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Veröffentlicht am 23.03.2022

Kindesmissbrauch mit Hilfe des Staates

Der dreizehnte Mann
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Die Dunkelziffer ist groß, wenn es um sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen geht. In Schätzungen ist von jedem fünften Mädchen und jedem 13. Jungen die Rede. Das erklärt auch den Titel des Justizkrimis ...

Die Dunkelziffer ist groß, wenn es um sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen geht. In Schätzungen ist von jedem fünften Mädchen und jedem 13. Jungen die Rede. Das erklärt auch den Titel des Justizkrimis "Der 13. Mann" von Florian Schwiecker und Michael Tsokos, in denen es um einen Überlebenden von Missbrauch geht. Fiktiv, aber sehr realistisch ist der Roman, der von einem tatsächlichen Skandal inspiriert wurde: Berliner Kinder aus schwierigen Verhältnissen wurden an pädophile Männe als Pflegeväter vermittelt. Dass es zu Übergriffen und Vergewaltigungen kommen würde, war eigentlich vorprogrammiert.

In "Der 13. Mann" trägt der Wissenschaftler, der hinter dem Programm stand, einen anderen Namen, doch es macht fassungslos, dass die Geschehnisse des Romans auf einem tatsächlichen Vorgang beruht. Im Buch geht Rechtsanwalt Rocco Eberhardt einem Vermisstenfall nach. Timo Krampe wollte mit seinem Pflegebruder und Freund Jörg die Geschichte ihres Missbrauchs als Pflegekinder aufdecken, doch Jörg ist verschwunden. Bei dem Rechstsmediziner Justus Jarmer landet wenig später eine Wasserleiche auf dem Obduktionstisch: es handelt sich um den vermissten Jörg.

Anwalt und Arzt, die bereits in der Vergangenheit in einem Fall zusammengearbeitet hatten, bündeln erneut ihre jeweiligen Kompetenzen, um den Tod Jörgs aufzuklären. Mit dabei: Eine Journalistin, die mit Jörg und Timo ein Interview geplant hatte und die Staatsanwältin Claudia Spatzierer, die zudem eine Ex-Freundin von Rocco-Eberhardt ist. Da fällt es nicht leicht, Privates und Berufliches zu trennen, zudem offenbar nicht alle alten Gefühle erloschen sind. Der Verdacht, den das Quartett schon bald hegt, ist ungeheuerlich: Womöglich gibt es in den Spitzen der Politik Interesse, die Wahrheit nicht ans Tageslicht kommen zu lassen - um jeden Preis. Akten verschwinden und Hilfe gibt es aus einer eher ungewöhnlichen Ecke.

Die Autoren sind selbst "vom Fach", als Anwalt und Rechtsmediziner. Das merkt man dem Buch an, denn die Beschreibungen staatsanwalticher Ermittlungen und des folgenden Gerichtsverfahrens sind realistisch - auch wenn das nicht so dramatisch ist wie in einem Hollywood-Film. Wer schon einmal in einem Strafprozess saß, weiß: Die deutsche Strafprozessordnung gibt den Beteiligten wenig Möglichkeiten für telegene Rededuelle (mal abgesehen davon, dass Fernsehkameras in einer laufenden Verhandlung ohnehin nicht erlaubt sind). Gerade diese Realitätsnähe überzeugt allerdings. Der Fall ist schlimm genug, da kann auf künstliche Spannungsdramturgie gut verzichtet werden,

Die Protagonisten, allen voran Rocco Eberhardt und Justus Jarmer, werden auch als Menschen und Persönlichkeiten nachvollziehbar und wirken sympathisch. Dieser Krimi ist eher ein Justizdrama der leisen Töne und lebt von den unterschiedlichen Charakteren. Obendrein sorgen die Autoren für Wendungen und Entwicklungen, die am Ende für einen Überraschungseffekt sorgen. Spannend, aktuell und lebensnah.

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Veröffentlicht am 22.03.2022

Suche nach Herkunft

Auf der Straße heißen wir anders
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Migration, Herkunft, Identität, der Schatten des Völkermords und eine Vater-Tochter-Geschichte: Laura Cwiertnia packt viel in ihren Roman "Auf der Straße heißen wir anders". Und im Gegensatz zu manchen ...

