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Veröffentlicht am 11.07.2020

Aktueller denn je - Baldwins Abrechnung mit Rassismus

Nach der Flut das Feuer
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Der Brief James Baldwins an seinen 14-jährigen Neffen klingt, als sei er im Jahr 2020 oder 2014 geschrieben, nicht im Jahr 1963, vor mehr als einem halben Jahrhundert: "Ich weiß, wie düster es heute für ...

Der Brief James Baldwins an seinen 14-jährigen Neffen klingt, als sei er im Jahr 2020 oder 2014 geschrieben, nicht im Jahr 1963, vor mehr als einem halben Jahrhundert: "Ich weiß, wie düster es heute für dich aussieht", heißt es darin. "Du wurdest geboren, wo du geboren wurdest, mit Zukunftsaussichten, die deine Aussichten waren, weil du schwarz bist - aus keinem anderen Grund. Deinem Streben sollten für alle Zeit Grenzen gesetzt werden. Du bist in eine Gesellschaft hineingeboren, die Dir mit brutaler Offenheit und auf vielfältigste Weise zu verstehen gibt, dass Du ein wertloser Mensch bist."

Nein, in dem Essayband "Nach der Flut das Feuer" versucht der afroamerikanische Schriftsteller nicht, den Jugendlichen James klein zu halten. Seine Worte sind mit Liebe geschrieben, wie er betont, nicht mit Geringschätzung. Doch die Hautfarbe des Jungen definiert Chancen und Möglichkeiten, wie schon bei den Generationen vor ihm. Ein wenig erinnert das an "the talk", das Gespräch, das schwarze afrikanische Eltern in den USA besonders mit ihren Söhnen führen, wenn sie der Kindheit entwachsen, wenn ihre Hautfarbe im Fall einer Polizeikontrolle oder einfach nur ihre Anwesenheit zur falschen Zeit am falschen Ort tödliche Konsequenzen haben kann - wie bei all jenen afroamerikanischen Männern, deren Namen in den vergangenen Jahren durch die Welt gingen, so wie zuletzt George Floyd.

Manches, vieles, hat sich geändert in dem halben Jahrhundert, seit Baldwin seinen Essayband schrieb. Die Bürgerrechtsbewegung erkämpfte wichtige Erfolge. Die Segregationsgesetze gibt es nicht mehr. Die USA hatten ihren ersten schwarzen Präsidenten. Harlem, für Baldwin noch der Ort, der von Zuhältern und Prostitution, von Kriminalität und Drogen geprägt war, ist für viele Afroamerikaner heute ein Ort schwarzer Kultur, ein Ort des Stolzes auf die eigene Identität. Doch Trayvon Martin, Michael Brown oder George Floyd stehen für die immer wieder dokumentierte Tatsache, dass Afroamerikaner häufiger als Hispanics oder Weiße von der Polizei erschossen, dass sie bei Straftaten härter verurteilt werden und häufiger von der Polizei kontrolliert werden.

Racial profiling, das ist nicht nur in den USA ein Thema, ebenso wenig struktureller Rassismus. Und er muss sich nicht gegen schwarze Menschen richten, sondern kann genauso andere Minderheiten betreffen. Gerade deshalb ist es gut und wichtig, dass Baldwins Text aus den 60-er Jahren nun eine Neuauflage erlebt hat. Die Fragen, die Baldwin damals aufwarf, haben Gültigkeit. Was machen Rassismus-Erfahrungen mit einem Menschen. gerade mit einem jungen? Wie umgehen mit denen, die ignorieren oder verdrängen, dass einem Teil der eigenen Bevölkerung Chancen und Zukunft verweigert werden? Wie aber auch umgehen mit denen aus der anderen Gruppe, die mit Hass und Militanz reagieren, die umgekehrt von "weißen Teufeln" reden wie die Black Muslims, die Baldwin in den 60-er Jahren kennenlernte?

Der schmale Essayband enthält Einsichten, die Gültigkeit behalten und zum Nachdenken anregen.

Veröffentlicht am 25.06.2020

Was vom Leben übrig bleibt

Kostbare Tage
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Dad Lewis weiß. es ist sein letzter Sommer in der Kleinstadt Holt, irgendwo im Mittleren Westen der USA, wo der Blick über Getreidefelder weit reicht. Kent Haroufs "Kostbare Tage" fängt mit dem Tag an, ...

