerweile Vollwaise ist, beobachtet alles erstmals distanziert aus dem Fenster. Nach paar Tagen dennoch erkennt Susanne, dass Hanno mit der Versorgung seines Vaters völlig überfordert ist und bietet ihm ihre Hilfe an. Doch die Wiederbegegnung die übriggebliebenen Familienmitgliedern reißt die alten Wunden wieder auf. Was ist damals passiert?

Mit seinen klugen, poetischen und lakonischen Sprache hat mich der Hamburger Autor in einer Kleinstadt mitgenommen, um mich schon ab ersten Seiten auf seinen Bann zuziehen. Die geheimnisvolle Handlung entwickelt einen Sog, aus dem ich mich nicht entziehen konnte! Was mir aber an der Lektüre ganz besonders gefallen hat, ist: nicht nur Mosters meisterhafter Schreibstil, sondern seine haargenauer Beobachtungsgabe und präzise Erzählkunst. Eigentlich passiert hier nicht viel. Man reist zwischen 1986 und 2018 hin und her, beobachtet die Mauern wie die erst hoch wachsen, dann Stück für Stück bröseln begannen und um Ende auseinanderzufallen. Mal erzählt Hanno von damals und heute, mal berichtet Susanne und zwischen durch geistert Hannos Mutter. Ja, sie geistert und das ist die Besonderheit von diesem Buch. Genialer Aufbau, sehr gut gelungener Perspektivenwechsel, vielschichtige Charaktere, was will man mehr.

Neid, Trauma, Schuldgefühle, Sprachlosigkeit spielt in Andreas Mosters neuer Roman zwar große Rolle, doch zwischendurch hat er mir immer wieder ein Lächeln im Gesicht gezaubert. Ohne viel Tamtam, kaum Dialoge aber mit messerscharfen Beobachtungen hat er mich fast atemlos die ganze Story folgen lassen. Großartige Schreibkunst, außergewöhnliche Erzählstimmen, grandiose Geschichte, welche ich nur weiterempfehlen kann.

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Veröffentlicht am 03.09.2021

Großartig!

Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García
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100 Vulkanen Insel Lanzarote...140 Kilometer westlich der marokkanischen Küste und 1000 Kilometer vom spanischen Festland entfernt, lebt Pedro mit seiner Lebensgefährtin und seinem Sohn in dem Haus, wo ...

100 Vulkanen Insel Lanzarote...140 Kilometer westlich der marokkanischen Küste und 1000 Kilometer vom spanischen Festland entfernt, lebt Pedro mit seiner Lebensgefährtin und seinem Sohn in dem Haus, wo er selbst auf die Welt gekommen ist. Er hat nicht nur das Haus und dazu gehörende Möbeln von seinen Vorfahren geerbt, sondern auch den Postfiliale der Ortschaft Yaiza, der seiner Großvater gegründet hat. Pedro liebt sein Job und sein Dienst-Honda, doch als dritte Generation Postbote leidet er unter Digitalisierung. Die Postkarten verschwinden aus dem Hotellobbys, keine Handgeschriebene Briefe mehr, die er sie so schätzt. Außer ab und zu treffende Mahnungen und nervende Postwurfsendungen gibt es nicht viel, was Pedro zustellen muss. Er fährt zweimal die Woche andere Seite der Insel, trinkt gemütlich sein Café con leche, lagert literweise Benzin im Garten, denn er muss seine Fahrten nachweisen und dafür auch genügend tanken. Wo er viel Zeit hat, kümmert sich Pedro um seinem Sohn. Er bringt ihn zu Schule, holt wieder ab, macht Hausaufgaben und spielt mit ihm. Pedros Leben fließt ganz gemütlich, zufrieden dahin. Bis seine Freundin ihn verlässt, sein alten Kumpel mit seinem absurden Ideen ihn als Geschäftspartner gewinnen versucht, der uralte Tisch als Nazi-Schatz entpuppt und ein Geflüchtete aus Equatorial Guinea an seinem Tisch sitzt und Kaffee trinkt...

Hut ab Herr Rinke! Das nenne ich mal ein Filmreife Story. Hier haben nicht nur die Seiten vor meinen Augen geflogen, sondern all die Figuren und Ortschaften. Ich habe hinter Pedro auf sein Honda gesessen und durch die Lanzarote gefahren. Sei es Nudistenroute oder Nobelpreisroute, ist egal, immer war der Sonnenschein auf meinem Rücken, Meeresduft in meiner Nase und schwarze Strände vor meinen Augen. Café con leche ist sowieso mein Lieblingsgetränk, aber Amados Toubakaffee und paar Dosenbier, die ich mit Tenaro gestoßen hab, haben mir auch geschmeckt. Fußball war bis jetzt nicht meine Lieblingsbeschäftigung, aber wenn es um ein blauen Ball geht, hab ich gern gespielt. Ein meisterhafter Erzählstil der mir wunderbare Lesestunden geschenkt hat.
"Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García" Hinter diesem langen Titel verbirgt sich eine kurzweilige Geschichte mit äußerst sympathische, lebensnahe Charaktere, sehr atmosphärisches Setting und lebendige Sprache. Es geht um Digitalisierung, Rassismus, Flüchtlingspolitik, spanische Geschichte, Fußball, Globalisierung, Liebe, Vatergefühle... Es geht um Menschen, Mensch sein und Menschlichkeit! Großartige Geschichte die ich nur empfehlen kann.

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