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Veröffentlicht am 22.03.2023

Von Liebe, Leid und Tod

Die schöne Müllerin
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Ein interessanter Ansatz, den Stefan Weiller für sein Hörbuch "Die schöne Müllerin" gewählt hat: Er kombiniert den Liederzyklus von Franz Schubert mit Texten, kurzen Geschichten über Liebende und Leidende, ...

Ein interessanter Ansatz, den Stefan Weiller für sein Hörbuch "Die schöne Müllerin" gewählt hat: Er kombiniert den Liederzyklus von Franz Schubert mit Texten, kurzen Geschichten über Liebende und Leidende, Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen oder Außenseiter sind. Der melancholische Ton der Musik der Romantik wird von Geschichten ohne Happy End oder große Hoffnung gespiegelt. Eine eigenwillige und gelungene Kombination, zu der auch die Sprecherinnen und Sprecher Birgitta Assheuer, Dagmar Manzel und Jens Harzer beitragen. Das könnte leicht in Sentimentalität oder Kitsch abgleiten - tut es aber nicht.

Mit nicht einmal zweistündiger Dauer ein ausgesprochen kurzes Hörbuch, das ich mir dennoch nur in kleinen Portionen - ein, zwei Geschichten am Stück - angehört habe. Dann ist es perfekt für die "blaue Stunde" ohne übermäßig depressiv zu wirken.

Wer ein Schubert-Konzert erwartet, ist hier fehl am Platz, auch wenn die unaufdringliche Klaviermusik die Texte einfühlsam begleitet und unterstreicht. Die Geschichten von Flucht, Selbstmordgedanken, Transphobie oder Obdachlosigkeit haben mit dem Liederzyklus der schönen Müllerin letztlich nur das Grundthema Liebe, Leid und Tod gemeinsam, stehen aber auch ganz wunderbar für sich.

Veröffentlicht am 12.03.2023

Wenn die Wut größer ist als die Angst

»Unser Schwert ist Liebe«
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Es gibt Länder, die erstarrt scheinen in einem menschenfeindlichen System, in dem die Angst vor der eisernen Faust der Staatsmacht größer zu sein scheint als der Wunsch, etwas zu ändern. Länder, in denen ...

Es gibt Länder, die erstarrt scheinen in einem menschenfeindlichen System, in dem die Angst vor der eisernen Faust der Staatsmacht größer zu sein scheint als der Wunsch, etwas zu ändern. Länder, in denen die Aufrechten und Mutigen sich sehr einsam und allein fühlen müssen. Der Iran gehörte zweifellos dazu. Seit einige Monaten gibt es aber auch erstaunliche Bilder Mutes, gerade sehr junger Menschen: Mädchen, die als Zeichen des Protestes ihre langen Haare abschneiden, auf der Straße das Kopftuch schwenken, wie zum Hohn gegen die Sittenpolizei und die Mullahs: Seht her, wir haben keine Angst mehr für euch..

Wie hoch der Preis für diesen Mut sein kann, beweisen die Todesurteile gegen Demontrantinnen, die Berichte über Verhaftungen. Dass iranische Sicherheitsbehörden foltern, m fragwürdige Geständnisse zu erzielen, ist schon lange bekannt. Mit ihrem Buch "Unser Schwert ist Liebe" hat Gilda Sahebi die feministische Revolte im Iran beschrieben.

Die Ärztin und Journalistin ist nah dran an ihrem Thema: Sie ist selbst im Iran geboren, kam aber bereits mit drei Jahren mit ihrer Familie nach Deutschland. Ihr letzter Besuch im Iran fand im Alter von 14 Jahren statt. Die Situation ihrer Angehörigen und die Lage im Iran kann sie nur aus der Entfernung verfolgen, über soziale Medien und Internet-Recherchen.

Sahebi ist nicht gleichgültig, wenn es um das Schicksal der Frauen im Iran geht, sie ergreift Partei. Das ist sowohl Stärke als auch Schwäche des Buches, denn sie kann sich darin nicht zwischen der Rolle der Aktivistin und der Journalistin entscheiden. Selbst einige der Kapitel in dem Buch sind Reden, die zuvor auf Demonstrationen gehalten wurden.

Für viele Leser
innen ist das Buch so vielleicht lesbarer, leidenschaftlicher, emotionaler. Als Dokument von Menschenrechtsverletzungen und Analyse der Protestbewegung im Iran verliert es allerdings an Glaubwürdigkeit, lässt mich fragen, wo die Recherche von der eigenen Gefühlslage ausgebremst worden sein mag.