Dad Lewis weiß. es ist sein letzter Sommer in der Kleinstadt Holt, irgendwo im Mittleren Westen der USA, wo der Blick über Getreidefelder weit reicht. Kent Haroufs "Kostbare Tage" fängt mit dem Tag an, an dem der Arzt Lewis sagt, dass er nichts mehr für ihn tun kann, dass er seine Angelegenheiten regeln muss und ihm nur noch wenige Wochen zu leben hat. Den Herbst wird er nicht mehr erleben.

Manche Menschen haben eine bucket list der Dinge, die sie in ihrem Leben sehen wollen, der Orte, die sie besuchen wollen. Dad Lewis, der die Kleinstadt nie verlassen hat, hat nichts dergleichen. Er hatte ein kleines, unspektakuläres Leben, mit dem er im großen und ganzen zufrieden war: Die Eisenwarenhandlung, die er aufgebaut hat und die er auch mit über 70 weiter geleitet hat, bis er eben zu krank dafür war. Zwei Kinder - Tochter Lorraine kommt nun nach Holt zurück, um die Familie zu unterstützen. Zu Frank, dem Sohn, gibt es seit Jahren keinen Kontakt. Dass sein Sohn schwul ist, hat Dad Lewis nie verwunden. Während die Zeit verrinnt und sich sein Zustand immer weiter verschlechtert, kommt Lewis ins Nachdenken über diesen Bruch, unter dem vor allem seine Frau Mary leidet, die zwischen den beiden Männern zu vermitteln versuchte und sich nach wie vor nach Frank sehnt.

Dad Lewis weiß, er hat sich um ein anständiges Leben bemüht, auch wenn er nicht alles richtig machte. Mary allerdings ist der große Treffer in seinem Leben. Wenn Harouf dieses alte Ehepaar beschreibt, dass nach einem halben Jahrhundert zärtlich-liebevoll miteinander umgeht, das auch in der Krise erst einmal an den anderen und seine Bedürfnisse und Nöte denkt - das ist eine ebenso wunderschöne wie unspektakuläre Liebesgeschichte.

Die Erzählweise Haroufs entspricht der weiten Landschaft und dem gemächlichen Tempo der Kleinstadt, in der alles etwas langsamer zu gehen scheint - selbst wenn einem wie Dad Lewis die Lebenszeit zwischen den Fingern verrinnt. Ruhig, ohne zu hadern, verbringt die Familie die verbleibende Zeit. Nachbarn kommen zur Unterstützung, die Gemeindeschwester bringt schmerzstillende Medikamente. Dad Lewis hat das Glück, zu Hause sterben zu können, ohne Intensivmedizin im Krankenhaus, ohne strapazierende Therapien, die das Ende nur herauszögern können. Es ist etwas Tröstliches und Ruhiges in dieser Art, langsam aus dem Leben zu schwinden.

"Kostbare Tage" enthält Wehmut, aber keine Resignation. Es ist ein Buch vom Abschiednehmen und Loslassen, von Dankbarkeit für das, was war und starken Frauenfiguren, die nach den Maßstäben der aufgeregten Internetgesellschaft zwar unscheinbar und unspektakuläre sein mögen, die als alte und alternde Frauen übersehen und unsichtbar gemacht werden, die aber ohne große Worte und ohne Aufsehen Courage, Solidarität und Tatkraft zeigen.

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Veröffentlicht am 24.06.2020

Schwedens größter Kriminalfall

Die Taten der Toten
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So aktuell können Krimis sein: Gerade mal zwei Woche vor Erscheinen des Buchs „Die Taten der Toten“ präsentierte die schwedische Polizei den Abschluss der Ermittlungen im Mordfall Olof Palme. Um den gewaltsamen ...

So aktuell können Krimis sein: Gerade mal zwei Woche vor Erscheinen des Buchs „Die Taten der Toten“ präsentierte die schwedische Polizei den Abschluss der Ermittlungen im Mordfall Olof Palme. Um den gewaltsamen Tod des schwedischen Ministerpräsidenten geht es auch in dem Buch des deutsch-schwedischen Autorenduos Roman Voosen und Kerstin Signe Danielsson.