Migration, Herkunft, Identität, der Schatten des Völkermords und eine Vater-Tochter-Geschichte: Laura Cwiertnia packt viel in ihren Roman "Auf der Straße heißen wir anders". Und im Gegensatz zu manchen Romanen, die angesichts einer Vielzahl von Themen überfrachtet wirken, ist das hier sehr gelungen, ja mehr noch: trotz schwieriger und tragischer Themen schafft es die Autorin, einen leichten Ton zu bewahren, liebevoll, mitunter ironisch-distanziert, mit neugierigem und offenen Blick.

In der von migrantischer Einwohnerschaft geprägten Betonwüste von Bremen-Nord war Karlotta (Karl-Otto - deutscher gehts kaum) in ihrer Schulzeit eher eine Außenseiterin. Zu alman, zu deutsch, in Schulklassen, in denen die Mehrheit zu Hause türkisch oder arabisch, russisch oder polnisch spricht. Das Dissen von Minderheiten ist keine biodeutsche Spezialität. Und Karlotta, Tochter einer deutschen Mutter und eines türkischen Armeniers, spricht nach der frühen Trennung ihrer Eltern noch nicht einmal eine der Sprachen ihres Vaterrs und ist optisch zu dem ganz nach der Mutter geraten. Da hat es ihre deutsch-türkische Cousine deutlich leichter.

Der Tod der Großmutter Maryam bringt Karlotta dazu, sich mit den Wurzeln ihrer Familie zu befassen. Denn die Oma, die in den 70-er Jahren als Gastarbeiterin nach Deutschland kam, hinterlässt nicht nur allen Angehörigen ein Erbstück, sondern auch ein Goldarmband für eine Frau in Armenien, von der keiner je gehört hat. Karlotta will sich auf die Suche machen - zusammen mit ihrem Vater Avi, den die Kollegen von der Taxifirma nur als Ali kennen. Die beiden reisen zusammen nach Armenien, erkunden die Stadt, suchen ihre Wurzeln.

Aus wechselnden Perspektiven wird die Geschichte der Familie über die Generationen hinweg gezeichnet - die harte Kindheit Avis in Istanbul und die Jahre in einer Klosterschule in Jerusalem, die dem begabten Jungen einen Ausweg aus der Armut bieten könnte. Doch als Priester sah sich Lebenskünstler Avi einfach nicht.

Zuächst sind es nur subtile Andeutungen, die die latente Furcht der armenischen Minderheit in der Türkei beschreiben, das Verheimlichen der eigenen Identität. Je weiter in der Familiengeschichte die Erzählung zurückgeht, desto deutlicher wird der Völkermord an den Armeniern ein Thema und das damit verbundene Trauma, das über Generationen anhält. Für Karlotta, die auch als Kind nur wenige Worte armenisch gelernt hatte, ist es fremd, für ihren Vater hingegen weiterhin latent. Und je mehr Karlotta während der Reise mit dem Vater in die Sprache hineinfindet, desto mehr Zugang erhält sie auch zu ihrer verschütteten Familiengeschichte. Der generationsübrgreifende Road Trip endet mit einer Erkenntnis, die auch Karlottas Selbst-Verständnis berührt.

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Veröffentlicht am 19.03.2022

social media-Auwüchse

Die Kinder sind Könige
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Auf den ersten Blick ist Delphine de Vigans Roman "Die Kinder sind Könige" ein Kriminalroman. Schließlich ist ein Kind, ein kleines Mädchen, verschwunden - vermutlich entführt. Die Pariser Polizei ermittelt ...

Auf den ersten Blick ist Delphine de Vigans Roman "Die Kinder sind Könige" ein Kriminalroman. Schließlich ist ein Kind, ein kleines Mädchen, verschwunden - vermutlich entführt. Die Pariser Polizei ermittelt und insbesondere die Polizeibeamtin Clara befasst sich mit mutmaßlichen Hintergründen und untersucht die Familiensituation. Und dabei wandelt sich der in der Gegenwart spielende Roman sehr schnell zu einem Gesellschaftsporträt und de Jahrmarkt der Eitelkeiten im 21. Jahrhundert.

Denn Kimmy, das verschwundene Mädchen, ist ein social media Star, bereits im Vorschulalter wie ihr wenige Jahre älterer Bruder Influencerin. Beide Eltern haben ihren jeweiligen Beruf aufgegeben, um sich ganz der Karriere ihrer Kinder zu widmen. Mutter Melanie, die als schüchterner Teenager vergeblich vom Ruhm in Reality-Formaten träumte, ist über die Kanäle ihrer Kinder nun selbst zu einer Berühmtheit mit Fangemeinde geworden. Ihre Anhänger im virtuellen Raum sind für sie wichtiger als die meisten Menschen im realen Leben.