Manche Wiederholungen im Text sind der Tatsache geschuldet, dass ältere Texte für das Buch recycelt wurden - sei´s drum. Besonders überzeugend ist das Buch dort, wo Sahebi und andere Exil-Iranerinnen ihren eigenen Blick aus der Ferne auf das Geschehen im Iran reflektieren, auf die Gleichgültigkeit, die sie in Deutschland oft erleben, wenn Gewalt und Menschenrechtsverletzungen der Mehrheitsgesellschaft sehr weit weg erscheinen.

Ich vermute, "Unser Schwert ist Liebe" wird vor allem von denjenigen gekauft, die sich für den Protest der Frauen im Iran, oder das Leben von Frauen in streng islamisch geprägten Gesellschaften interessieren. Von Jina Mahsa Amini, der jungen Kurdin, deren Tod - und die staatlichen Lügen über die Todesursache - die Proteste auslösten, haben diese Leser
innen wohl alle schon längst gehört, und auch der Ruf "Frau, Leben, Freiheit" ist ihnen nicht unbekannt. Beides mehrfach zu beschreiben, ist also eigentlich überflüssig.

Lieber hätte ich Antworten auf die Frage erhalten: Warum jetzt? Denn die Unzufriedenheit vor allem junger Menschen ist ja nicht neu. Selfies ohne Kopftuch gibt es seit Jahren. Es gab Protestbewegungen in der Vergangenheit, die aber nicht dieses Ausmaß erreichten. Was ist nun also anders?`Das Internet kann es nicht sein, das existiert ja schon seit geraumer Zeit, ebenso wie Vernetzung über soziale Medien. Hier hätte ich mir dann doch mehr journalistische Analyse und weniger aktivistische Betroffenheit gewünscht. Dennoch ein gut lesbares Buch, das auch den fast 500 bislang bekannten Todesopfern des Protests ein Denkmal setzt.

Veröffentlicht am 11.03.2023

Hilflose Helferin

Über den Fluss
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Gut gemeint ist noch lange nicht gut gemacht. Das muss auch die Ich-Erzählerin in Theresa Pleitners Debütroman "Über den Fluss" erkennen, eine junge Psychologin, die direkt im Anschluss an ihr Studium ...

Gut gemeint ist noch lange nicht gut gemacht. Das muss auch die Ich-Erzählerin in Theresa Pleitners Debütroman "Über den Fluss" erkennen, eine junge Psychologin, die direkt im Anschluss an ihr Studium ihre erste Beschäftigung in einer Unterkunft für Geflüchtete beginnt, mit großem Enthusiasmus.

Sie kommt mit Idealen - boshaft könnte man sagen, sie habe sich von Kindheit an auf eine Karriere als Gutmensch vorbereitet, spielte sie doch mit jenen, die irgendwie anders waren und auch im späteren Leben scheint sie Liebhaberinnen und Liebhaber nach dem Pronzip möglichst großer Diversität ausgesucht haben. Nun aber der Praxisschock - die erfahrene Kollegin erscheint ihr in abgestumpfter Routiniertheit erstarrt, zu wenig Widerstand entfaltend gegen die Strukturen, die Flüchtlinge letztlich vor allem verwalten.

Vor allem anfangs entsteht der Eindruck, die Erzählerin empfinde sich da als irgendwie besser, als eine, die Sand im Getriebe des Asylsystems sein will, die eher verächtlich den Hausmeister schildert, mit etwas mehr Sympathie die überwiegend migrantischen Sicherheitsleute.

Von "Gästen" wird im Lager gesprochen, das klingt netter. Doch auch hier gilt es Abschiebungen durchzusetzen. Ein Aufschub kann allerdings erreicht werden, wenn ein Gast als suizidgefährdet gilt. Im Fall von Herrn Rahim, einem jungen Syrer, engagiert sich die junge Psychologin besonders stark. Sie möchte helfen mit ihren Hinweisen, doch die Helferin muss ihre eigene Hilflosigkeit erkennen. Je weiter das Buch voranschreitet, desto klarer wird, dass es sich um eine Rechtfertigung handelt: Vor sich selbst, aber auch vor denen, die sie moralisch verurteilen könnten.