Mehr als eine Ermittlergeneration dürfte sich im „echten Leben“ an dem größten Kriminalfall der schwedischen Geschichte abgearbeitet haben. Denn Palme, der nach einem Kinobesuch am 28. Februar 1986 in der Stockholmer Innenstadt erschossen wurde, polarisierte seine Landsleute und hatte auch international Gegner.

Die Hinweise, Gerüchte und Spuren im Fall Palme beschäftigen auch die beiden ungleichen Kommissarinnen Stina Forss und Ingrid Nyström und ihr kleines, entschlossenes Team: Gab es eine rechtsextreme Verschwörung, etwa mit Verwicklungen von Palme-Gegnern in den Reihen der Polizei? Spielte der südafrikanische Apartheid-Staat eine Rolle, für dessen internationale Ächtung sich Palme engagierte? Und was war mit jenem Zeugen, der sich bei den Ermittlungen so in den Vordergrund spielte, dass er schließlich verdächtig wurde? Die echten Ermittler in Schweden, so viel sei verraten, glauben, dass dieser mittlerweile verstorbene Mann der Täter war.

Für die junge deutsch-schwedische Kommissarin Forss und ihre erfahrene Kollegin Nyström geht es um viel und um Persönliches: Auf Forss wurden mehrere Anschläge verübt, bei einem kam Nyströms Schwiegertochter ums Leben, offenbar Opfer einer Verwechslung mit Forss. In der Hütte ihres verstorbenen Vaters, eines ehemaligen Militärs, hat Forss einen Revolver und einen Orden gefunden, den es eigentlich gar nicht geben dürfte. Ist es die Tatwaffe?

Die Nachforschungen bleiben lebensgefährlich, auch als Forss ihren Selbstmord vortäuscht. Nyström wiederum stößt bei ihren offiziellen Ermittlungen zu den Anschlägen auf Widerstände. Die sonst so korrekte Ermittlerin beschließt ihre eigene heimliche Operation. Die Arbeit an diesem Fall bringt sie an psychische Grenzen und fordert ihr bisheriges Selbstverständnis als Polizistin heraus.

„Die Taten der Toten“ ist rasant und spannend, auch wenn die Autoren der Versuchung erliegen, aus der lädierten Forss eine derart toughe Superfrau zu machen, dass die Figur über weite Strecken nicht mehr glaubwürdig-realistisch wirkt. Weitaus mehr wie aus dem wirklichen Leben gegriffen sind die Nebenfiguren, gerade die anderen Ermittler im Team mit ihren menschlichen Macken und Eigenarten.

Wie es sich für einen guten Schwedenkrimi gehört, herrscht nicht nur Spannung, das Lesen lädt auch zum Nachdenken ein, ob zu Gewalt gegen Frauen, Rechtsextremismus bei der Polizei oder Seilschaften, die der Wahrheitsfindung schaden. Ein furioses Finale bringt die Kommissarinnen in Grenzsituationen – und die Lösung des Falls ist nach all den aufwändigen Spurensuchen überraschend.

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Veröffentlicht am 22.06.2020

Achtsamer Umgang mit mörderischem inneren Kind

Das Kind in mir will achtsam morden
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Auf dem Weg zu (Selbst-) Erkenntnis und Achtsamkeit ist Rechtsanwalt Björn Diemel zweifellos schon deutlich vorangeschritten seit Kasten Dusses Roman „Achtsam morden“: Er hat sich von einer Arbeit getrennt, ...

Auf dem Weg zu (Selbst-) Erkenntnis und Achtsamkeit ist Rechtsanwalt Björn Diemel zweifellos schon deutlich vorangeschritten seit Kasten Dusses Roman „Achtsam morden“: Er hat sich von einer Arbeit getrennt, die ihn nur unglücklich machte, hat mit der räumlichen Trennung von seiner Noch-Ehefrau auch private Konflikte entschärft und kann sich darauf konzentrieren, ein Super-Papa für Töchterchen Emily zu sein. Na gut, zwei Mafia-Clans muss er auch noch führen, ebenso einen Kindergarten. Und dann wäre da noch der Mafiosi im Keller. Immerhin: Im Gegensatz zu früheren Zeiten keine Leiche. Björn will nicht mehr töten. So achtsam ist er immerhin.