Für Clara, eine eher introvertierte Frau, die sehr auf ihrer Privatsphäre bedacht ist, ist es ein Blick in eine komplette Gegenwelt, die sie bestürzt. Über ihre Fragen und Untersuchungen bringt die Autorin auch die ethische und rechtliche Problematik des social media-Hypes um Kinderein: Werden Rechte von Kindern verletzt, wenn sie derart daueröffentlich sind? Handelt es sich um Kinderarbeit? Ziehen die Kinderkanäle auch Pädophile an - und hat womöglich ein solcher Täter Kimmy in seiner Gewalt? Ist es ein Konkurrent oder radikaler Kritiker der sozialen Medien? Ist es womöglich auch eine Form des Kindesmissbrauchs, die eigenen Kinder derart ins Rampenlicht zu stellen, und was macht der Dauerhype mit einem Kind?

Melanie ist die zeitgenössische Antwort auf Tennisväter und Ballettmütter, auf Eltern, die ihren Kindern den eigenen Lebenstraum aufdrücken. Welche Auswirkungen das haben kann, ist Teil des letzten Abschnitt des Buches, der zehn Jahre nach dem Verschwinden von Kimmy spielt. Präzise, genau beobachtend und empathisch beschreibt de Vigan zwei Frauen, die unterschiedlicher nicht sein könnten und zwei Kinder, die ebenfalls auf ganz unterschiedliche Art mit einem Leben umgehen, das sie nicht wählen konnten. Die Schattenseiten des frühen Ruhmsund der gefilterten Internetpersönlichkeiten werden glaubwürdig und einfühlsam dargestellt.

Es ist zu hoffen, dass dieses Buch viele Leser bekommt, ganz besonders auch viele junge Leser, die den kritischen Umgang mit sozialen Medien und Inluencertum (noch) nicht gelernt haben.

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Veröffentlicht am 23.02.2022

Im Land der Lügen

Die Jagd
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Der belarussische Autor Sasha Filipenko hat bereits in seinen vergangenen Romanen eindrücklich die Verbindung eines kritischen Blicks auf die Verhältnisse in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die Abrechnung ...

Der belarussische Autor Sasha Filipenko hat bereits in seinen vergangenen Romanen eindrücklich die Verbindung eines kritischen Blicks auf die Verhältnisse in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die Abrechnung mit den dortigen Missständen und eine gewisse literarische Verfremdung der gesellschaftlichen Realität gezeigt. Sein neues Buch, "Die Jagd" bildet da keine Ausnahme. Diesmal stellt er die abgehobene Welt machtnaher Oligarchen und ihrer Helfershelfer der kleinen Blase von Aufklärung bewegter Intellektueller gegenüber.

Eine Jagd findet hier auf gleich mehreren Ebenen statt: als Dystopie des Schriftstellers und Journalisten Anton, der sich mit seinen Recherchen mit den Reichen und Mächtigen anlegt, als Jagd nach Geld und Reichtum des ehemaligen Sportredakteurs Lew, der als Kind den Niedergang der Familie von Einfluss, Geld und Privilegien in bittere Armut miterlebte und nie wieder arm sein will, die Jagd des Oligarchen Wassili Slawin auf jeden, der seine Position bedroht, wie Anton zu spüren bekommt.

Lüge und Verrat in vielerlei Formen, Korruption und Anpassung, Ehrgeiz und Heuchelei, das alles verwebt zu einem Text, der gewissermaßen auf musikalischen Formaten in Form von Passagen, Zwischennoten und verschiedenen Tempi aufgeteilt ist. Das kommt nicht von ungefähr, da sich dem Leser ein Teil der Geschichte aus dem Gespräch Lews mit seinem jüngeren Bruder, einem mäßig erfolgreichen Cellisten, erschließt.

Nichr nur im Krieg, auch in der von Filipenko geschilderten russischen Gesellschaft ist die Wahrheit das erste Opfer. Um Anton zum Schweigen zu bringen, muss eine neue Realität geschaffen werden, eine, die ihn charakterlich unterminiert, ihm finstere Motive unterstellt, seinen Patriotismus anzweifelt. Ob Trolle im Internet oder Psychoterror aus der Nachbarwohnung - wenn eine Lüge nur oft genug wiederholt wird, gibt es genügend Menschen, die sie glauben.