"Immer meinst du, dass du es besser weißt, willst die Gute sein, aber so funktioniert das nicht an einem Ort wie hier, an dem alle kurz vorm Durchdrehen sind", wirft ihr die Kollegin am Ende vor.

Die Autorin hat selbst als Psychologin in einer Flüchtlingsunterkunft geabeitet - und tatsächlich sind in diesem Buch die Passagen besonders gelungen, in denen das enge Aufeinanderleben von Menschen verschiedener Spracheu und Kulturen mit all ihren bereits vorhandenen Problemen auf engem Raum bechrieben wird. Aber auch die Bürokratie, die Menschen zu Fällen macht - ob sie nun Gäste genannt werden oder nicht - wird eindrücklich beleuchtet, wie auch das Dilemma, das das für jene mit sich bringt, die doch eigentlich nur helfen wollen.

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Veröffentlicht am 19.02.2023

Faszinierendes Frauenporträt

Das Porzellanzimmer
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Punjab im Jahr 1929 - in der britischen Kolonie Indien gärt es, die Unabhängigkeitsbewegung sucht nach Freiheitskämpfern, doch auch das Miteinander von Muslimen, Hindus und Sikhs ist nicht konfliktfrei. ...

Punjab im Jahr 1929 - in der britischen Kolonie Indien gärt es, die Unabhängigkeitsbewegung sucht nach Freiheitskämpfern, doch auch das Miteinander von Muslimen, Hindus und Sikhs ist nicht konfliktfrei. Vieles bleibt hingegen ganz traditionell, arrangierte Ehen etwa. Die junge Mehar wurde bereits im Alter von fünf Jahren verlobt, zehn Jahre später steht Hochzeit an. Wir würden heute von der Zwangsverheiratung eines Kindes sprechen.

In seinem Roman "Das Porzellanzimmer" verarbeitet der britische Schriftsteller Sunjeev Sahota, dessen Vorfahren aus dem Punjab stammen, ein Stück indischer Kolonialgeschichte, aber auch Erfahrungen des Aufwachsens als Kind der südasiatischen Minderheit in der weißen und oft feindseligen Mehrheitsgesemmschaft.

Wie wenig im Punjab des frühen 20. Jahrhunderts beim Thema Heirat irgendwelche Gefühle eine Rolle spielen, wird schon daraus ersichtlich, dass Mehars Schwiegermutter Mai alle ihre drei Söhne am gleichen Tag verheiratet - so lässt sich sparen. Und bis zuletzt bleibt Mehar und den anderen jungen Bräuten unklar, mit welchem der Brüder sie eigentlich verheiratet sind. Selbst am Tag der Hochzeit haben sie ihm, traditionell eng verschleiert, nicht ins Gesicht sehen können - und der eheliche Beischlaf wird wechselweise in einer Kammer des Hofs im Dunkeln vollzogen, meist wortlos und insbesondere für die jungen Ehefrauen auch freudlos.

Tagsüber müssen die jungen Frauen kochen, waschen oder auf dem Feld arbeiten, die Nächte verbingen sie gemeinsam im sogenannten Porzellanzimmer, wenn sie nicht an der Reihe für Pflicht-Sex mit dem Ehemann sind - es gilt schließlich, mit einem Sohn schwanger zu werden.

So ist es möglicherweise kein Wunder, dass Mehar einem Irrtum unterliegt, als sie in einem der drei Brüder ihren Ehemann zu erkennen glaubt und sich in ihn verliebt.

Eine Beziehung mit Folgen, die ihr Urenkel, der Ich-Erzähler eines zweiten, in der Gegenwart angesiedelten Erzählstrangs, nach und nach entdeckt. Der junge, in Großbritannien geborene und aufgewachsene Mann erlebt im Land seiner Vorfahren einen Kulturclash. Hier sieht es zwar aus wie die Menschen vor Ort, gilt ihnen aber als Engländer. Als seine eigenen Eltern in ein weißes Viertel zogen, in dem sie ihren Laden führten, wurden sie wiederum rassistisch angefeindet. Der junge Mann kommt nicht aus romantischen Gründen nach Indien, sondern hofft hier den Entzug aus seiner Heroinabhängigkeit zu schaffen, freundet sich mit einer Ärztin und einem Lehrer an und geht der Geschichte seiner Familie auf den Grund.