Doch ach, es kann der Beste nicht im Frieden leben, wenn es dem verwundeten inneren Kind nicht gefällt. Das kleine, schrille Stimmchen im Ohr, das unbeabsichtigt zum jähen Ableben eines unsympatischen Kellners auf einer Almhütte führt. Doch die Störgeräusche in Björns Unterbewusstsein hören nicht auf.

Kein Zweifel, er muss mal wieder zu seinem persönlichen Guru, Achtsamkeitscoach Joschka Breitner. Und wieder gewinnt er eine Erkenntnis: Sein gegenwärtiges Leiden reflektiert das Leiden seines inneren Kindes. Die ganzheitliche Selbstoptimierung muss auf das innere Kind ausgedehnt werden. Wenn das innere Kind wieder Vertrauen gefasst hat und ausgeglichen ist, kann auch Björns Leben wieder in ruhigeren Bahnen verlaufen. Doch bis dahin ist es ein langer Weg. Denn das innere Kind möchte lustvoll Gewalt zelebrieren, wo Björn dem Morden abgeschworen hat.

Immerhin, die Suche nach den Schuldigen dauert nicht lange: Es waren Björns verständnislose Eltern, die ihn beziehungsweise das innere Kind von verkorkst haben. Niemals soll Emily diese Erfahrung machen müssen! Autor Karsten Dusse setzt die inneren Dialoge des Anwalts mit seinem kindlichen Selbst in dem Hörbuch „Das Kind in mir will achtsam morden“ höchstpersönlich in Szene und muss sich dabei hinter Profi-Sprechern keineswegs verstecken. So sanft reflektierend, so einsichtig und sensibel lässt er die Hörer*innen an Björns Gedankenwelt teilhaben, dass man bei dem Mann glatt ein Achtsamkeitsseminar buchen möchte.

Dabei steht Anwalt Björn unter Stress, ganz gewaltigem Stress sogar. Ausgerechnet in der Woche, in der er das Vertrauen seines inneren Kindes gewinnen soll, wird er erpresst. Ein Unbekannter fordert den Kopf von Boris, den Mafioso im Keller – wortwörtlich. Die Elternvertreter des Kindergartens wollen den Keller besichtigen, um die Planungen für den ersten klimaneutralen Kindergarten voranzutreiben. Und als Björn für eine Elternvertreterin Gefühle entwickelt, reagiert Noch-Ehefrau Katharina eifersüchtig: Sie will Björn zwar offenbar nicht zurück haben, aber andere sollen ihn auch nicht kriegen.

Nach einem Erfolg noch einmal einen zweiten dranzuhängen, ist bekanntlich nicht leicht. Doch mit „Das Kind in mir will achtsam morden“ schafft Karsten Dusse das souverän. Überdreht und unterhaltsam, mit einer ordentlichen Prise schwarzen Humors, aber auch allerlei Achtsamkeits-Einsichten ist dieses Hörbuch ein Angriff auf die Lachmuskeln. In stressigen Zeiten wärmstens zu empfehlen.

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Veröffentlicht am 14.06.2020

Das Schweigen brechen

Nein
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Mutig, schmerzhaft und teilweise quälend ist «Nein». Die Erzählung einer Frau, deren Leben sich nach einer Vergewaltigung dramatisch ändert - und des Täters, der immer noch glaubt, sie habe es doch nicht ...

Mutig, schmerzhaft und teilweise quälend ist «Nein». Die Erzählung einer Frau, deren Leben sich nach einer Vergewaltigung dramatisch ändert - und des Täters, der immer noch glaubt, sie habe es doch nicht anders gewollt.