"Wir leben im Land der Andeutungen. Die Dinge,die verschwiegen werden, sind hier die eindeutigsten und treffsichersten Hinweise."

heißt es an einer Stelle. Stiernackige Schläger, die mit Prügel und Scheinhinrichtungen drohen, sind gar nicht nötig, wären vielleicht auch überflüssig. Die Daumenschrauben, die Anton angelegt werden, sind subtiler.

"In Russland leben heißt, sich immer alles vorzustellen. In Russland leben heißt, fähig zu sein, die Augen zu verschließen. Die Angliederung von Halbinseln, die Erfindung von Feinden."

"Die Jagd" zeigt den Aufstieg der Skrupellosen zu unglaublicher Macht und den Niedergang der Anständigen gleichermaßen. Dabei zeigt Filipenko die enormen Kontraste der postsowjetischen Gesellschaft, in der viele in einem täglichen Überlebenskampf stecken, während einige wenige in einer Parallelwelt von Luxus und Lebenslügen leben. Einmal mehr klagt er Missbrauch von Macht und angeblichem Patriotismus an, zeigt die Schattenseiten des Lebens der Ohnmächtigen und steigert die Jagd zu einem dramatischen Crescendo. Diese Komposition überzeugt in Inhalt, Form und Ausführung.

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Veröffentlicht am 23.02.2022

High Noon in denAlpen

Tell
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Wilhelm Tell, als Freiheitsdrama Schillers zu Freiheitskampf und Tyrannenmord früher einmal Teil des bildungsbürgerlichen Pflichtunterrichts, sagt den meisten jüngeren Lesern unserer Zeit wohl eher wenig ...

Wilhelm Tell, als Freiheitsdrama Schillers zu Freiheitskampf und Tyrannenmord früher einmal Teil des bildungsbürgerlichen Pflichtunterrichts, sagt den meisten jüngeren Lesern unserer Zeit wohl eher wenig - und wenn, klingt die Sprache des Klassikers ein wenig angestaubt. Doch jetzt gibt es wieder einen Tell, kompakt, knackig, gewissermaßen die schnell geschnittene Videoclip Alternative zur mehrstündigen Bühnenfassung. Und mit Joachim B. Schmidt hat dieser nun bei Diogenes erschiene Tell nicht nur einen Svhweizer Verlag, sondern auch einen Schweizer Autor.

Erstmals habe ich Schmidt durch seinen formidablen Island-Roman "Kalman" kennengelernt. Wie der naive Robbenfänger Kalman ist auch sein Tell ein Außenseiter, ein Eigenbrötler, der auf seinem entlegenen Bergbauernhof nach seinen eigenen Regeln lebt. Und wie bei Kalman spielt die Natur, in diesem Fall die Alpen, eine beeindruckende (Neben-)Rolle mit eindrücklicher Beschreibung.

Als "Blockbuster in Buchform" bewirbt der Verlag das Buch, spricht von "Baveheart in Altdorf" und ähnlich wie in einem Film sind ständige Szenen- und Perspektivwechsel Teil der Erzähldramaturgie. Schmidt zeigt die Ereignisse aus der Sicht von Bauern und Soldaten, der Kinder Tells und des Dorfpfarrers, aus der Perspektive Tells und Vogt Gesslers.

Schmidts Tell ist kein klassischer Held voller Pathos, sondern ein Mann, dessen Leben von gleich mehreren Tragödien überschattet wird - manches davon enthüllt sich erst gegen Ende des Buches. Gessler ist nicht der tyrannische Schurke der klassischen Literatur, sondern ein eigentlich feinsinniger Familienmensch, ein Zauderer, der mit der Rolle des harten Mannes hadert. Um so schlimmer ist sein Handlanger, der Mann fürs Grobe, der mit seiner Soldateska die bäuerliche Bevölkerung schikaniert, der plündert und vergewaltigt.

Dieser Tell verdeutlicht auch - hier eine andere Entscheidung, dort eine andere Möglichkeit und die Geschichte hätte ganz anders verlaufen können. Heldenpathos ist diesem Tell fern, ohnehin macht Bergbauer Tell nicht viele Worte. Ähnlich wie schon bei "Kalman" richtet Schmidt die Aufmerksamkeit auf die "kleinen Leute", die übersehen, überhört, missachtet werden.

Mit 288 Seiten und 100 Erzählsequenzen ist sein Tell schlamk und schnell lesbar, nachdenklich und voll spröder Poesie. Am Ende ist es die Kraft der Schwachen, die sich durchsetzt und überdauert. Doch ja, der Braveheart-Vergleich ist gar nicht so schlecht. Aber erfreulicherweise ohne schwülstiges Hollywood-Pathos.

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