Während der kalte Entzug durchaus eindrücklich geschildert wird, wirkt dieser Teil des Buches etwas aus dem Zusammenhang gerissen und wäre meiner Meinung nach besser als Thema eines eigenen Romans geeignet gewesen. Die Geschichte von Mehar, die so vielen Zwängen ausgesetzt ist und trotzdem eine starke, eigenständige Persönlichkeit, reicht eigentlich völlig aus und hat mich voll überzeugt. Als Sittenbild einer Vergangenheit, die mancherorts noch Wirklichkeit für Frauen und Mädchen ist, hat mich das "Porzellanzimmer" beeindruckt. Das Buch ist so intensiv geschrieben, dass die Farben und Gerüche des kleinen Dorfs im Punjab beim Lesen erfahrbar werden.

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Veröffentlicht am 18.02.2023

Tod eines Skirennläufers

Eisjagd
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Hier wird viel gefroren: "Eisjagd" von Madita Winter spielt im nordschwedischen Jokkmokk am Polarkreis, sozuasagen zwischen Rentieren und sehr viel Eis und Schnee. Den Ort mit dem irgendwie lustigen Namen ...

Hier wird viel gefroren: "Eisjagd" von Madita Winter spielt im nordschwedischen Jokkmokk am Polarkreis, sozuasagen zwischen Rentieren und sehr viel Eis und Schnee. Den Ort mit dem irgendwie lustigen Namen gibt es tatsächlich und hier wohnt auch das Autorienehepaar Madita und Stefan Winter, das sich hinter dem Teil-Pseudonym verbirgt.

Polizistin Amelie hat sich eigentlich auf eine entspannte Woche Urlaub mit ihrem Freund Daniel gefreut. Nur das 200 Kilometer Langlaufrennen, das in Jokkmokk ausgetragen wird muss noch von der einzig am Ort verbliebenen Polizistin bewältigt werden. Und klar: Es muss natürlich etwas passieren. In der Gruppe der ehrgeizigen Amateure kämpt der örtliche Geschäftsmann Stig um den Sieg und hat sich wie ein Profi darauf vorbereitet. Doch er ist derjenige,der plötzlich tot im Schnee liegt. Hat ihn der Skistock seines Vordermanns im Auge erwischt und eine tödliche Verletzung zugefügt? Schnell stellt sich heraus: Es war Mord, doch sowohl die Mordwaffe wie auch das Motiv bleiben zunächst im Dunkeln.

Denn Stig lebte äußerst zurückgezogen, galt aber gleichzeitig als ausgesprochen großzügig, berichten etwa das thailändische Hauspersonal und das norwegische Trainerteam. Auch die deutsche Freundin des Toten wirkt am Boden zerstört.

Während Amelie und der junge Polizist Sigge aus Lulea, der eigentlich nur während des Skirennens aushelfen mussten, über dem Fall rätseln, hilft der eigentlich schon pensionierte Arne bei einem anderen Fall aus: Irgendjemand schießt auf die Rentiere der örtlichen Sami, lässt die Tiere dann elend verenden. Es könnte um Neuregelungen bei der Vergabe von Jagdlizenzen gehen, die nun in den Händen der Indigenen liegen.

So ist "Eisjagd" nicht nur eine Beschreibung des arktischen Winters, sondern auch des nicht immer konfliktfreien Zusammenlebens zwischen Sami und Schweden, zwischen Modernismus und traditioneller Lebensweise. Dass die Gier auf die Rohstoffvorkommen am Polarpreis längst die Naturidylle bedroht, wird dabei ebenfalls thematisiert. Den Beschreibungen der arktischen Winterlandschaft, der Fahrten mit dem Schneeskooter und der Erfahrung von Schnee und Kälte ist anzumerken, wie sehr die Autoren von ihrer Wahlheimat fasziniert sind.

Amelie und ihre Kollegen, unterstützt von Daniel und seiner Schwester Liv, die ein Computer und Hackergenie ist, müssen nicht nur ein ganzen Knäuel von Hinweisen entwirren, sondern auch der Chefin in Lulea Kontra geben, die den Fall schnellstmöglich abschließen will und das kleine Plizeibüro in Jokkmokk am liebsten wegrationalisieren würde.

Die Lösung des Falls ist spannend und der Plot mit etlichen Haken versehen, die immer wieder für neue Wendungen sorgen, wenn die Ermittler schon glauben, jetzt aber auf der richtigen Fährte zu sein. Für Skandinavien- und Winterfans bietet die Eisjagd viel Spannung und Atmosphäre.

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