Mit «Nein» hat die amerikanische Schriftstellerin und Filmproduzentin Winnie M. Li einen wichtigen Beitrag zur «#MeToo»-Debatte um sexuelle Gewalt geleistet. Mit ihrem Roman über Vivian, eine Amerikanerin mit chinesischen Wurzeln, die in einem Park von Belfast von einem 15-Jährigen brutal vergewaltigt wird, dürfte sie auch ein persönliches Trauma aufgearbeitet haben. Denn auch Li wurde wie ihr literarisches Alter Ego in Belfast vergewaltigt, auch in ihrem Fall war der Täter ein 15-Jähriger aus der irischen Traveller Community.
Schon wenige Wochen nach der eigenen Vergewaltigung sei der Gedanke zu dem Buch entstanden, schreibt Li in dem Nachwort. Damit entschloss sie sich zu Offenheit, wo viele Opfer einer Vergewaltigung häufig schweigen, manchmal für Jahre oder gar Jahrzehnte - als ob das Schweigen die Tat irgendwann einmal aus der Erinnerung drängen könnte.
Li erspart sich und dem Leser nichts - die Angst, die Panik, die Erniedrigung, Schmerz und Brutalität, blanken Überlebensinstinkt und das tiefe Loch, in das Vivian, ein aktive, reiselustige und aufgeschlossene Frau, nach der Vergewaltigung fällt. Plötzlich ist sie nur noch ein Schatten ihrer selbst, verkriecht sich in ihrem Schlafzimmer, leidet unter Übelkeit und Panikattacken. Und trotzdem nimmt sie es auf sich, im Prozess gegen ihren Vergewaltiger auszusagen, im Gerichtssaal ihm in die Augen zu sehen und ihm zu zeigen: Bei allen Tränen - sie hat überlebt.
Das Besondere an «Nein»: Li schreibt aus zwei Perspektiven, aus der Sicht Vivians und aus der Sicht des Täters, Johnny. Der Jugendliche, der Frauen bevorzugt als «Schlampen» tituliert und bis zuletzt betont, Vivian habe freiwillig mit ihm Sex gehabt. Die 39 Verletzungen, die bei der medizinischen Untersuchung dokumentiert wurden, seien eben darauf zurück zu führen, dass sie es «hart» wollte.
Mit einem prügelnden Vater und einem kriminellen älteren Bruder in einem Wohnwagen lebend, ist Johnny klar einer der Verlierer der Gesellschaft, hat ein hartes Leben. Die Reaktionen der Nachbarn auf dem Wohnwagenplatz machen aber deutlich: Nichts rechtfertigt sein Verbrechen. Auch Li betont, sie wolle keinerseits zur Pauschalisierung der Traveller beitragen.
Wie lange hat die Tat gedauert? Vielleicht eine halbe Stunde, schätzt Vivian in ihrer Aussage vor Gericht. Doch das war eine halbe Stunde, die ihr Leben radikal veränderte und noch Jahre nachwirkt. Der Prozess, allen voran die Vernehmung durch den Verteidiger Johnnys, reißt die vorsichtig verheilenden Wunden wieder auf. «Müssen wir Frauen wirklich all diese Erniedrigungen über uns ergehen lassen, damit uns Gerechtigkeit widerfährt?» fragt Vivian sich.
An einer anderen Stelle heißt es: «Wie oft muss sie dieses Spießrutenlaufen noch über sich ergehen lassen? Um Gerechtigkeit zu erfahren, wird sie sich öffentlich so lange entblößen müssen, bis nichts mehr von ihr übrig ist.»
Das Urteil kann nur eine gewisse Erleichterung verschaffen: Der Täter kann vorerst weder Vivian, noch anderen Frauen gefährlich werden. Dass er Einsicht zeigt, sich zu seiner Verantwortung bekennt und tatsächlich ändern kann - das scheint fraglich. Vivian wiederum fällt es trotz des Urteils schwer, daran zu glauben, dass ihr Leben irgendwann einmal wieder so sein wird wie früher.
Vielleicht war das Schreiben des Buches ein Ventil für Li. Ganz bestimmt ist es ein wichtiger Beitrag für Frauen, die nach einer Vergewaltigung selber den Weg zum Weiterleben suchen, aber auch für ihre Freundinnen, Schwestern, Mütter, die sich fragen, wie sie am besten Unterstützung leisten können. Zu wünschen wäre, dass dieses Buch aber auch den Weg zu Männern findet die das «Nein» einer Frau bisher nicht ernst nehmen wollten.

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